Heim, Klapse, Knast

Wir haben einen interessanten Menschen kennengelernt.
Als er uns zum ersten Mal bei uns besuchte, freuten wir uns sehr, weil wir damals gerade wieder eine dieser stummen Kurzphasen hatten. Wir hatten bereits wieder 4 Tage kein Wort gesagt

„Seltsam,“ dachte ich, „dass mir diese Sprachlosigkeit erst unangenehm auffällt, wo ich die direkte Möglichkeit zu sprechen habe.“
Im Laufe der folgenden Stunden sollte sich das Sprechen sogar richtig auswachsen. In ein Reden, Kommunizieren… in ein Aussagen.
Es wurde mein erstes richtiges Gespräch über die Psychiatrie und meine Zeit darinnen seit 2005.

Nicht in die Tasten gedonnert oder durch die Feder meines Füllers gedrückt. Sondern richtig gesprochen und gehört, während ich selbst hörte.
Hörend- da spricht jemand von Kasernierung- wo ich immer von Internierung gesprochen hatte.
Hörend- da kann jemand meinen Gedanken zur Verstärkung einer Essstörung durch Esspläne und Strafsysteme drum rum, ohne Wenn und Aber unterstreichen und ergänzen.
Spürend- da ist soviel Unausgesprochenes, das vermutlich noch nicht einmal vor sich selbst aussprechbar ist- genau wie für mich.

Dass ich nicht allein bin mit meiner Psychiatriekritik, weiß ich schon eine ganze Weile.
Dass ich nicht die Einzige bin die Dinge twittert wie: „Liebe Ethik, könntest du mal im Gesundheitssystem vorbei kommen und mit deiner Anwesenheit glänzen? Du fehlst. Liebe Grüße, die Patienten.“ ist auch klar.
Aber wache, produktiv- reflektierte Bitterkeit habe ich lange nicht mehr gesehen.

Bitterkeit begegnet mir oft. Resignation. Ohnmacht. Wut. Natürlich. Gerade bei anderen Psychiatrieüberlebenden und deren Verbündeten.
Doch Wachheit nicht. Bewusstsein. Ungetrübte Wahrnehmung. Die Möglichkeit ein zwei Gedanken mehr als: „Ist halt ein Scheißsystem das da abgeht“ zu haben.

Ich treffe auch oft auf Alternativforderungen.
Und bin dann doch wieder mit Absonderungsideen konfrontiert. Sei es, dass man sich komplett von dem bestehenden Wissen und allen Erfahrungen der Psychiatrie als medizinischer (und sozio-kultureller) Zweig abwendet, oder doch wieder klassifiziert in „behandelbar“ und „unbehandelbar“.

Im ICD- Rosenblatt gibt es keine Krankheiten.
Da gibt es den chronischen Flauschmangel, die überbordenden (und belastenden) Ideen und die kreativ gewachsenen Gehirne und Körper. Also nichts, was in irgendeiner Form Absonderung und Dressur erforderlich macht, sondern Zuwendung, Austausch, Abklärung und Neukonstruktion der Lebensumgebung.

Also irgendwie: ein Zuhause mit offenen Ansprechpartnern.

Und da ist der Haken. Wir haben noch kein gesellschaftliches Klima in dem solche Räume Usus sind. Wenn es uns schlecht geht, sind wir privilegiert, wenn wir Verbündete haben. Eine Familie, die uns bedingungslos um- und versorgen will/kann/ darf, wenn wir auf Unterstützung, Nähe, Wärme, Zeit und Raum angewiesen sind.

Die Blüten die meine oben erwähnten „Krankheiten“ treiben, haben sowohl ihre Wurzeln in der Abwesenheit von Selbigem oder verursachen keine feste Anbindung an solche sozialen Kontakte.

Wer irre ist, ist einsam. Abhängig und doch haltlos.
Es ist, als sei man falsch gepolt- im wahrsten Sinne des Wortes. Man ist ein Plus-Pol in einer Masse von Plus-Polen und nicht in der Lage von sich aus zu einem anziehenden Minus zu werden. Das ist die „Krankheit“. Das fehlen der Kraft aus sich heraus andere Pole an sich anzuziehen.

Die Lösung dieses Problems war einen einheitlichen Minuspol zu gestalten, der bedingungslos anzieht. Und anzieht und anzieht und anzieht. Alles was auch nur einen Hauch Plus in sich trägt (oder vorgibt), wird unter Umständen angezogen und festgehalten.
Was Plus ist und was Minus, ist immer wieder im Wandel.
Doch immer immer immer wird „das Andere“- das was in einer Masse, als „anders“, „unpassend“, „unangepasst“, „unvereinbar“ bezeichnet wird,  abgestoßen. Es passiert keine Integration des „Anderen“ in seiner Mitte, sondern eine Absonderung, um die eigene Konformität, seine Normen und Werte zu zementieren.

Wir haben gestern Abend über Bethel gesprochen.
Bethel ist ein Stadtteil von Bielefeld, der bekannt ist für seine Epilepsieforschung, seine Hilfseinrichtungen für Menschen mit Behinderungen, für seine sozialpsychiatrischen Betreuungs- und Behandlungsangebote.
Ich hatte mich ein bisschen in meiner Kritik verrannt und es als abgeschlossenes Ghetto für alle die arm, alt, krank, hilflos bzw. hilfsbedürftig, behindert und schwach gelten, bezeichnet. Das stimmt auch. Bethel schaltet und waltet nach Kirchenrecht. Alles was dort passiert, bleibt dort. Die Bedürftigen haben nicht Kraft zu streiken und Mitarbeiter haben kein Streikrecht.
Aber es ist auch ein Beispiel für die Art Integration „des Anderen“ die heute passiert.

Die Menschen, die diese Menschen versorgen und behandeln sind ein Minuspol und sind einzig durch ihre Fähigkeit ohne Hilfe eine Selbstversorgung zu schaffen (und entsprechend in der Lage auch von dort wegzugehen) überlegen. Sie brauchen ihre „Patienten“/ Klienten, weil sie ihren Arbeitsplatz stellen und gehen so in eine Symbiose.
Das ist der Grund, weshalb es so einfach ist, in den Bereichen, der Pflege und Medizin von Wirtschaftlichkeit zu sprechen. Die Hilfsbedürftigkeit der Menschen wird zum Werkzeug, um dessen Nachschub man sich keine Sorgen machen muss. Man beutet also im Grunde die „Irren“, die Kranken, die Schwachen, die Armen und jene, die sich nicht selbst versorgen können aus, ohne dass ein Widerstand von irgendeiner Seite kommt.

„Wieso denn auch- ist doch gut, wenn sich einer um „die da“ kümmert. Die müssen ja nun mal irgendwo hin.“

Nein! Müssen sie nicht! Sie müssen versorgt werden bzw. Hilfe bei der Selbstversorgung (im Falle von Gefängnissen, Hilfe die Gründe für ihre Straffälligkeit zu verstehen und „draußen“ verändern/ verhindern/ regulieren/ abschaffen zu können) haben- mehr nicht.
Es sind nicht sie, die sich hergeben müssen oder die sich anpassen müssen, obwohl sie genau das noch nicht- oder auch nie können.
Das was jemand lernen muss um massekonform zu leben, lernt er nicht in einer Masse, die „anders“ ist, wie er selbst. Und so, wie der Kapitalismus auf diese Symbiose einwirkt, reicht der Einfluss der „Minusse“ (in Form der HelferInnen, PflegerInnen, TherapeutInnen, ÄrztInnen) nicht aus. So ergibt sich ein gewisser Masseerhalt „der Anderen“ und das Rad dreht sich weiter wie bisher. Kapitalismus funktioniert nur mit der Billigung von Ausbeutung.

Was wäre, wenn wir die Bedürftigen unter uns hätten? Wenn wir unsere Kraft aufwendeten und selbst zum Minus würden?
Wir müssten neu lernen. Neue Werte und Normen konstruieren, vielleicht auf Konformität verzichten.
Ja, vielleicht stünde dann öfter mal jemand auf der Straße und brüllt uns an.
Ja, vielleicht hätten wir viel mehr Kontakt mit Körperflüssigkeiten, als uns lieb ist.
Ja, vielleicht würden wir sogar Käfige für unsichtbare Tiger bauen.
Aber was ist denn daran so schlimm? Wer hat denn einen Schaden davon?
Was davon bleibt für immer? Einer der brüllt, ist irgendwann auch fertig. Einer der sabbert, kann lernen sich auch selbst den Mund abzuwischen oder kann einfach auch immer trocken gewischt werden- das machen wir doch bei Babys auch.
Wen stört ein Käfig in der Wohnzimmerecke oder in der Innenstadt? Wir stellen doch auch hässliche Kunstgerüste in die Landschaft.

Es ist ein hinderndes „Kosten-Nutzen-Rechnen“ und die eigene Unwilligkeit, die uns hier im Weg steht und über viele hundert Jahre in Form von Heimbauten und der Institution Psychiatrie bedient wurde.
Wir müssten uns umstellen für eine Gruppe von Menschen, die uns nichts geben kann, womit wir unsere Familie ernähren können.
Streng biologisch betrachtet, also Ballast sind, dessen man sich zum Wohle des eigenen Fortbestands entledigen muss. Würden wir noch in Höhlen leben, wären diese Einrichtungen also etwas, das zum Wohle aller beiträgt. Doch nie war es so einfach seinen Fortbestand zu sichern und zu nähren, wie heute.

Heute sind wir einfach nur unwillig neu zu konstruieren und zu integrieren. Als sei dies etwas, das unseren Fortbestand und unsere Lebensqualität in den Grundfesten unsicher macht. Dabei ist das Einzige was berechtigt Gefühle von Unsicherheit oder auch richtiger Angst hervorrufen könnte, die vor dem uns Unbekanntem.

Wir sollten also alle anfangen uns einander bekannt zu machen. Ohne Stereotype, ohne Wertung, ohne die eigene Lebensrealität im Anderen zu erwarten oder zu suchen.
Doch das gelingt aus freiwilligem Bemühen einzelner Menschen nicht. So lange es Abschiebeinstitutionen gibt, wird abgeschoben.
Heim, Klapse, Knast- übrigens alles Einrichtungen, die von Menschenrechtlern regelmäßig besucht und beanstandet werden. In Deutschland macht dies zum Beispiel die „nationale Stelle„.
Zuhause oder im Sportverein braucht es solche Begutachtungen nicht. Dort ist man Mensch, dort darf man sein. Dort wird man nicht zwangsweise hingebracht. Dort gilt das Grundgesetz.

Es ist nötig den Menschen im „Anderen“ zu erkennen.
Wären unsere Abschiebemöglichkeiten jetzt plötzlich weg, so glaube ich, würden wir das endlich tun. Es wäre krass, es wäre hart, es würde uns oft und an vielen Stellen über unsere Grenzen hinaus belasten. Doch es könnte gehen. Ich glaube, dass das möglich ist.
Ich glaube, wir hätten darin eine Chance, uns mit allen die uns umgebenden Gewalten auseinanderzusetzen und ein Miteinander zu erschaffen, in dem es Ausgewogenheit auf vielen Ebenen gibt.
Wir müssen uns nur trauen.

die Sache mit dem Schreien nach Aufmerksamkeit

Da gab es einen Satz in der letzten Therapiestunde, der mir sowohl „Autsch“ als auch „Stimmt“- Impulse näher brachte:
„Wer schreit, kann nicht zuhören“

Wie wahr, wie wahr. Wenn jemand schreien muss, um gehört zu werden, dann bringt er in der Regel viel Energie auf und hat schlicht keine Kapazität mehr, um zuzuhören. Ab einem Punkt gibt es auch keine Ratio mehr. Dann ist ein Level erreicht, in dem es nur noch darum geht, gehört und sich seiner angenommen zu fühlen.

Dieser Satz brachte mich zurück in meine Kinder- und Jugendpsychiatrie- sowie meine Heimzeit als Jugendliche. Wie oft habe ich dort – ausgerechnet dort! – den Antisatz schlechthin gehört: „Ach – sie will ja nur Aufmerksamkeit“? Ich habe es nicht gezählt.

Es ist ein Antisatz, weil er oft zur Sackgasse verleitet.
Wer in der Lage ist, jemanden schreien zu hören, der kann auch zuhören und entsprechend handeln. Sich mit einer Beschreibung bzw. auch einer Deutung eines Verhaltens darzustellen, als jemand, der dies schon richtig einschätzt und damit sein (unter Umständen falsches) Handeln- oder auch Nichthandeln oder gar Ignorieren rechtfertigen darf, der nutzt etwas aus.
In meiner Klinik- und Heimzeit war es ein Machtgefälle.
Ich brauchte Hilfe und schrie es auf viele Arten heraus und manche Helfer standen da, sahen dies und legten mit dem Satz „Ach, sie will nur mal wieder Aufmerksamkeit“, die Hände in den Schoß. Werteten meine Not ab und verstärkten sie damit gleichzeitig, denn die Verzweiflung wuchs: Da hatte jemand mein Schreien bemerkt und mich doch wieder nicht wahrgenommen. Mir genug Aufmerksamkeit geschenkt, mein Schreien als solches zu hören, aber nicht genug, um es anzuhören und sich mir in der Folge zu widmen.
Ich war auf Hilfe angewiesen und jene, die sie mir hätten zukommen lassen sollen, ignorierten sie aus was weiß ich für Gründen. Einen Vorteil hatten nur sie davon. Ich konnte mich nicht mehr anders ausdrücken, doch jedes weitere Schreien konnte unter ihrer Deutungs-/ Definitionsmacht weiter abgewertet werden. Egal, was ich tat – es war nicht das, was zu dem führte, was ich brauchte.

Wenn wir Menschen geboren werden, können wir unter Umständen bis ins dritte Lebensjahr nichts Anderes tun, als mehr oder weniger artikulierte Schreie und Laute von uns geben. Die erste Form von Ausdruck über Befindlichkeiten und auch Nöte ist das Schreien.
Es ist ein Akt, der unglaublich viel Kraft abverlangt und deshalb im Laufe der Jahre immer gezielter eingesetzt wird, sobald das Gehirn so weit ausgereift ist, dass es klar und eindeutig Ursache und Wirkung miteinander verbinden kann. Bis es ein Gefühl für Selbstwirksamkeit gibt:
Ich schreie = das, was außerhalb von mir ist, reagiert darauf = mein Bedürfnis wird befriedigt

Sind wir Menschen in der Lage, Worte zu verwenden, Werkzeuge gezielt zum Ausdruck innerer Prozesse und Gefühle zu nutzen, brauchen wir nicht mehr Schreien oder auf unartikuliertes Ausstoßen von Tönen zurückzugreifen. Wir tun es aber trotzdem, wenn wir in großer Erregung sind. Wenn durch unsere Adern alles schießt, was da schießen kann. Angst, Schmerz, sexuelle Erregung, Freude, Verzweiflung. Selbst wenn kaum noch etwas schießt, zum Beispiel bei einer Depression oder im Sterbeprozess, schafft es unser Organismus noch unartikuliertes Stöhnen oder Seufzen zu produzieren, um eine Ausdrucksmöglichkeit bereitzustellen.

Ist das nicht der Hammer schlechthin? Was unser Körper alles an Kraft aufzubringen in der Lage ist, um eine Entlastung durch die Befriedigung unserer menschlichen Grundbedürfnisse zu erreichen!

Warum fällt es so schwer, der Seele den gleichen Platz wie Hunger, Durst, Nähe- und Wärmebedürfnisse, ja sogar das Bedürfnis nach Spiritualität einzuräumen?
Weil sie unsichtbar ist? Die Bewertung der seelischen Bedürfnisse einzig subjektiv vornehmbar ist? Oder nicht vielleicht auch, weil unsere westliche Vorstellung von Gesundheit, nach wie vor eine Trennung von Körper und Geist und Seele vornimmt?

Ich könnte jetzt einen kleinen Exkurs in Psychosomatik beginnen – mache aber doch nur einen kurzen Abstecher.
Jeder, der mal Liebeskummer hatte, weiß, dass es gegen diesen Schmerz keine Tablette gibt – dass aber eine Selbstmedikation aus Selbstmitleid, Trost von außen und viel Schokolade sehr gut hilft. Will sagen: ja – da ist eine Trennung – doch nicht so eine Trennung, als wäre die Seele ein eigenes Organ, ganz ohne Einfluss auf den Körper. Sowie andersherum Dinge, die dem Körper zugeführt werden, einen Einfluss auf die Seele nehmen.
Das kann man in dem täglichen Miteinander voneinander lernen, wenn man sich einander widmet und seinem Schreien zuhört.

Ich habe es an mir gelernt, als ich begriff, dass ich immer dann den Drang mich aufzuschneiden spürte, wenn ich eigentlich das Bedürfnis nach warmer Nähe- nach liebe- und verständnisvollem Kontakt hatte. Ich einfach nur jemanden brauchte, der sich mir widmete.

Es ist tatsächlich ein Schreien. Ein unglaublich kräftezehrendes Schreien.
Wir mussten zu Klinikzeiten ein Protokoll führen, um das Muster der Selbstverletzung, der Essstörung, der Dissoziation zu erkennen.
Dieses Protokoll half uns, das Bedürfnis, welches das Schreien (in diesen Fällen das Hungern und Schneiden) nötig machte zu erfassen und auch zu reflektieren, wann genau der Moment vorbei war, in dem der „flüsternde“ Ausdruck dieses Bedürfnisses nicht gehört oder auch direkt übersprungen wurde, weil gemäß der Lernkette kein Flüstern lohnte.

Der Satz „Die will ja nur Aufmerksamkeit“ ist etwas, das so eine „Ach – hier lohnt das Flüstern gar nicht“- Lernkette verfestigt. Er bestätigt die Lernkette: Ich sage etwas = niemand reagiert.

Man kann so eine Erkenntnis für sich haben. Natürlich. Man kann als Helfer da stehen und ein Verhalten für sich so einordnen. Aber dann muss ein weiterer Schritt kommen!
Im günstigsten Fall auf den Schreienden zu.
Dieser kann dann erfahren, dass seine Nachricht irgendwo angekommen ist. Und dann wird das Schreien verebben. Und DANN ist auch wieder Platz für Ratio und Zuhören.
Vorher nicht.
Ganz einfach.

Von Schreienden zu verlangen, die Klappe zuhalten, ihren Ausdruck zu unterlassen, ist Gewalt.
Eine Gewalt mit der wir hier in unserer Kultur alle durch Bank weg, mehr oder weniger stark (und zerstörerisch) konfrontiert waren, als wir selbst Kinder waren. „Kinder soll man sehen – nicht hören“. Ein Satz aus der Jahrhundertwende. Heute sagt ihn niemand mehr – es wäre aber ehrlicher, ihn zu sagen. Denn in vielen kleinen und großen Zusammenhängen erwarten wir Erwachsenen genau das von Kindern: „Sei still!“.
Und dieses Muster tragen unsere Kinder unter Umständen weiter. Es sei denn wir widmen uns ihnen und schaffen es ihre Perspektive einzunehmen und ihnen ihre Ausdrucksmöglichkeiten zuzugestehen. Diese zu akzeptieren und im Miteinander zu berücksichtigen.

Manchmal denke ich: „Ach Mensch, es ist doch so einfach eigentlich. Wieso klappt das denn nicht? Gerade in Einrichtungen, in denen viele Menschen sind, die vor sich hinschreien – sich vielleicht sogar richtig festgeschrieen haben. Es kann doch nicht sein, dass das immer und immer so ungehört bleibt! Es wäre doch im Vergleich schneller ‚erledigt‘, wenn man sich ihrer annimmt …“
Ab und an habe ich den Verdacht, dass es vielleicht auch eine Angst gibt, das eigene Schreien nicht mehr gehört zu wissen. Als Helfer in der Not nicht mehr schreien zu dürfen – seine Bedürfnisse nicht mehr ausdrücken zu dürfen. Als sei die Annahme anderer Menschen etwas, das eigene Nöte ausschließt.

Und tatsächlich finde ich diesen Gedanken oft bestätigt.
Es gilt als unprofessionell emotionale Tiefs zu haben und diese deutlich zum Ausdruck zu bringen. Als schwach gilt, wer Mitleid empfindet und selbst ein paar Tränen vergießt. Gerade im Bereich der Pflege, Pädagogik und auch im psychiatrisch-medizinischen Bereich.
Da gibt es die Vorgabe von strikter Abgrenzung und Unpersönlichkeit. So ein Ideal vom Halbg’tt in Weiß, an dem alle Emotionen wie von gleichsam weißen Lotus abperlen. Wer dem nicht entspricht, ist schwach, unprofessionell, nicht geeignet für seinen Beruf. Unterm Strich: minderwertig.

Ich will jetzt nicht dazu aufrufen, dass mir meine Therapeutin heute oder auch früher meine Betreuer oder die mich betreuenden Krankenschwestern hätten ihre Probleme erzählen sollen. ABER – ich hätte mit: „Ich habe heute einen miesen Tag-bin krank-meine Ohren und mein Herz sind heute überhaupt nicht auf für deine Not“ oder auch „Ich sehe dich, aber ich habe keine Kraft/ keine Zeit/ keine Ideen, um dir gerade gut und hilfreich beizustehen“ lernen können:
Ich schreie = jemand hört mich, kann mir aber gerade nicht zuhören – ich muss warten/ zu jemand anderem gehen/ XY tun (vielleicht dem Menschen helfen?) = dann wird mein Bedürfnis befriedigt

Mit: „Du willst ja nur meine Aufmerksamkeit“ wurde nur gelernt, dass ich weiterschreien muss.
Und sei es meine Verzweiflung darüber, dass mich niemand wirklich hört. Wie früher. Wie damals, als so viel durch meine Adern schoss, dass ich nichts weiter tun konnte, als wie am Spieß zu schreien. Wie damals, als ich noch gar nichts anderes konnte als mich durch Schreien verständlich zu machen. Und das vor Menschen, vor denen ich nur deshalb stand, weil bereits damals niemand zugehört hatte.

Ich bin froh und dankbar, dass ich heute viele Ohren habe.
Dass ich schreiben kann.

Und dass ich heute gehört werde.

zum internationalen Tag gegen Homophobie

Vor 23 Jahren wurde Homosexualität als Krankheit offiziell gestrichen- Homophobie bzw. Gewalt aus Gründen der Ablehnung von Menschen, die gleichgeschlechtlich lieben und Sexualität leben, hingegen noch immer nicht.
Der 17.5. ist der Tag an dem darauf aufmerksam gemacht wird.

Homophobie ist eine seltsame Sache.
Einmal wird der Begriff oft und gerne falsch verwendet. Woran das liegt, weiß ich nicht- wo er überhaupt herkommt auch nicht. Aber der Begriff der Homophobie selbst, sagt mir Folgendes:
Angst vorm Gleichen.
Nicht: Angst davor, das gleiche Geschlecht zu lieben bzw. von jemandem mit dem gleichen Geschlecht geliebt zu werden oder: Angst davor, mit Homosexualität konfrontiert zu werden.
Hier gibt es also eine Begriffsbaustelle, der sich bereits einige Menschen angenommen haben und schlicht von „Gewalt gegen Schwule und Lesben“ sprechen und schreiben.

Dann haben wir noch eine weitere Baustelle: die Differenzierung zwischen Homosexualität und gleichgeschlechtlich gelebter Liebe.
Sex geht ohne Liebe- das weiß jeder.
Liebe geht immer und überall. In Bezug auf jedes Geschlecht.
Ich lese derzeit aber immer wieder von „mehr Rechte für Homosexuelle“ oder von „den Homosexuellen“.

Ich für mich, habe da eine Trennung, weil Sexualität ein Handeln impliziert. Etwas, das man planen, also kontrollieren kann. Liebe ist etwas, dass einen überkommt. Ganz und gar. Wenn man liebt, liebt man- da gibt es keine bewusste Entscheidung und Kontrolle über diese Empfindungen gibt es nicht.

Diese Vermischung der Begriffe überall führt, so denke ich mir das, dazu, dass manche Menschen Schwulen und Lesben unterstellen ihr Leben (mit ihrer Liebe drin) komplett frei entschieden hätten. Sie könntens ja auch lassen. Könnten doch einfach auch einfach mit ihrem sexuellen Gegenpart leben und wären dann „normal“.
„Störrische Narren- lasst die Spielerei- kommt zur Vernunft*!“

Ich wittere da eine Phobie. Aber keine Phobie, die sich auf die Gleichheit bezieht, sondern eine Phobie, die sich um das, was einem selbst fremd ist, dreht.

Etwas interessantes an dieser Art Phobie ist, dass sie ausschließlich mit zunehmendem Wissen passiert.
Ich hatte mal einen Menschen an meiner Seite, der mich lange kannte und auch mochte. Ich verliebte mich in ihn und irgendwann war ich mutig genug, das auch zu vermitteln.
Der Mensch wandte sich sofort von mir ab und agierte auf Alltagsgewaltniveau mir gegenüber. Plötzlich kamen Worte wie „deine Neigung“ auf. Dass ich einfach nur verliebt war- einfach nur einen liebevollen Impuls in Bezug auf den Menschen in seiner Gesamtheit verspürte und dies vermittelte, davon war gar keine Rede. Der Mensch fasste meine Gefühle als eine Entscheidung auf- stellte meine Gefühle auf eine Ebene mit meinem Handeln- und übersah dabei, dass ich noch überhaupt gar nicht gehandelt, sondern nur gefühlt hatte!

Liebe zu Menschen mit dem gleichen Geschlecht ist unsichtbar. Sie ist nur in den Menschen selbst drin und das ist für Menschen, denen diese Art der Liebe von sich selbst fremd ist, schwer aushaltbar. Für sie ist es ein Kontrollverlust und vielleicht mit Gefühlen von Ohnmacht verbunden. Manche Menschen können das gewaltfrei kommunizieren- manche jedoch nicht. Sie müssen diese Menschen abwerten, ihnen eine „Mehrebenenandersartigkeit“ (biologisch, psychisch, sozial) unterstellen, um diese -in erster Linie vor sich selbst!- zu rechtfertigen.

Lange haben sich diese Menschen dazu sogar ganze Machtinstrumente zu Nutze gemacht bzw. machen können. So zum Beispiel die klinische Medizin (darin enthalten: die Psychiatrie), ja sogar die Staatsmacht bzw. dessen Instrumente der Rechtsprechung (z.B. § 175 StGB bis 1994).

Dinge die uns Menschen fremd sind, bezeichnen wir als „das Andere“. Es ist anders als das, was wir von uns selbst kennen, anders als das, was wir selbst tun. So verstehe ich grundsätzlich das viel praktizierte „Othering“ von Menschen, die selbst weder Homosexualität noch gleichgeschlechtliche Liebe ausleben.
In Bezug auf die Gewalt, die von sich abgrenzende Menschen, gegen Schwule und Lesben ausüben ist es, meiner Meinung nach, nichts als Angst und der Wunsch andere Menschen zu kontrollieren. Weniger beängstigend zu machen, in dem sie eine Angleichung erzwingen wollen. Dies geht natürlich ganz erheblich leichter, wenn man emotionale Impulse auf eine Stufe mit (sexuellen) Handlungen stellt. Genährt wird dies, meiner Meinung nach, durch unhinterfragtes Weitertragen von Gedankengut anderer ablehnender Menschen und eben auch, durch die immer wieder betonierte Begrifflichkeitsverwischung.
Einem Beharren auf dem eigenen Erleben, als normhaft. Als sei die Norm der Status Quo, der ein friedliches Miteinander ermögliche und nicht die Akzeptanz, Toleranz und Respektierung von Menschen in ihrer Gesamtheit im Grundsatz.

Ich, für mich, lehne Antiparolen ab.
Halte es für unsinnig zu sagen: „Ich bin gegen Homophobie. Bin dagegen, das Menschen Gewalt gegen Menschen ausüben, die anders fühlen (und auch Sexualität anders leben) als ich.“ Es ist wieder ein „Othering“ und ein verbalisierter Ausdruck der eigenen Norm- nicht das Hinterfragen selbiger, was meiner Ansicht nach, gleichsam notwendig ist, um Gewalt aus dem menschlichen Miteinander zu bringen.
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Ich sage lieber, dass Liebe, Liebe ist und bleibt. Unerzwingbar, unkontrollierbar- und auch lebbar- in all ihren Formen. Dieses Leben muss im gegenseitigen Einverständnis gelebt werden dürfen und von allen Menschen gleich akzeptiert werden- egal, ob man sie von sich selbst kennt oder nicht.

Wir Menschen lieben, weil wir es können. Völlig gleich warum. Völlig gleich wen.
Dies als grundsätzliche Haltung zu etablieren sollte, meiner Meinung nach, der erste Schritt sein, wenn wir etwas gegen Gewalt aus Gründen der Ablehnung verhindern bzw. beenden wollen.

über etwas drübergelebt

Ich habe heute an „Superwomen, Möhrenwürfel und Heilung“ gedacht und daran, dass der Begriff des „Überlebens“ überbewertend besetzt ist.

Die Gewalt in unserer Geschichte, hätte uns tatsächlich töten können. Doch das war nie das Ziel und zum Glück hatten die Täter_innen auch nie soviel Angst vor Enttarnung und in der Folge, den Konsequenzen ihres Handelns, dass sie uns gezielt haben töten wollen.

In unserem Fall, war „überleben“ einfach nur schlichtes „weiterhin am Leben sein“. Vielleicht: „trotz Allem am Leben sein“.
Das ging einfach so weiter. Wir haben nie etwas dafür tun müssen oder gezielt (im Sinne von bewusst) tun können.
Wir haben die Gewalt erlebt und dann einfach weiter gelebt. Weiter metabolisiert und somit existiert.
Es ist nichts Besonderes zu überleben. Es ist einfach nur „weiterhin leben“.

Der Kampf ist das Innere. Das „sich erlauben, dies tun zu dürfen“. Das „immer wieder neu Schritt für Schritt vorwärts- Gehen“. Die Notwendigkeit darüber nachdenken und (neu) lernen zu müssen, wie die Qualität des eigenen Lebens sein soll.  Das ist das, was besonders ist, weil dies nicht für jeden Menschen von gleicher Bedeutung ist.

Alles andere ist einfach nur leben.
Weiter leben. Einfach so. Weil es eben geht. Weil es einfach so lebt.

Man kann für sein Überleben kämpfen, klar. Immer. Aber es ist ein Kampf, der nie ausschließlich von dem bestimmt wird, was man tut. Es ist Aktionismus, der manchmal die Chancen weiter zu leben erhöht oder einen dauerhaften Schutz davor generiert, in eine Situation zu kommen, die das Leben gefährdet, ja. Aber das Ende wird dadurch nicht kontrolliert. Ob man lebt oder nicht, liegt nicht in der Hand der Menschen, deren Leben von anderen Menschen oder Umständen gefährdet wird. Der Mensch hat ein Vetorecht. Und die Macht, sich so zu verhalten, dass sein Leben durch die eigene Hand beendet wird.

Aber letztlich… ist der Zustand zu leben, einfach nur der Zustand zu leben.
Über die Hürde- eine Gefahr- für selbiges hinweg gelebt zu haben, nennen wir überleben bzw. überlebt haben.

Es ist eine Zustandsbeschreibung.
Überlebt zu haben ist keine Auszeichnung für besondere Fähigkeiten.
Es ist nur eine Würdigung dessen, was dort so gefährdend war, das man über es drüber zu leben gezwungen war.

Das Überleben ist einfach immer nur das Leben was über ist.
Der Rest von vorher und das was dann kommt.

Menschen mit („geistiger“) Behinderung und Diskriminierungslotto

Ich hatte gerade Besuch der zum kollektivem Anfall von Tischplattenzerstörung mittels Kopf aufrief.
Grund für die Aufregung: Diskriminierung im Vorbeigehen, noch während man sich mit der Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen auseinandersetzte (schlimmstes Autsch dabei: in einer Gruppe von Menschen die irgendwann mit der Aufgabe der Inklusion von Menschen mit Behinderungen betraut sein wird)
Auslösender Satz: „Ach bei geistig Behinderten ist die Sache mit dem Geschlecht ja nicht so wichtig, weil die ja eh keine Sexualität leben bzw. Kinder bekommen.“
Ruf in die Reihen jener mit etwas mehr Awareness, als ein Stück Toast: Ihr dürft jetzt von den Wänden wieder runterkommen- schlimmer gehts immer- wird es aber heute nicht.
Wo man hier anfangen soll, ohne sich zu verzetteln und möglichst noch einen Augenöffner zu reichen…
Hm, ich probiers mal mit der Begrifflichkeit.
„Behinderte“ ist in meinen Augen das reduzierenste Nomen, welches für die Benennung von Menschen mit Behinderungen derzeit immer noch verwendet wird. Es ist ein defizitzentriertes Wort, dass den Kern der Bedeutung unterschlägt. Es verschweigt, dass man von einem Menschen- einem lebenden, fühlenden Wesen spricht.

Lebende fühlende Wesen haben eines gemeinsam: sie wollen alle leben und (die meisten) sind von Natur aus in der Lage dieses Leben mittels Sexualität weiter zugeben.
Dies tun sie entsprechend ihrer genetischen Codierung als männliche, weibliche oder auch hermaphrodite (bei Menschen: intersexuelle) Parts.

Und zack: haben wir was im Zentrum?
Einen Menschen, der weiblich oder männlich oder intersexuell ist- ergo einem Geschlecht
(ja ich fasse auch die Zweigeschlechtlichkeit als eigenes auf) angehört und ergo berechtigt ist, dies mit allen Problemstellungen drum herum anerkannt zu bekommen.
Warum gerade dies so wichtig ist?
Jede dritte Frau* (biologisch als weiblich klassifizierter Mensch) erfährt in ihrem Leben sexuelle Gewalt auf irgendeinem Punkt in dessen breitem Spektrum. Das Risiko dafür ist höher, liegt eine Behinderung vor.
Für das Risiko dem Männer* (biologisch als männlich klassifizierte Menschen) ausgesetzt sind, fand ich keine aktuelleren Zahlen,als jene die die sich bei
gegen-missbrauch.de finden lassen. Ein Eintrag übrigens der sich für alle lohnt, die Zahlen zum Thema „sexuelle Misshandlung + Menschen mit Behinderungen“ suchen, genauso wie die PDF von Werner Brill aus dem 90 er Jahren.
Warum noch?
Mir persönlich erscheint es wie Relikt aus der NS- Diktatur (auch, weil ich mich mit dem Umgang mit Menschen mit Behinderung vor den 30 er Jahren noch nicht auseinandergesetzt habe- da Schmerzgrenze bereits erreicht), doch noch immer wird Menschen mit („geistigen“) Behinderungen keine eigene Identität einfach so zugestanden. Schon gar nicht ein reifes- ausgeklügeltes inneres Universum wie alle „anderen“ Menschen eines in sich tragen. Schauen sie mal in den nächsten Artikel über eine Wohngruppe von Menschen mit Down-Syndrom- was meinen sie: Haben diese Menschen wohl auch Nachnamen? Haben Sie den Eindruck, wenn Sie so einen Artikel lesen, dass es um Menschen geht, die komplexe Gefühlsverflechtungen in sich tragen und mehr im Kopf haben, als den Lieblingssportverein?

Menschen, die auch lieben können?254467_web_R_K_B_by_Stephanie  Hofschlaeger_pixelio.de

Menschen, die auch körperliche Liebe leben?
Menschen, die wissen, wie man körperliche Liebe lebt?

Menschen, die vielleicht auch mal aufgeklärt werden müssen, damit ein einvernehmlicher, sicherer und auch befriedigender Umgang damit gefunden werden kann?
Menschen die sich vielleicht auch ab und an mal fragen: „Hm- ich finde die Anke ja ganz schön und toll, aber dürfen Mädchen und Mädchen eigentlich…?“ ?

Menschen, die ganz genau die gleichen Verwirrungen im Bezug auf sich und ihre Geschlechtszugehörigkeit (sowohl biologisch als auch sozial!) verspüren können?
Menschen sind Menschen und jeder Einzelne ist fähig im Rahmen seiner Fähigkeiten bzw. Möglichkeiten menschliches zu tun, zu denken, zu fühlen.
Die Zeiten in denen man Menschen mit geistiger Behinderung einfach mal eben so eine Kastration unterjubelt sind dem Himmel (und all den engagierten Fürsprechern dieser Menschen) sei Dank vorbei. Das Thema „(„geistige“) Behinderung und Sexualität“ kommt endlich auf den Tisch und da hat es auch drauf zu bleiben!

Wir sprechen von Menschen, die die gleichen Rechte haben, wie alle Menschen ohne Behinderungen (zumindest in weiten Teilen und auf dem Papier- denn machen wir uns nichts vor: wirklich NUTZEN können viele so abhängige Menschen ihre Rechte nur, wenn sie wirklich gute Fürsprecher und ein barrierefreies Umfeld haben- und daran mangelt es ungeheuer!).
In dem Satz ist übrigens noch eine fiese Verstrickung drin: der Zusammenhang zwischen dem Körpergeschlecht und dem Ergebnis der Fortpflanzung. Tut mir leid den Einen oder Anderen von seiner rosa Wolke zu holen, aber wer von den beiden Eltern wird der Teil sein, der sich um das Kind unter Umständen auch allein (bzw. dann im Rahmen einer speziellen Betreuung o.Ä.) kümmern werden muss, wenn das andere Elter sich trennt?
Auch unter Menschen mit Behinderungen gibt es Sorgerechtsstreits und zack befinden wir uns in einem Sumpf aus sexistischer, ableistischer und struktureller Diskriminierung par excellance. Und wer wird verlieren? Es ist immer der mehrfach diskriminierte Mensch und da im Diskriminierungslotto nachwievor die Gewinner weiblich (bzw. als solche klassifizierte Menschen) sind, ist auch hier „die Sache mit dem Geschlecht“ extrem wichtig!

Und nun einmal meine Sprachknall-Preisfrage:
Würde man nicht immer von „Behinderten“ sprechen- wäre ihnen die Menschlichkeit der Menschen mit Behinderungen in Bezug auf die hier aufgeführten Punkte, auch so abhanden gekommen?

von Leidvergleichen und Alltagsgewalt

473731_web_R_by_Günter Havlena_pixelio.deDer Punkt an dem ein therapeutisches Gespräch bei mir am meisten reinhaut ist der, wenn mir das Gegenüber so Dinge sagt wie: „Das war ganz schön schlimm für Sie, nicht wahr?“ oder: „Oh weh, das war sicher schmerzhaft…“

Puff! Wird mir mein Leiden unter einer Situation bewusst und/ oder bestätigt von jemandem, der nicht selbst dabei gewesen ist, sondern nur von mir davon erfahren hat. Und wie durch ein Wunder, fühle ich mich dann auf einer Ebene besser, als vorher.
So einfach geht das.

Wenn ich in Kliniken war, habe ich manches Mal gedacht, dass meine Mitmenschen, die dort ebenfalls zur Therapie waren, allesamt aus vollem Halse schreien würden, wären sie noch Babys oder Kleinkinder bzw. wäre dieser Ausdruck seiner Not für Erwachsene gesellschaftlich anerkannt, um genau diese Annahme und Bestätigung zu erfahren.
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Als erwachsene Gewaltüberlebende schreien sie auf viele andere Arten ihre Not heraus. Zum Beispiel in dem sie nicht mehr essen, sich Verletzungen zufügen, ihren Körper zum Sprachrohr machen (somatisieren) und so weiter.

Egal, was ihnen passiert ist, egal was für einen innerseelischen Konflikt sie da gerade mit sich ausfechten- sie leiden und es geht ihnen schlecht. Das anzuerkennen ist für mich selbstverständlich. Zum Einen, weil es nicht um mich dabei geht und zum Anderen, weil ich das Geschrei nur schwer ertragen kann und weiß, wie viel einfacher alles ist, wenn man dem Anderen schlicht seine Gefühle und Gedanken anerkennt und lässt, ohne sie auf sich zu beziehen (und damit: seine Gefühle mit meinen zu vermischen) und zu bewerten anhand meiner Schlimmskala.
Das ist meine Art des Selbstschutzes und auch der Versuch Gewalt in einer ihrer Maskeraden nicht weiter zu tragen.

Wenn ich in einer Klinik bin, rede ich nicht über meine Probleme und Diagnosen mit anderen Mitpatienten, sondern ausschließlich mit meinen BehandlerInnen. Ich bin diese Vergleicherei und Bewerterei einfach leid und habe für mich eine relativ gnadenlose Schiene entwickelt: Ich komme, mache und gehe wieder weg. Keine Patientenkontakte außerhalb der Angebote und nicht mehr Zeit als nötig in diesem Setting.

Kliniken sind Brutstätten für Leidvergleiche, weil es nur allzu oft, um die extrem begrenzte Ressource der Aufmerksamkeit und Bestätigung geht. Ich lasse mich von niemandem dazu missbrauchen sich besser oder schlechter zu fühlen, weil er an meinen Gefühlen oder meiner Geschichte seine Position zu sich und seinen Gefühlen und seiner Geschichte finden will.
Es gibt Menschen, die genau für die Arbeit der Hilfe zur Selbstpositionierung und Sortierung bezahlt werden: die Psychotherapeuten!

Damit sich Muster wie das einer Somatisierungsstörung oder einer Essstörung oder was auch immer entwickelt, braucht es jede Menge Nichtbeachtung, Relativierung, den Verlust der Berechtigung zur eigenen Wahrnehmung, Konflikte jeder Art- unterm Strich: Alltagsgewalt. Die fiesen kleinen Internalisierungen und Weitertragereien von Erniedrigung und Demütigung, die wir hier und da einfach mal so aufgenommen und in anderen Kanälen wieder heraus gelassen (in jemand anderen wieder hineingegeben) haben genauso, wie die großen Schicksalsschläge, die einfach so mal über einen kommen.

Es ist mir egal, warum und wieso jemand Symptom XY entwickelt hat, weil ich für mich klar habe, dass niemand unter seinem Anpassungsmuster bzw. seiner Überlebensstrategie krankt, weil er Geschichte AB erlebte oder Charaktertypus CD ist; sondern,weil genau dieses Muster bzw. diese Strategie plötzlich (oder auch schleichend) dysfunktional geworden ist. Entweder, weil sie nicht mehr gebraucht wird oder, weil sie allein nicht mehr ausreicht, um eine Balance für Alltagsfunktionalität zu halten.

Ich habe das schon einmal hier im Blog erwähnt: Ich leide nicht und habe nie darunter gelitten „Viele zu sein“- ich habe darunter gelitten, es plötzlich zu spüren bzw. plötzlich zu erfahren, warum mein Gehirn so vieles nicht assoziieren kann um ein kohärentes Selbst(bild) für mich zu ermöglichen.

Ich finde Leidvergleiche missbräuchlich, weil ich mich als Maßstab missbraucht fühle. Und im Zuge dessen sogar richtig misshandelt.
Das Wort Missbrauch enthält „brauch“ und deutet so eine Notwendigkeit- ein „etwas zu Brauchen“ an. Dies ist im Hinblick auf diese Art Missbrauch als Maßstab für andere Menschen meines Erachtens sehr passend, weil meiner Meinung nach, hinter diesem Verhalten eine Notwendigkeit- ein nötiges „etwas brauchen“ steht. Einfach so macht das niemand! Es wird für mein Gefühl danach geschrien eine Erlaubnis für seine Not zu haben. Eine Berechtigung generiert, sich um sich selbst zu kümmern.

Diese Erlaubnis kommt aber nicht dadurch zu Stande, dass ich mich als Maßstab hergebe, sondern dadurch dass das fiese Gewaltmuster im Kopf des anderen Menschen endlich Ruhe gibt, weil es mich gegenüber dem Empfinden des Anderen erniedrigen konnte!

Ich habe einen Seitenarm der Diskussion hier im Blog, gerade auch in meinem Privatforum, in dem ich mich mit anderen Menschen mit DIS austausche.
Dort merkte ich gestern einen Stich in mir, als jemand von seiner wachsenden Kenntnis über seine Biographie schrieb. Ich nannte es erst „Neid“- jetzt einen Tag und viele Gedanken später nenne ich es: „Oh- Achtung- du fängst an dich selbst zu erniedrigen und den anderen in eine Position über dir zu drücken. Du verletzt dich schon wieder selbst, indem du wiederholst, was dir viele schlechte Ärzte und Therapeuten angetan haben, nämlich dir zu sagen, dass du nie Fortschritte machst, weil du zu schwer gestört bist.“
Dahinter steht auch eine Not, nämlich der fiese Schmerz und die Angst die ich fühlte, als mir immer wieder gesagt wurde, ich sei ein hoffnungsloser Fall, der es nie aus der Massenverwahrungsanstalt mit Heileretikett- kurz: Psychiatrie- schaffen würde. Diese Demütigung trage ich bis heute in mir herum und finde sie in solchen Momenten bestätigt. Doch dies hat nichts im Kontakt mit dem anderen Betroffenen zu suchen. Durch meine Rückmeldung, fühlte das Gegenüber sich beschämt und entschuldigte sich bei mir, was ich so in der Form gar nicht erreichen wollte. Wir waren in den Napf der Alltagsgewalt gestapft, ohne es sofort merken.

In dem Forum weiß ich, dass die anderen Betroffenen offen für meine Reflektion sind. Wir können das in Ruhe diskutieren und uns beim nächsten Mal direkt warnen und einander auf diese Muster aufmerksam machen. So etwas funktioniert, wenn man einander schon länger kennt und weiß, dass jeder zur Reflektion und Entwicklung gewillt ist.

In Kliniken und offenen Selbsthilfeforen geht so etwas eher schwer.
Man kennt einander nicht, ist eventuell gerade komplett blind vor eigener Not und verletzt und erniedrigt permanent sich und andere Menschen, ohne es zu wollen oder reflektieren zu können.
Entsprechend nutze ich Selbsthilfeforen als Ort zum Sein, die ich mir wie kleine Inseln arrangiere:für dies Thema dieses, für die User A B C D E dieses und für in Ruhe auseinanderklabüstern und üben zu reflektieren und so weiter jenes…
Und Kliniken eben auch so. Ich gehe da hin, nutze die Angebote in denen ich gut sein und reflektieren und sortieren kann und lasse den Rest aus bzw. quäle mich durch die Gruppen, an denen man teilnehmen muss. Der Rest wird von mir ignoriert, um mich zu schützen und meine Therapieerfolge des Tages nicht kaputt zu machen.

Das ist eine bewusste Entscheidung von mir. Eine innere Haltung, die mich längst nicht überall beliebt macht und die mir vor allem nicht immer weiter hilft. Aber genau in diesen beiden Settings, habe ich es permanent mit Menschen zu tun, die ungewollt an mir Gewalt ausüben, um sich selbst zu verletzen (also an sich sich selbst Gewalt auszuüben) und das ist einfach nicht das, was ich will und mir gut tut.
Es gibt andere Settings und andere Menschen da draußen, die sich zum Einen anbieten mir zu helfen einen eigenen Maßstab für mich zu finden (meine Psychotherapeutin) und zum Anderen offen und reflektierend mit mir agieren und mir vorzuleben, wie sie mit ihren Konflikten umgehen, ohne ein Muster zu entwickeln unter dem man früher oder später krankt (meine Gemögten).

Es ist auch einfach eine Entscheidung wegzugehen, wenn ich merke, dass ich in einem Kontakt immer wieder versucht bin, mich zu vergleichen, um meine Gefühle und Impulse als „okay“ einstufen zu können.

Ich will mein eigener Maßstab für meine Gefühle, Gedanken und Impulse sein und halte es für absolut gerechtfertigt, wenn das jeder andere Mensch auch für sich will.

„Einstieg in die Freiheit“, statt „Ausstieg“

Es ist für uns gerade eine Zeit in der sich unser Fokus weitet und uns vielschichtig aufspreizt- vielleicht auch neu zerreißt? Wieder wird klar, warum wir uns hier nicht offiziell eingemeinden lassen können. Warum wir uns zu Recht noch nicht als „wirklich ausgestiegen“ betrachten können.

Wir leben schon viele Jahre nicht in mehr in physischer Abhängigkeit derer die uns pseudoreligiöse Werte vorlebten und sind auch nicht mehr in der Situation Gewalt und Ausbeutung aushalten zu müssen. Aber wir schleppen ein Erbe mit uns herum.
Sind innerlich noch längst nicht ganz ausgestiegen.

Vielleicht ist „Ausstieg“ auch nicht das, was wir wollen und schaffen möchten. Denn der Begriff des „Ausstiegs“ impliziert einen Standpunkt und einen Zeitpunkt des Einstiegs. Wir aber sind nie eingestiegen- wir wurden hineingeboren und aufgezogen mit diesen Werten und hatten zu keinem Zeitpunkt wirklich einen einzelnen Standpunkt. Es war schon immer so, dass es Innens gab, die sich gegen Unrecht und Gewalt eingesetzt haben- während andere Innens genau Unrecht und Gewalt er- und ge-lebt haben.

Es ist für uns wichtig geworden zu spüren, wie berechtigt der Wunsch ist keine Schmerzen und Demütigung aushalten zu müssen- doch es ist ein anderes Wertesystem. Eines, das nur deshalb als gut und richtig und wichtig geschätzt wird, weil es der Masse der Menschen als gut und richtig und wichtig vorgelebt wird.
Unabhängig davon, wie wir dieses Wertesystem bewerten liegt es an uns, uns dem hinzugeben oder eben auch nicht. Es hat etwas damit zu tun sich dafür zu öffnen und es in sich hineinzunehmen. Es hat etwas mit Anpassung zu tun- aber nicht mit tatsächlicher Freiheit.

Eine unserer ersten Diagnosen war „Anpassungsstörung“.
Kein Wunder- erlebten wir doch gerade einen Weltenchrash der an Parallelen kaum noch zu überbieten war.

Gab es vorher die „helle“ und die „dunkle“ Welt (beides gruselig, weil nie in Gänze erfass- einschätz- und erinnerbar), gab es dann plötzlich „drinnen“ und „draußen“ sowohl räumlich als auch direkt bei uns. Plötzlich waren wir minderwertiger Patient drinnen (der für sich behalten soll, was in ihm ist- aber trotzdem immer wieder gezwungen (ja wirklich- gezwungen!) wird, etwas von sich und seinen Gedanken, Normen und Werten zu erzählen) und draußen waren die, die wertvoll und frei waren (die Ärzte, Therapeuten, Pfleger, Besucher… die man alle nicht zwingen konnte, etwas von sich preiszugeben).

Diese Zeit war für uns ein schlimmer Fallstrick- ja- eigentlich sogar ein ganzes Fallstricknetz, so dass es uns nie wundert, weshalb viele der Betroffenen, die wir so kennengelernt haben im Lauf der Zeit keinen Ausstieg in dem Sinne schaffen, als dass sie in Freiheiten kommen, wenn sie immer wieder in psychiatrische Stationen müssen, die geschlossen sind. (Und dort oft von Helfern behandelt werden, die um ihren Kopf ein herrlich stabiles Holzhaus gebaut haben, auf das dort niemals etwas heraus oder herein kommt.)

Wenn man aus einem abgeschlossenen Sozialkonstrukt heraustritt und alle Handlungen und Tätigkeiten die in ihr als wertvoll und zwingend normal (im Sinne einer Norm) angesehen werden, steht man erst mal völlig allein da- es sei denn man hat sich andere Dinge bewahrt- und sei es die Fähigkeit seine Werte in einem Teil seines Selbst neu bilden zu können.

Ich habe oft den Eindruck, dass der Faktor der Anpassung an „die Gesellschaft“ (hier nicht näher definiert) der Anreiz für den Ausstieg sein soll oder auch die Anpassung den Ausdruck der eigenen Normen und Werte gegenüber anderen Menschen zu finden.
Als sei Freiheit etwas, das man nur erlangen kann, wenn man sich gut an „die Gesellschaft“ und „die Welt, wie sie außerhalb der Pseudoreligion nun mal ist“ angepasst hat und sie für sich nutzt.

Doch gerade jetzt denke ich, dass es nicht darum geht. Und auch nicht gehen sollte.
Der Wunsch nach Anpassung ist da- natürlich. Wir Menschen sind Individualisten mit Gruppenabhängigkeit- unsere Evolution war so nett uns dies als teilweise genetisch verankertes Markerchen mitzugeben. Doch das ist das, was uns frei macht: die Fähigkeit ganz wir selbst- ganz individuell zu sein.

Wir haben uns früher nie eingesperrt gefühlt- weder in der „hellen“ noch der „dunklen“ Welt. Es war einfach unsere Welt. Der große Katastrophenknall der Erkenntnis kam erst, als wir an einem der pseudoreligiösen Feiertage in unserer ersten eigenen Wohnung saßen und merkten, dass die Art der Wertschätzung des früheren Sozialkonstruktes uns auf eine Art verletzte, die dazu führte, dass uns jemand von außerhalb dessen vermittelte, was genau aus ihrer Sicht dort mit uns passierte.
Wir mochten diesen Menschen und fühlten uns ihm verpflichtet- das Gleiche galt aber auch für jene hinter bzw. in diesem uns verletzenden Sozialkonstrukt. Wir haben uns hin- und herziehen lassen, bis wir den Knall endlich rauslassen konnten und wir uns für eine radikale Zu-Nichts-Niemand-Nirgendwo-in-Gänze-Verpflichtung entschieden.

Für konsequente Nirgendwoanpassung sobald wir uns selbst dabei verloren.
Schwupp war der Druck raus, bekamen wir eine Ahnung von freiem Durchatmen und den Möglichkeiten der Denkrichtungen, zu der unser Gehirn als Ganzes in der Lage ist.
Und doch ist bei aller äußeren Freiheit noch das Gefängnis im Innen da.

Da gibt es nachwievor Innens die diesen Selbstbefreiungsrundumschlag nicht miterlebt haben. Die nachwievor in Teilen der früheren „hellen“, der „dunklen“ und auch der „drinnen“ Welt kleben. Sie sind das, was damals alle an uns ziehenden Seiten jeweils noch immer in der Hand halten.

Diese Innens haben keinen Standpunkt- sie können nicht „aussteigen“, weil sie nicht stehen.
Sie haben keine Basis und Trittbretter herbei zu schaffen, liegt an uns. Doch wo sollen wir sie hernehmen, wenn wir doch immer wieder feststellen, dass eine Anpassung- nicht eine Freiheitspraxis von uns erwartet wird?Eine Freiheitspraxis die auch unabhängig von unseren HelferInnen und all dem, das doch nur dafür da ist, uns zu helfen, passieren darf, ohne als unpassend oder sogar minderwertig zu gelten.

Es ist für uns sehr traurige Freiheitspraxis eben nicht eingemeindet zu sein und die Feiertage allein zu 212289_web_R_K_B_by_Ruth Rudolph_pixelio.deverbringen. Sehr anstrengende Freiheitspraxis dem Sog des Suiziddrang-zwangs zu widerstehen und so in Kauf zu nehmen in ein einem bestimmten Konstrukt eben dann als schlecht und und minderwertig zu gelten. Es ist traurige Freiheitspraxis zu wissen, dass die Menschen die uns umgeben (außer denen die das jetzt lesen und uns kennen) keine Wertschätzung dem gegenüber zeigen. Es ist beängstigend zu spüren, dass wir auch keine klinischen Hilfen mehr in Anspruch nehmen können, weil die Strukturen unnachgiebig und starr (und damit für uns kaum bis gar nicht nutzbar) sind- wir also nicht einmal mehr so frei in der Annahme von Hilfe sein können, wie wir uns da doch ursprünglich erkämpft haben.

Es ist außerordentlich schmerzhaft so frei zu sein, dass man fast haltlos ist.
Freiheit bedeutet auch Dinge nicht anzuerkennen und rebellisch und störrisch zu wirken. Anzuecken und zu hinterfragen. Unangepasst an „die Gesellschaft“ und doch Teil von ihr zu sein. Strukturen zu erfassen, ganz für sich abzuschätzen und zu versuchen sich an sich anzupassen- nicht sich selbst ihr anzupassen.

Ich komme mir vor als wandere ich durch die Wüste und sammle trockenes Holz. Trittbretter für jene Innens die keinen eigenen Standpunkt haben. Immer weiter und weiter- einfach weil wir als Einsmensch kein Sklave mehr sein wollen. Schritt für Schritt auf einer Reise, die aber nicht in einem heiligen Land enden wird.
Sondern in der persönlichen Freiheit.

 

Vielleicht sollte man es für alle so nennen: „Einstieg und Anpassung an Freiheit“.
Irgendwie macht mir meine Wortsynästhesie dieses Wortpaar passender für das was erreicht werden will, als die Wortgruppe „Ausstieg und Loslösung aus destruktiven Zusammenhängen“.

An Erstem sind kleine Rippel zum Festhalten dran.

 

P.S. Auch hier gibt es wieder ein offenes Ende- wir wirbeln immer noch herum und taumeln gerade eher ein bisschen hin und her und ergießen uns hier eher als wirklich fest und klar zu schreiben, worauf wir hinaus wollen. Gehört dazu denken wir- also kriegts einen Platz.

7 Erwachsene

Sie sucht herum und weiß nicht wohin. Sucht das Heute von Gestern und findet nur noch freie Fläche. Ihre Geschichte wird Stück für Stück gefressen von der Karies am Zahn der Zeit.

Stumm ist sie gezwungen zu sehen, dass ihre Schulen und sogar Kindergärten und Heime abgerissen wurden. Es ist nur noch ein leerer Platz, dort wo ihre Worte hallten und in niemandes Kopf zu dringen vermochten.

„Wo ist mein Gesagtes jetzt?“.
Sie steht da und wartet noch immer auf eine Antwort, dreht und wendet ihre Worte wie Steine in ihrem Mund herum. Ab und an beißt sie darauf, um ihre Festigkeit zu prüfen. Sich zu versichern, dass es noch die Gleichen sind wie vor 19 Jahren. Um dem kleinen Herzen, das in ihren Haaren wohnt, sagen zu können, dass sie gewappnet sei, falls doch die Erzieherin wiederkäme und sie nochmal fragte.

Sie steht noch immer an dem mehrschichtig lackiertem Karussell. Versucht zu ergründen, wieviele Farbschichten es bedecken und pult mit ihrem abkauten Fingernagel daran herum. 316455_web_R_K_B_by_mondstein_pixelio.de

„Hier sind wir lang gelaufen. Es war Sommer mit 37°C und sie haben Wasserschläuche hier hingelegt mit Löchern drin. Da konnte man nackig durchlaufen und es war so schön. Es gab Capri- Eis zum Mittag.“

Jetzt ist nichts mehr davon da.
Der Ort an dem die Not aus Versehen sichtbar wurde, existiert nicht mehr.
Es ist, als sei die Chance nun noch endgültiger als damals vergangen.

Das Heute hat das Gestern gefressen.
Was bleibt ist das Mädchen, das erzählte, dass es Monster gibt, die Kinder schlagen und auseinanderreißen.

Das Mädchen, das noch immer da steht und sich fragt, wo sein Gesagtes jetzt ist.

Im Schnitt muss ein (sexuell) misshandeltes Kind, 7 Erwachsene ansprechen, bis es gehört wird

Hilfe ist, was hilfreich ist

462315_web_R_by_Maren Beßler_pixelio.deEs begab sich Folgendes auf meinen letzten Jammerartikel.
„Vi“ schrieb vom Weinen das kommen und den haltenden Händen, die irgendwann da sein werden. Und noch bevor eine Ausrichtung der Ohren im Innen passieren konnte, knallte die Tür mit der Aufschrift: “Um G’ttes Willen- alles- bloß das nicht!” zu. Sie schrieb, sie kenne dies und fühle sich dann hilflos als Helfer und fragte, was für ein Verhalten ich mir dann wünschen würde von den Menschen.

Einfach platt runterzurasseln, was gut wäre, und wieso und in welcher Situation zum Beispiel, erscheint mir nicht so sinnig, weil es für uns oft mehr auf eine Haltung und ganz subtile Grundlagen ankommt, als auf bestimmte Handlungen. So wirklich ausformuliert haben wir das noch nicht- entsprechend bitte ich um etwas Nachsicht, wenn sich das nun Folgende etwas gestückelt liest und noch eben nicht so klar macht, worum es mir geht. (Kommentarfunktion ist an und nutzbar: Fragen, Gedanken, Impulse… bitte immer gern)

Also:
Sonntagmorgen fiel auf, dass wir seit Mittwoch nichts gegessen hatten. Die Schwächung, die zusammen mit diesem Wust aus Körpererinnerung, Ängsten und Doppelbildern einher geht, triggert immer tiefere Schichten des Innen an. Es war klar, dass der Hunger-Schwächezenit bald erreicht sein und sich in wahllosem Fressen, Selbstverletzung der chirurgisch relevanten Art oder auch Täterkontakt entladen würde.
Dann klingelte das Telefon: „So, ich bin in 10 Minuten da. Ich bitte euch alle, mir die Tür aufzumachen.“ Eine Gemögte von uns hatte eine Not-SMS bekommen. (Standardisiert in den SMS-Entwürfen abgelegt, abrufbar mit zwei Tastenschlägen und abgesprochen in stabilen Zeiten).
Die ganzen 10 Minuten redete sie davon, wer sie sei und warum sie käme und was sie machen wollte. Es wurde ein Gespräch, das uns eine Art Haltestange zur Wohnungstür wurde und ermöglichte sie zu öffnen.

Es ist eine Extremsituation für uns gewesen.
Nicht, weil gerade etwas Extremes geschehen ist. Nur, weil es sich in genau diesem Moment ganz genau nach einer Extremsituation anfühlte. In solchen Momenten sind wir wirr und flackern wie die Poltergeister zwischen absolut basischer Existenz, die uns in ein animalisch anmutendes Sein fallen lässt, und einer Mischung von sowohl überdeckender als auch schützend- abwehrender Rationalität jeder jemals in den Kopf eingebrachten Überzeugung.
Wir werden zu einer Chimäre, die sich wie das Wachs einer Lavalampe immer wieder verändert. Es ist Stasis und Anpassung in einem- zusammengestückelt und nicht in der Lage sich der Gesamtsituation als solcher anzupassen.
Da ist der Schmerz- er ist da- doch auch wieder nicht, denn die verursachende Verletzung ist schon über 20 Jahre verheilt. Da ist Hunger und ein Isolationsgefühl- doch ein voller Kühlschrank, Tageslicht und die Möglichkeit sich zu bewegen. Da ist das begangene „Verbrechen“ und da aber viele Stimmen, die sich positiv dazu äußern.

Und in all das hinein kommt etwas ganz Neues: ein Mensch der real für uns da sein will.
Allein das ist für uns schon so krass, weil es in jedem dieser, gerade in dem Moment gefühlten, Umstände entweder erst gar keine Menschen gab- oder nur Menschen die uns verletzt haben. Und es sind auch entsprechend nur Innens „da“, die genau davon ausgehen.
Die Gemögte, die gestern kam, schrieb mir heute morgen, dass es sie immer wieder schockiert, dass sie in solchen Zeiten am Telefon mit uns Alltagsleuten sprechen kann (die relativ gefasst in Worte fassen können was mit ihnen passiert)- es aber sofort kippt, sobald sie dann vor uns steht. „Ich sehe wie euer Körper sich fast augenblicklich in diese verkrümmte Haltung zieht und die Pupillen aufspringen. Das ist so krass immer wieder.“

Wir haben mit der Zeit bemerkt, dass es uns hilft, wenn sie „über uns drüber“ agiert – aber nicht direkt mit uns.
Gestern zum Beispiel, ging sie einfach ruhig weiter sprechend durch bis in die Küche, während wir im Türrahmen des Schlafzimmers hockten. Sie begrüßte (und beruhigte) unseren Hund, räumte unser Chaos beiseite und erzählte einfach da weiter wo wir aufgehört hatten. Von der langweiligen Bildungssache, die sie verlassen hat; was sie gerade tut; wieso sie gekommen ist und was sie jetzt machen wird und womit und warum. Als würden wir antworten und als sei das hier jetzt gerade die normalste Sache der Welt. Sie schaut uns nicht an und erwartet keine Antwort- macht aber immer wieder Nischen frei in die wir einsteigen könnten.

In solchen Momenten mit Reorientierungsskills und was weiß ich zu kommen, würde nur schief ankommen- es passt nicht in die Situation- ist nicht erlernt, wie wir Frontgänger das gelernt haben. Die Reorientierung passiert durch genau die Möglichkeit festzustellen, dass der normale Lauf der Dinge gerade ein ganz Anderer ist.
Allein dadurch, dass dort jemand (aus sicherer Entfernung beguckbar) steht und eben nicht direkt mit uns interagiert, passiert schon eine deutliche Markierung die zu trennen hilft.

Für mein Gefühl passiert die Hilflosigkeit der Außenstehenden oft dadurch, dass sie sich machtlos fühlen. „Ich kann nicht machen, dass sie mit mir in ein Gespräch und darüber in ein Gefühl und darüber dann einen anderen Zustand kommen“. Da wird die Macht der Normalität oft sehr unterschätzt und an einem Niveau angesetzt, das oft(noch) gar nicht da ist. Es wird dann oft davon ausgegangen, dass es erträglich ist zu sprechen (dass man es in dem Moment überhaupt kann oder es von innen überhaupt erlaubt ist) oder auch: dass es überhaupt aushaltbar ist Gefühle zu spüren bzw., dass da eine Sicherheit im Umgang damit ist oder auch immer wieder gern genommen: dass wir überhaupt wissen, was das da für ein Gefühl (oder auch Innen) ist.

Tatsache ist für uns immer wieder, dass unsere Gemögten dann nicht hilflos sind. Sie fühlen sich nur so, weil sie nicht bewusst haben, dass allein ihr da sein, schon Hilfe sein kann. Einfach nur feste, klare, sicher ruhige Anwesenheit ist mir schon so oft mehr Hilfe gewesen, als ein gereichter Igelball, offene Arme zum Reinweinen oder ein aufgezwungener Dialog, der meine Aufmerksamkeit in die Gegenwart fesseln soll.
Ja ich verwende hier „aufgezwungen“ und „fesseln“ sehr bewusst- weil sich für uns genau solche Dinge oft, wie „Verhelfgewaltigung“ anfühlen. Der Imperativ und Hilfe schließen sich für uns gegeneinander aus. „Ich will, dass du jetzt…!“, „Mach jetzt…!“, „Fass XY an!“, „Spüre ABC!“. Diese Sätze haben wir oft in anderen Zusammenhängen gehört und es gibt ein Umschalten auf genau diesen Modus. Aber keine Orientierung und erst recht kein Ankommen in einer Gegenwart, in der wir uns gleichberechtigt mit unserem Gegenüber erleben können (und damit „sicher“ im Sinne von „geschützt“- da wir uns nie auf anderer Menschen Schutz verlassen, ist es unabdingbar für uns, uns jederzeit in der Lage zu fühlen, uns immer selbst in Sicherheit bringen zu können).

Inzwischen dauert es bei uns nicht mehr sehr lange bis jemand „da“ ist, der diese Gegenwartsmarker erkennt. Früher waren es auch mal Stunden, in denen unsere Gemögte „Normalität spielen“ musste bzw. es irgendwann einfach so auch tat, weil ihr das „so tun als ob“ zu anstrengend wurde und ihr klar wurde, dass sich dadurch nichts verändert. Sie fügte sich in ein (für sie gefühlt passives) Da(bei)sein und wurde dadurch gleich viel weniger bedrohlich und plötzlich auch ansprech-annehmbar für uns.

Hinter meiner Ablehnung von Gefühlen bedürftiger Innens steht unsagbare Angst vor Kontrollverlust. Nicht nur die Angst vor „Himmel- wie das jetzt wirken muss!“, sondern auch vor „Kann mein Gegenüber überhaupt aushalten, was ich da so viel mächtiger, als ich mich selbst, fühle, wahrnehme?“ und dem realen Kontrollverlust in Form von dissoziativer Amnesie durch „Anwesenheit“ eines anderen Innens und dem was es erzählt (denn das bedeutet für mich: das Gegenüber weiß etwas über mich, das ich selbst nicht weiß).
Das heißt aber nicht, dass meine Gemögten deshalb hilflos meiner Not gegenüber sind. Sie sind nur machtlos gegenüber meiner Verweigerung Kontrolle (mich) abzugeben, damit sie mir meine Not abnehmen können. Sie „aktiv meine Not behandeln können“.
Ganz fies ausgedrückt: Sie müssen nur damit klar kommen, dass ich meine Fähigkeit mich zu schützen und für mich zu sorgen „höher/ besser“ einschätze, als das, was sie für mich tun können- egal ob das aus objektiver Sicht stimmt oder nicht. In meinem Gehirn läuft eine Hilfe, die sich schon zig mal mehr bewährt hat, als das was mir Helfer angetragen haben- das anzuerkennen ist etwas, dass ich inzwischen von Helfern und Gemögten tatsächlich verlange. Sie müssen es nicht glauben und bestätigen- aber hinnehmen und anerkennen definitiv. Ich erkenne ja auch ihre Hilfsmöglichkeiten an und respektiere den Rahmen in dem sie sie bieten können.

Sie können mir, trotz aller Abwehr, noch eine Bereitschaft vermitteln, dass sie es aushalten könnten. Dass sie keine Angst vor dem was mir so diffus beängstigend übermächtig vorkommt haben. Sie können trotzdem da sein- präsent und verankert sein. Sie können mir trotzdem, da wo ich fassungslos- sprachlos- wirr bin, einen Rahmen in Verbalisierung (oder allgemeiner: Kommunikation) und Sortierung bieten. Sie müssen nur aushalten, nicht zu wissen, ob ich es auch tue und ob mir ihr mächtiges Handwerkzeug auch wirklich hilft.

Das wird, meiner Meinung nach, viel zu oft auch falsch in der Ausbildung zum Helfer beigebracht. Dort wird gelernt, dass man die und die Technik- das und das Handeln (Katalog XY) abspulen muss, um zu helfen. Das mag auf einer handwerklichen Ebene stimmig und wichtig sein (zum Beispiel für Chirurgen oder so) aber sobald ein Miteinander nötig ist, ist es oft eher die Fähigkeit auch einfach mal die die Hände vor den Mund zu nehmen (und da zu lassen), mit dem Herzen zu hören und mit dem Körper und dem Sein _da_ zu_sein_, die wirklich als hilfreich ankommt.

Viele Helfer lernen früh abstinent zu sein. „Grenzen sie sich ab“ heißt es dann ganz viel und direkt wird eingeübt, sich komplett aus einem entstehenden Miteinander herauszuziehen, statt diesen ganzen (zu dem Zeitpunkt ja total jungen!) Menschen erst mal Gelegenheit zugeben, ihre Grenzen für sich allein zu spüren und zu festigen. Zu merken: Ja, wann genau ist Nähe zum Klienten eigentlich eine Belastung für mich? In dem Moment in dem ich ihm zuhöre und Stress von meinem Arbeitgeber bekomme, weil ich zu viel Zeit investiere/ mir unterstellt wird, ich würde keine Distanz wahren etc.- oder in dem Moment in dem mein einstudierter Katalog nicht mehr greift und ich mich machtlos fühle- obwohl doch mein Studium mir genau beigebracht hat, wie ich Menschen ausrechnen, einkategorisieren und doch irgendwie auch manipulieren kann? Oder in dem Moment in dem mir klar wird: „Ja, jetzt ist Passivität gefragt und ich habe noch nicht gelernt, diese zu praktizieren.“? Oder ist es tatsächlich doch der Moment, in dem ich keine Grenze mehr ziehen kann zwischen meinen Empfindungen und denen meines Gegenübers?

Das was ich da gerade miterlebe (eine unserer peripheren Gemögten ist derzeit in der Ausbildung zum Psychotherapeuten) ist eine Dauerbeschallung in: Grenzen sie sich ab – ohne genauere Definition dessen oder Handlungsalternativen zum Katalog der Schemen F bis K. Die Hände in den Schoß zu legen und einfach nur da zu sein- zu warten bis der Klient tatsächlich und wirklich von sich aus Kontakt aufnimmt, wird gar nicht gelehrt.

Eine unserer Gemögten hat mal gesagt, sie sei dankbar, dass wir diese tierisch-niederen Anteile haben, weil es für sie keinen besseren Augenöffner hätte geben können. Sie musste warten, warten, warten. Wusste- würde sie konfrontativ agieren, würde sie verletzt, wusste aber auch, dass diese Anteile nur da waren, weil es eine extreme Bedürftigkeit gab, die nichts mit ihr zu tun hatte (das kommt ja auch gerne mal- die Nummer mit: Sie werden von ihrem Gegenüber manipuliert, damit sie ihm Aufmerksamkeit schenken …). Für sie war es ein Lehrstück in Sachen: Du gestaltest die Realität in der du bist.
Sie hatte damals einfach nur etwas getan, dass für diese Anteile früher niemals jemand getan hat: sie hat sie nicht angefasst, nicht angestarrt, ihnen Zugang zu Licht, Wasser und Nahrung gewährt und sonst nichts. Das hat schon gereicht, um Hilfe zu sein. Es war ein deutlicher Marker und entsprechend gab den Versuch sich an die so gestaltete Realität anzupassen (es gab einen Wechsel zu anderen Innens).

Sie musste gar niemanden halten- sie musste „nur“ aushalten, dass wir vor langer Zeit etwas nicht ausgehalten haben und, dass sie dies nicht rückgängig machen und von uns nehmen kann.

Ich schrieb in dem letzten Artikel, dass es ein Warten auf die Tränenexplosion ist.
Auf die Frage von Vi schrieb hier bei mir jemand: Ja was glaubt sie denn wer da weinen würde? Sie glaubt doch nicht ernsthaft, dass da jemand weinen würde, der damit klar käme und darauf vertrauen würde, dass da Hände sind, die nur halten (nicht anfassen und weh tun) wollen?!
Wieso erkennen so viele nicht an, dass sie uns (jenen die die Türen zuschmeißen) erst mal zugestehen müssen, die Bestimmer zu sein und sie uns erst mal davon zu überzeugen haben, dass das auch wirklich klar geht alles und, dass wir uns erst mal sicher sein müssen, das auszuhalten- ohne dass sie gleich denken, dass es an ihnen liegt oder so?

Ich kann mir grob vorstellen wie das sein muss, zu wissen: „Boa die Rosenblätter die sind nur noch grüner Flattersalat: denen gehts schlecht. Und dann beißen sie mich auch noch, wenn ich ihnen sage, dass ich sie mag und ich sie aushalte und sie bei mir ruhig weinen dürfen. Sie schubsen mich ja richtig weg- als würden sie mich gar nicht mögen und als sei ich total inkompetent…“
Ich weiß aber auch, dass wir hier schon solche Szenen von Hilfe durch Halt, Trost und Nähe erlebt haben- eben immer dann, wenn wir die ganze Zeit bestimmen konnten und uns in dem was wir taten selbst sicher waren.

Es hilft mir, wenn ich Helfer habe, bei denen ich den Eindruck habe, einfach sein zu dürfen, weil sie einfach sind. Zeigen sie mir reale Normalität mit allen guten und auch furchtbaren Gefühlen, traue ich mir meine Normalität und auch Gefühle hinter dieser Tür zu zeigen und anzuschauen. Zeigen sie mir, dass sie sich trauen, das auszuhalten, dann traue ich mich das auch…

Hilfe ist was hilfreich ist- nicht was als hilfreich irgendwo dargestellt wird.
Hilfreich ist was hilft und manchmal ist genau dies einfach nur das, was früher in Zeiten der Gewalt fehlte: Jemand der helfen wollte, sehen wollte, verstehen wollte… da sein wollte.

ein paar behinderte Gedanken zu Menschen mit Behinderungen und Behinderungen an sich

Morgen haben wir einen Termin in der Abendschule.
Es geht darum sich vorzustellen, seine Bewerbung, seine letzten Zeugnisse und Unterlagen zur Person abzugeben. Es wird darum gehen zu schauen, ob wir dort sein können, was wir für Unterstützung bekommen können, was für Anforderungen gestellt werden.
Ich bin schon angekritzt darüber, nicht einfach nur meine Unterlagen dorthin schicken zu können und dann nur noch auf einen Anmeldebestätigung warten zu müssen.
Aber wir fallen aus den Aufnahmekriterien heraus, also bleibt uns keine andere Wahl.
Voraussetzung ist eine abgeschlossene Berufsausbildung und 2 Jahre Arbeit, sowie Arbeit oder ein zu versorgendes Familienmitglied nebenbei.
Tja, damit können wir leider nicht dienen- und wenn wir es könnten, würden wir uns sicher nicht noch mal 3 Jahre Abendschule geben.

Ich fand mich richtig gut in dem Telefonat mit der Sekretärin. Ich war sachlich, logisch und nicht defensiv.
Ich sagte, ich hätte gerne einen Termin mit dem Schulleiter, um abzuklären ob und wenn ja was für Möglichkeiten es für mich gibt, auch mit meiner Schwerbehinderung (Bumms! Ich habe das Wort gesagt!) teilnehmen zu können und wie die Lage in Bezug auf Unterstützung von Seiten der Schule aussieht.
Die Sekretärin gab mir einen Termin und stellte dann die Preisfrage: „Darf ich Sie fragen- sitzen Sie im Rollstuhl?“. Ich antwortete, das sie mich natürlich fragen darf und, dass ich nicht im Rollstuhl sitze.
(Btw: Was ist das bitte für eine Sprachführung?! Den Rest des Tages fragte ich mich, ob sie mich nur fragen wollte, ob ich einen Rollstuhl benutze oder, ob sie mich fragen wollte, mich etwas zu fragen zu dürfen und dann die Frage nach der Behinderung stellte, und ob ich nun richtig reagiert hatte oder nicht.)

Es ist eine kleine Episode. Total normal und nicht schlimm.
Aber wieder kreiseln in meinem Kopf viele Gedanken wüst hin und her.
Da ist zum Beispiel der Gedanke zum „Standartbehinderten“ in der breiten Masse.
Ich bin mir nicht sicher, aber viele Menschen auf die ich so treffe, oder gerade so in Bezug auf normierende Bürokratie, wie jetzt zum Beispiel in der Verwaltung der Schule, scheint es die Verknüpfung: Schwerbehinderung= das Plakat von „Aktion Mensch“ zu geben.
Schwerbehinderung, das heißt, Rollstuhl, Blindenführhund, Gebärdensprache, eine futuristische Prothese oder die spezifische Physiognomik von Menschen mit Down-Syndrom. Schwerbehinderung das heißt: „Himmel wie kommt der Mensch bloß klar?! Der muss ja total viele Sachen im Alltag anders machen. Der braucht ja richtig viel Hilfe, weil er was nicht kann, was sein Körper (und hier biologistisch eingeflochten der „Geist“ wie der derzeit einzig ausmessbare Intellekt falsch benannt wird bei „geistiger Behinderung“) ihm verweigert.“
Schwerbehinderung heißt auch: „Boa guck mal, was der Mensch TROTZDEM (nicht etwa MIT) kann.“ Heißt auch: Aussagen von den betreffenden Menschen „Ich leide nicht unter meiner Behinderung- ich leide darunter, wie meine Umwelt mit mir umgeht.“. Heißt immer und immer und immer: anders als „DIE ANDEREN“.

Nun ist es so, dass man, wenn man länger als 6 Monate an der gleichen Sache erkrankt ist, als chronisch krank gilt. Und damit ebenso als schwerbehindert.
Und Peng!- steht man vor einer Gruppe von Menschen mit Behinderungen die sogar „anders als die anderen Schwerbehinderten“ ist.
So wie ich.

Für mich ist es eine Bombenhürde zu diesem Termin zu gehen. So bombig, dass ich den Termin höchstwahrscheinlich nicht einmal erinnere. Der Besuch der Schule ist für ich eine Ansammlung von Barrieren, die nicht weggeräumt werden können (und um Himmels Willen auch nicht sollen), um mir den Zugang zu erleichtern. An mein reflexhaftes Umschalten auf Todesangst und in der Folge anpassendes Dissoziieren, kann man weder Rampe, noch Bildtafel, noch Audiomitteilung, noch leichte Sprache dran stellen, um sie (wenigstens in Teilen) zu kompensieren. Ich kompensiere ja selbst bereits in der Situation und breche erst nach einer Überbeanspruchung dieser Fähigkeit zusammen und werde handlungsunfähig. Erst dann kann ich Unterstützung erhalten.
Ich kann sehr gut verstehen, warum es dann schwer fällt, mich als „jemand mit grünem Ausweis“ wahrzunehmen. Wir turnen in der Schule rum, sind produktiv, motiviert, engagiert, geistig fit, aktiv und zuverlässig… bis ich vielleicht das Pech habe, von einem Lehrer in zwei Fächern gleichzeitig unterrichtet zu werden. Bis Mitschüler versuchen außerhalb des Unterrichtes mit mir Kontakt zu haben. Bis es eine Hausarbeit oder ein Projekt über einen Zeitraum wie die Ferien gibt. Bis es außerhalb des Schulkontextes eine so schwere Krise gibt, dass die Somatik sogar bei den Schulgängern ankommt. Also bis zu ziemlich genau dem Zeitpunkt in dem unser Kompensationsmodus zur Kompensation des Gesamtzustandes werden muss.
Es ist gut, wenn ich zum Beispiel jetzt in der Schule einen Menschen habe, dem ich das so erkläre und mit dem ich Absprachen treffe, die mich davor bewahren, mich vor Lehrkräften auch noch erklären zu müssen oder indem sie mich nicht rausschmeißen, weil ich dauernd fehle, mir den Stoff nach Hause bringen oder ein Pauschalattest für Fehlzeiten akzeptieren und mir Gelegenheit geben Tests nachzuholen.
Doch mit der Kompensation der Behinderung selbst bleibe ich auf eine Art allein, die unsichtbar und der als Krankheit bezeichnete Zustand ist. Man sieht sie von außen nicht, man merkt sie mir nur an, wenn man drauf achtet und sogar ich selbst kann dies erst formulieren, wenn ich nicht mehr mehr genau dort in der Schule sitze, sondern hier bei mir zu Hause. Dann nämlich, wenn ich hier sitze und halbgeist-kopfig Hausaufgaben zu erledigen versuche, die ich nicht verstehe und einen Tag nachzuvollziehen versuche, den ich nicht gelebt habe.

Ich könnte nun auch sagen: „Ja ich leide ja nicht unter meiner Behinderung- meine Umwelt geht nur falsch mit mir um“. Das stimmt ja aber nicht. Meine Umwelt geht total richtig und entsprechend mit meinem Verhalten und Wirken mit mir um. Was kann denn meine Umwelt dafür, wenn mein Gehirn nicht für diese Normalität ausgerüstet ist und mein Verhalten und Wirken eben nicht mit MIR(in jedem meiner Zustände) zusammen passiert?
Meine Umwelt hat gar keine andere Chance als für mich unpassend zu sein und ich bin dankbar dafür. Doch das ist etwas das konträr zur stetigen Forderung steht, Barrieren für Menschen mit Behinderung abzuschaffen. Meine Barriere bin in erster Linie mein Erleben meiner selbst (und meiner Umwelt) und erst dann die ungünstigen Normen und Bestimmungen außen.
Wir könnten ja auch das Abitur im Fernlehrgang machen. Ich bin aber abhängig davon in diesen „Schulgängerzustand“ zu geraten, um Zugriff auf das Schulwissen der Abendrealschule und der Schulen zu erhalten. Ich bin also abhängig davon „unter meiner Behinderung zu leiden“, weil ich sonst gar nicht erst die Chance auf Bildung und damit dann später vielleicht ein Studium und noch später vielleicht einen Beruf und damit dann endlich Unabhängigkeit habe.P5310032

Ich stelle mir viele Fragen rund um die Themen der Menschen mit Behinderung und fühle mich dabei behindert.
Da sind die Normen der Leistungsgesellschaft und da die Kritik und die Änderungswünsche derer, die ihnen nicht entsprechen können.
Da ist der Nutzen von pränataler Diagnostik und da die 95% der Fälle von Abtreibung der Föten mit nachgewiesener Wuchsrichtung jenseits der Norm.
Da ist der Ruf nach Inklusion und da das Unterstreichen (müssen) von Andersartigkeit.
Da ist das Leiden und da die Verneinung eines solchen.
Da ist das Versprechen mehr für Menschen mit Behinderung zu tun und da die Förderung von Werkstätten in denen des schlechte Bezahlung und keine Aufstiegschancen gibt.
Da gibt es die Entwicklung von bionischen Prothesen und da die strukturelle Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen, die dafür sorgt, dass sie nie genug Geld für genau diese Prothesen haben werden.
Da gibt es den Beruf des Inklusionshelfers und da aber die Ablehnung von Bewerbern darauf, die selbst einen grünen Ausweis haben. (Boa! Ich hab mich so so so sehr darüber geärgert!)

Manchmal bin ich froh darum, dass wir mit vielen Menschen „anderer Wuchsrichtung“ zusammen gelebt und mit ihnen zusammen gearbeitet haben. Auch wenn wir natürlich keine globale Ahnung von ihrer Lebensrealität haben, haben wir so doch das Bewusstsein, dass die Menschen mit Behinderungen sind- nicht „Behinderte“.
Doch komme ich nicht umhin mich doch noch anders zu fühlen.
Ich bin bis jetzt die einzige Multiple, die ich kenne, die sich diese Störung als Schwerbehinderung hat anerkennen lassen.
Ich hätte es auch anders machen können. Aber in einem Anflug von politischem Trotz war es wichtig für uns gewesen, zu unterstreichen, dass die erlebte Gewalt so schwer war, dass die Folgen heute uns so sehr beeinträchtigen, wie das Fehlen einer körperlichen Fähigkeit.

Es war gut und richtig das zu tun. Wir lassen uns in der Hinsicht nichts anderes mehr sagen, weil es für uns bedeutet hätte, wieder etwas unsichtbar zu machen, wenn wir das nicht getan hätten.
Aber es war auch das Übernehmen einer Aufgabe, die ich mit allen Menschen mit Behinderung teile: Das Eingestehen und Vermitteln meiner (hochprivaten) Probleme an Menschen die genau dieses oben benannte Bewusstsein nicht unbedingt auch haben.
Eine Aufgabe, an der ich, als Innen in diesem Einsmensch hier, genau wegen dieser Probleme scheitern werde.