zum Weltautismustag 2021

Gerade setzen wir „Sprechen und Schweigen über sexualisierte Gewalt, Ein Plädoyer für Kollektivität und Selbstbestimmung“ von Lillian Schwerdtner (Link zur Verlagsseite). Es ist ein Buch, in dem mit vielen Fußnoten beschrieben wird, wer wann wie wo mit welcher Wirkung und warum über sexualisierte Gewalt spricht oder schweigt.
Während ich von Absatz zu Absatz scrolle, klicke, setze, verwebt sich in mir die letzte Therapiestunde – in der über erfahrene sexualisierte Gewalt gesprochen wurde – mit mir. Ich erfahre von den Gedanken eines Kindes, von einem Moment, in dem Bewusstsein über Unbewusstsein für alles außerhalb des eigenen Funktionierens auf dringenden Hilfebedarf von außerhalb trifft. Begreife, dass wir vielleicht nicht auf den Punkt des Innens gekommen wären, wüssten wir nicht vom Autismus und nicht, was „unser Autismus“ ist.

„Vielmehr wird Sprechen über sexualisierte Gewalt regelmäßig für Zwecke instrumentalisiert, die mit den Intentionen und Bedürfnissen der Sprechenden nicht übereinstimmen oder diesen sogar entgegenlaufen. Die Offenbarung von Erfahrungen sexualisierter Gewalt wird in solchen Fällen etwa zur Reproduktion und Rechtfertigung sexistischer, rassistischer oder klassistischer Vorurteile missbraucht“, fliegt aus dem Buch an mir vorbei und berührt einen Punkt, an dem ich zum Weltautismustag morgen kaue.

Seit wir hier darüber schreiben, werden wir öfter angeschrieben von Vielen, die sich „autistisch fühlen“ oder als Erklärung für „nicht traumabedingtes Verhalten“ Autismus heranziehen und sich fragen, wo man als erwachsene Person zu einer Diagnose Diagnostik kommen könnte. Wir antworten immer was wir können und wissen, urteilen nicht, wollen helfen und schaffen das wohl manchmal auch.
Aber.
Die Vorurteile bemerken wir auch. Die Annahmen, was Autismus sei und woran man ihn erkenne. Die Idee, Autismus sei eine Traumafolgestörung, eine von den ganz krassen ultra deepen für immer bestehenden Verletzungen, die man nicht sieht, aber eindeutig angetan wurden. Voll logisch bei Opfern. Die ja, ebenfalls voll logisch, auf jeden Fall für immer und ewig davon gezeichnet sind, was ihnen passiert ist und nur durch unfassbare Stärke/ein Wunder/ganz exzellente Traumatherapeut_innen Traumatherapie so etwas wie unauffällige Alltagsfunktionalität hinkriegen.
auch die ableistischen Vorurteile über Autismus und autistische Menschen bemerken wir. Das Konglomerat aus dem sich das Bild des zarten, weißen, cis, hetero und ergo zutiefst unschuldigen autistischen Mädchens ergibt, welches eigentlich super klug/konzentriert/über_natürlich ist und alles hätte sein und schaffen können, müsste es nicht immer schaukeln, weil es Zentrum der Gewalterfahrung war und durch die Unwillkürlichkeit der global überfordernden, schrecklichen, gewissermaßen retraumatisierenden Erinnerungen, praktisch immer wieder zum Opfer wird.

Wir stellen uns nicht so dar, schreiben nicht so, weder über „unseren Autismus“ noch über unsere Gewalterfahrungen bzw. unser Er_Leben mit deren Folgen, sodass wir uns nicht als Ursache für diese Vorurteile sehen müssen. Wohl aber werden unsere Erzählungen benutzt, um im Weltbild anderer Menschen Sinn zu erzeugen, den sie für sich annehmen und in ihre Selbstsicht integrieren können. Was nicht mit Absicht passieren wird und erst recht nicht mit dem Bewusstsein dafür, was das mit uns persönlich und dem, was wir hier erreichen wollen, macht, aber – as always – geht es bei getaner Gewalt nicht um Absichten, sondern um Verantwortungsübernahme und Veränderung, um (wieder) gut zu machen.

In meinem Text zum Weltautismustag wollte ich meine Unzufriedenheit über die Besonderisierung autistischer Menschen, die mehrfach marginalisiert sind, zum Ausdruck bringen und formulieren, wie frustrierend es ist, dass ebenjene Mehrfachmarginalisierung als Begründung für diese ausschließende Zuordnung herangezogen wird. Nun denke ich, dass ich mir das auch schenken kann, weil der Raum, in den wir hineinerzählen, einer ist, der unsere Erzählung einfach nicht aufnehmen, begreifen, ver-ich-lichen will, sondern einer, der uns als Quelle fremder Einflüsse wahr.nimmt und benutzt. Auch schon tausend Mal aufgeschrieben.

Schon die Einordnung in „Betroffene“ und „alle anderen“ ist ein Problem. – Auch eine schöne Fußnote in dem Buch übrigens: „If it takes a village to raise a child, it takes a village to abuse one.“ [1] – Ich weiß nicht, wie oft, wie lange, mit welcher Performance, zu welchen Punkten in der Geschichte noch erzählt werden muss, dass es so etwas wie „Unbetroffenheit“ nicht gibt, wenn Menschen anderen Menschen Gewalt antun. Wir sind nicht alle eins, aber die Welt ist ein Dorf und außer den Tod gibt es keinen realen Ausschluss.
Realer, wirklicher Ausschluss würde es ermöglichen, ganz eigene Strukturen zu entwickeln. Wir könnten sie einfach haben die Nachwachshäuser, die Dörfer voller Autis, Depressiver oder Zwängler_innen und könnten drauf kacken, was die Normalen machen. So läuft es ja aber nicht. Und zwar, weil es diesen Ausschluss braucht. Er wird gebraucht um normal, funktional, fähig zu definieren.

Scheiße ist das.
Und Realität.

Eine, in der ich mich frage, ob, wenn ich hier veröffentliche, was ich über „unseren Autismus“ lerne und verstehe, dies als Vorlage missbraucht wird, um sich nicht aufrichtig mit sich selber und den Gründen dafür zu befassen, weil es nach wie vor die Denke gibt, ausgeschlossene Menschen könnten nicht selber ausschließen, Verletzte nicht selbst verletzen, als „richtig echte Opfer“ eingeordnete Menschen, nicht selbst der Grund dafür sein, dass es „nicht echte Opfer“ gibt.
Dafür muss ich keine Verantwortung übernehmen und das wird auch nie der Grund sein, hier nicht mehr zu veröffentlichen – aber: Es braucht alles das hier nicht, um zu wissen, dass es das gibt. Ich brauche das hier für mich und mache es für alle zugänglich, weil ich damit nicht allein sein möchte. Das ist das eigentliche Dilemma und das, was mich einfach sehr schmerzt: Der Versuch, der Wunsch, das zutiefst menschliche Bedürfnis, sich mit einer Gesellschaft zu verbinden, von der nicht zu erwarten ist, dass sie sich gemeinsam mit mir macht, weil sie sonst anerkennen müsste, was sie Menschen wie mir warum antut und sehr viel ändern müsste.

 

[1] Brachmann, Jens (2019): Täter, Tätersysteme, Ermöglichungsbedingungen sexualisierter Gewalt. In: Jens Brachmann (Hg.): Tatort Odenwaldschule. Das Tätersystem und die diskursive Praxis der Aufarbeitung von Vorkommnissen sexualisierter Gewalt. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt, S. 27–311.

4 Tage tot

Die Tage in der Krisenstation sind als “5 Tage, in denen ich tot war” gespeichert.
Dabei waren wir insgesamt nur 4 Tage und ein paar Stunden da.

Mir ist das vorhin eingefallen, nachdem ich damit fertig war mich über ein E-Book zu ärgern, dass eine vollumfängliche Weisheit über “multiple Persönlichkeiten” für 4,99€ zu erzählen vermögen will.
Und die Benutzerbewertung, die eine Filmreferenz zu “Fight Club” anbringt. Und überhaupt.
Orr brech die Wurz aus ey.

Es ist ein Phänomen. Die Autist_innen müssen erzählen, dass sie nicht “Rainman” sind und Menschen mit DIS haben Angst vor der Konfrontation mit Filmen wie “Sibyl” oder Büchern wie “Die Leben des Billy Milligan”

Daneben die Frage, wieso das popkulturelle Halb(Viertel) (homöopathische Dosen)wissen es in die Menschenmassen schafft, die Realität hingegen oft nicht einmal kurz in jene paar Köpfe hineinkommt, die direkt mit den konkret betroffenen Personen zu tun haben.
Bevor wir wirklich nicht mehr konnten, hatten wir einen Anlauf zur Aufnahme in der Klinik unternommen und haben uns umentschieden, nachdem die speziell grundlegend falschen und nie etwas Gutes verheißenden Worte “ah – gespaltene Persönlichkeit!” im Erstgespräch fielen.

Es ist das Eine, wenn eine Assistenzärztin von komplexen Traumafolgestörungen* nicht so wirklich Ahnung hat – es ist das Andere, wenn da keine direkte Intervention passieren kann. Unsere Begleitung hatte auf unsere Begründung der Ablehnung “Die wissen hier nicht, was viele sein ist” geantwortet, dass wir das ja auch nicht erwarten könnten.
Glück für die Person, dass unser Körper da schon auf Beruhigungsmitteln war, was auch verhinderte, dass mir die Hand in ihr Gesicht wandert.
Einfach, weil das die falschestmögliche Ansage ist, wenn jemand in so einem massiv auch gefährdendem Setting, falsch bewortet wird.

Wir haben aus Gründen der Gewalterfahrungen in Klinikkontexten und einfach wegen des rosenblattschen Sprachknalls halt eine spezielle Empfindlichkeit für falsche Wortwahl – okay – aber: es ist IMMER IMMER IMMER von Ärzt_innen zu erwarten, dass sie eine_n mit der richtigen Diagnose beworten und entsprechend behandeln.
DAS IST ERWARTBAR.
Das ist so erwartbar, dass es kranke Leute dazu bringt zu Ärzten zu gehen und nicht zum nächsten Späti oder Blumenladen. Muss man sich mal vorstellen, was los wäre, wär es allgemein erwartbarer, dass Müllmänner besser Gliedmaßen eingipsen können, als Mediziner_innen.

Genau das ist aber im übertragenen Sinne das, was uns da jemand sagte und uns damit in genau die Überforderungsgefühle zurück triggerte, die letztlich unsere suizidale Krise mit ausgelöst hatten und zu einem gewissen Teil auch schon seit der Diagnosestellung in unserem Leben sind.

Mit einer DIS zu leben bedeutet so oft, mit etwas zu leben, dass niemand, der es kennen sollte, auch wirklich kennt.
Die behandelnden Mediziner_innen, die psychotherapeutisch Behandelnden, die pädagogisch Begleitenden. Die Notfallmediziner_innen, die einen von der Straße kratzen. Die Seelsorgenden. Die Lehrenden.
Die, mit denen man Bett und Wohnung, Nahrung und Leben teilt. Die mit denen man Themen und Leidenschaften teilt. Die, mit denen man Zeitrahmen in den Lauf der Dinge hängt.

Es bedeutet so oft doppelt und dreifach keine Erwartungen an das Umfeld und seine Menschen zu haben.
Weil Umfeld und Menschen noch nie wahrgenommen haben, was passierte, als man ein Baby, ein Kleinkind, ein Kindergarten- und Schulkind war. Als man die Pubertät durchschritt, erwachsen wurde.
Weil Umfeld und Menschen wie ein tumbe Masse in einem Paralleluniversum an einem vorbeigleiten. Und zwar nicht nur dann, wenn man tatsächlich depersonalisiert (also auf eine spezifische Art dissoziiert), sondern, weil es das Phänomen der sozialen Dissoziation gibt.
Und dann am Ende, wenn man mehr Klarheit über sich hat, weil andere Personen einem sagen, dass man auch keine Erwartungen dieses Umfeld zu richten hat.

Weil dieses Umfeld nicht dich anhört, um etwas über DIS zu hören, sondern special professionelle Glitzerleute, die weder kacken gehen noch mit Wasser kochen. Die sollens dann richten. Weil man ja weiß wie häufig so spezifisches Fachwissen ist und wie allgemein massenwirksam Einzelpersonen immer sein können.

Okay okay – ich höre jetzt auf mit dem Zynismus und gehe in die Realität zurück.
Fakt ist, dass wir bisher in jeder Notfallambulanz, die uns die Haut zugenäht hat, mit den Schlampignosen [rosenblattisch für “schlampige Arschlochdiagnose”] “Borderline” oder “histrionische Persönlichkeitsstörung” oder “akute Depression”  auf dem Entlassungsbericht nach Hause gingen. Auch nachdem wir mitgeteilt hatten, entsprechend welcher Diagnose wir in Behandlung sind. Das Ausmaß der Ignoranz mit allen potenziellen Gefahren ist wohl auch ohne einen weiteren Kommentar von mir illustriert.

Und an der Stelle kommt der Ausbruch von mir, auf den Hannah schon gewartet hat.
Dieser unsägliche Dialog zwischen der Stationsärztin und unserer Therapeutin.
Ich zitiere uns selbst: Die Ärztin in der Krisenstation hatte ihr gesagt, es würde sie erstaunen, wie jemand, der so schwer krank ist bzw. so schwerwiegende Symptome hat, noch nie bei ihr auf der Station war. Und die Therapeutin hatte ihr geantwortet: “Frau Rosenblatt ist eben eine starke Frau.”.

Es ist so schade, dass unserer Therapeutin spontan nur das eingefallen ist und nicht so etwas wie: “Nun ja, bei dem derzeit allgemein leider eher zu erwartendem Behandlungsstandart in deutschen Krankenhäusern muss heutzutage noch immer jede Person mit einer komplexen Traumafolgestörung, wie Frau* Rosenblatt sie hat, leider leider so extrem weit runter mit Nerven und Kraft sein, dass der letzte Funken Selbsterhaltungstrieb nur noch die Einweisung auf Stationen, wie die, in der Sie arbeiten ist.” – an der Stelle hätte sie von mir aus auch drama-solidarisch aufseufzen können um zu vermitteln: “Aber was will man machen”, damit die Ärztin noch eine Option hat sich weniger angegriffen zu fühlen. Mangel und chronischen Notstand kennen sie ja nun einmal doch alle.

Aber nein – was ihr einfiel war der “sie ist so stark (sie hat so viel überlebt)”- Trope, den wir so schlicht nicht mehr auszuhalten gewillt sind, wann und wie auch immer der an uns herangetragen wird.
Nein, wir nicht stark, weil wir so viel ausgehalten und überlebt haben. Wir sind nicht stark. Wir sind nicht hart gesotten. Wir sind nicht mega krass überlebensfähig.
“Aushalten”, “überleben”, “hart gesotten sein”, mega krass “überlebensfähig zu sein” – das wurde  und wird von uns so oft verlangt, dass wir viele geworden sind und auf bestimmten Ebenen sogar bleiben müssen!

Wir vermeiden medizinische Hilfen, weil sie uns Erinnerungen an Gewalterfahrungen triggern. Sei es mit Untersuchungsmethoden oder mit dem klar spürbaren Machtgefälle.
Wir gehen nicht zu Mediziner_innen, weil wir selbst als Patient_in so oft nicht so schwach, verletzt oder verletzbar sein dürfen, wie man es sein dürfen sollte. Wir gehen nicht zu Mediziner_innen, weil viele nicht wissen, welche spezifischen Erkrankungen auch Folgen wiederholter Misshandlung in der Kindheit sein können. Wir haben gelernt uns selbst klaffende Wunden zu tapen und zu nähen, weil selbst das besser auszuhalten ist, als semiinteressierte Pseudoberuhigungsgespräche darüber wie viel besser sich die dauernd wiederholende Kackscheiße in unserem Leben vielleicht eventuell mal entwickeln wird.

Wir haben nicht die Kraft dafür erschrockenen Leuten das Märchen von dem Mädchen zu erzählen, dass sich in die Freiheit gekämpft hat, nur damit sie was Schönes zum dran glauben haben, wenn sie der nächsten Frau ein “durch Treppensturz” blau geschlagenes Auge kühlen.

Merkt man das heute noch? Wie mies es eigentlich ist von “starken Persönlichkeiten, die sich rausgekämpft haben” zu sprechen, weil man damit automatisch und immer nach den “nicht starken, die durch Täter_innenhand gestorben sind” tritt?
Merkt das heute noch irgendwer außer denen, die darunter leiden, weil sie Angst haben, was passiert, wenn sie nicht mehr stark sein und/oder wirken können?

Irgendwie habe ich diese 4 Tage und paar Stunden genau des halb unter “ich war tot” gespeichert.
Weil ich nicht mehr war. Weil ich nicht mehr konnte. Nicht mehr denken. Nicht mehr aushalten. Nicht einmal mehr wütend sein, weil man dort keine Ahnung vom viele sein hatte und uns entsprechend behandelt hat. Weil das, was neben all dem, was unser Rosenblätterleben so anstrengend und unübersichtlich macht und hält – die Armut, die Abhängigkeiten, die immer wieder doch noch auftauchenden dissoziativen Amnesien, die Einsamkeit, das unkontrollierte Erinnern, das Leiden, das Trauern, das permanente Bedürfnis etwas zu sagen und doch nur reden zu können und das Wissen, dass es kein eigenständiges Unterbrechen von all dem gibt, außer sich zu töten – einfach nicht mehr zu er.tragen war.
Für 4 Tage und ein paar Stunden hab ich etwas fallen gelassen, was ich als “die starke kämpferische K.”, die immer wieder gern rangeholt wird, wenn es darum geht, das Leben dieses Einsmenschen zu retten und immer wieder durchzuhalten, festgehalten hab, seit mir die Therapeutin, die wir mit 16 hatten erklärte, was eine DIS ist und wie wichtig mein Festhalten ist.

Das ist ein beliebter Ansatz in der Therapie. Man macht die “starken Anteile” aus und macht ihnen klar wie wichtig sie sind. Wenn die Klient_innen dann auch noch eine tatsächliche Alltagsaufgabe für diese Anteile finden und etablieren können (Lohnarbeit, Familienleben, diverse soziale Interaktionsbereiche) kann sich eine stabile starke Ebene sowohl im Innern der Person als auch im Außen entwickeln.
Passiert über Jahre im Außen nichts und lastet aller Druck immer wieder nur auf einzelnen dieser Anteile, ist die Dekompensation abzusehen.

Das ist, was an den aktuellen und auch weniger aktuellen Büchern zur Traumatherapie (bei einer DIS bzw. allgemein dissoziativen Störungen) meiner Ansicht nach zu Recht kritisiert wird. Das Paradebeispiel ist allzuoft als cisweiblich, weiß, ca. 45 Jahre alt, im Berufsleben und Teil einer selbstgegründeten Familie beschrieben – ergo näher dran an der Möglichkeit eine solche stabile Ebene für sich zu realisieren. Privilegien, Baby!
Nicht non-binäry, of colour, Anfang 20 oder Mitte 70, alleinstehend und in Abhängigkeiten wie Hartz 4 oder (Früh-)Rente – ergo weit(er) davon entfernt sich so eine Ebene zu erschaffen. Diskriminierung, Baby!

Die auch für die Behandler_innen deprimierenden Beispiele werden im kleinsten Kreis diskutiert – wenn überhaupt.
Die psychotherapeutischen Behandlungen, die irgendwann mehr oder weniger erhaltungstherapeutischen Charakter haben, schaffen es nicht in die Literatur, die ermutigen und die Notwendigkeit von guter Traumatherapie für alle, die (komplex) traumatisiert wurden, überzeugen will.

Dafür gibt es sicherlich auch Gründe, die außerhalb meines Sichtfeldes liegen, aber für mich als Person mit DIS, die ihre Diagnose seit inzwischen 13 Jahren hat ist es, als würde mir eine Facette der Realität meiner Behandlungsprognose vorenthalten.
Ich habe schon ein Interesse daran zu erfahren, welche Faktoren ich selbst vielleicht noch mehr anstreben müsste, um meinen Behandlungsverlauf positiv zu beeinflussen, außerhalb dessen, was ich eben genau nicht beeinflussen kann.

Was ich wahrnehme ist, dass es immer mehr Behandler_innen gibt, die sich für die Gewaltformen hinter der DIS interessieren. Viele Menschen haben die Warum-Fragen in sich. Wollen die Mechanik der Gewalt verstehen und denken, um das zu können muss man einen Fokus auf die Täter_innen legen. Ihre Intensionen, ihre Ideen, ihre Sozialisierung.
Wieder reicht das, was die Personen, die zu Opfern wurden, sagen nicht aus. Wieder wird an der Stelle davon ausgegangen, zu Opfer gewordene Menschen, seien nicht in der Lage “richtig” einzuschätzen, was zu ihrem Leiden geführt hat.
Sicherlich muss man kritisch sein. Sicherlich gibt es auch genügend gewaltkulturelle, wie gewalterfahrungsbegründete Einflüsse, welche die Perspektiven der betroffenen Menschen verschiebt.
Und natürlich ist “Die Täter_innen waren einfach miese Arschlöcher”, was für manche ehemalige Opfer ein total hilfreiches Schlußfazit ist, alles andere, als eine umfassende Betrachtung von Gewalt-Dynamiken. Aber solche Ansagen sind Teil dieser Dynamiken und somit in jedem Fall auch relevant.

Es scheint einen Trend dahin zu geben, sich über die Gewalt auszutauschen und dafür konkret Betroffene zu suchen, die sich willig als “Aussteiger_innen” bezeichnen und ihre Folgeschäden mehr oder weniger präsentieren lassen, um dann die “Ich war so stark – ich hab mir nix mehr gefallen lassen und mich befreit!”- Legende zu erzählen.

Sozialpolitische Bemühungen, Vereinsarbeiten, quasi-wissenschaftliche Arbeiten von konkret betroffenen Personen geraten dabei aus dem Fokus.
Es ist, als würde man mit jeder Veranstaltung zu ritueller Gewalt, organisierter Gewalt – jedem Aufklären wollen über das, was eine DIS zur Folge haben kann, bei dem auch ehemalige Opfer sprechen dürfen, eine neue, aktuellere Version von einem Film gedreht, vor dem man sich als Mensch mit DIS später fürchtet.

Beziehungsweise, vor dem ich mich fürchte.
Das Blog von Vielen ist entstanden, weil ein Mitmensch nicht verstanden hat, dass wir nicht “so eine wie die in Höllenleben” sind. Der Kontakt ging später auch genau daran kaputt: ich wurde von der Person zum Gradmesser eines Wahrheitsgehaltes von Filmen und Büchern gemacht und nicht als ich neben vielen anderen ichs in einem Menschen gesehen.
Die Person hat unsere innere Struktur zu einer chaotischen Kopf-WG gemacht, darauf gewartet, dass wir in nie offiziell gelernten Fremdsprachen sprechen und heimlich irgendwie sowas wie Kung-Fu-Meister sein könnten. Unsere Kleidung wurde bedeutet, unsere unterschiedlichen Haltungen und Interaktionsmuster wurden exotisiert und alles, was wir uns erarbeitet oder sonst wie hart angeeignet haben, wurde auf unsere Vielheit oder Stärke oder Überlebenswillen zurückgeführt.

Wir hatten damals noch keine Ahnung, dass man mal schauen könnte, ob Menschen mit DIS bloggen oder aktivistisch unterwegs sind. Außer Foren, in denen man einander erzählte wie krass schlecht es einem grad geht und sich zu keinem anderen Thema zu äußern traut, hatten wir nur noch eine Selbsthilfegruppe, die sich selbst eher zum ausgelagerten Ressourcenflauschcliquending entwickelt hat.

Für uns war es lange normal keinerlei Erwartungen an eine Kenntnis von realer DIS an Menschen zu richten. Bis wir gemerkt haben, wieviel gefährlicher Bullshit dadurch Raum bekommt und wie sehr dadurch Deutungshoheiten von sowohl sogenannten, als auch wirklich professionell und sorgfältig arbeitenden Behandler_innen verfestigt wird, anstatt hier und da kritisch hinterfragt zu werden.

Wie dieses unsägliche Buch mit 18 Seiten, das auch von Betroffenen beworben wurde, anstatt eine Linkliste von anderen Betroffenen anzulegen, anstatt sich zu vernetzen, anstatt auf Beratungsangebote, Fachliteratur, eigene Texte und Innenansichten zu linken.
Es gibt Seiten zu DIS im Netz, die mir wirklich Bauchschmerzen und Kopfzerbrechen bereiten, weil sie so oft Gewalt reproduzieren, ihre Stimmen abgeben und durch massenhaft zitierte Bücherweisheiten ersetzen und keinerlei erwachsenes, reflektiertes, fundiertes Profil erahnen lassen.

Daneben gibt es diese Vermeidungstänze der Pseudodebatte um die Echtheit von DIS, die Echtheit der geschilderten Gewalt und die Wahrhaftigkeit des Grauens an sich.
Nichts davon macht, dass man als in welcher Form auch immer vom Thema berührte Person, wirklich mehr Hilfen bekommt. Oder mehr Kenntnis in der Allgemeinheit über DIS und komplexe Traumafolgen allgemein entsteht.
Was es macht sind dichotome Stereotypen, wie sie unsere Gesellschaft hegt und pflegt, um sich zu unterhalten und abzugrenzen, statt sich zu widmen und zu engagieren.

Es macht, dass man sich als konkret Betroffene von dort fernhält, wo man Hilfe bekommen könnte.
Es macht, dass man 4 Tage tot ist und sich dann auf eine Art neu für sein Leben entscheiden muss, wie es andere Menschen nicht tun müssen.

Es macht ein Schweigen, das neben der Sprachlosigkeit, die die Gewalt mit sich bringt, überhaupt nicht auffällt.
Und das ist das Problem.