note on “Ella Schön”

Anfang des Jahres wurde die ZDF “Herzkino”-Serie “Ella Schön” mit zwei Teilen erstmals online gestellt.
Aufgrund hoher Sichtungen wird diese Reihe fortgesetzt.

Wir haben uns Teil 1 “Die Inselbegabung” und Teil 2 “Das Ding mit der Liebe” angesehen.

Zugegeben – hohe Erwartungen hatten wir nicht.
Zum Einen, weil es eine ZDF-Produktion ist und wir in der Regel nicht zur Zielgruppe dieses Kanals gehören. Zum Anderen, weil wir natürlich die kritischen Tweets von ~”Autismus-Aktivist_innen”~ mitbekommen haben, als der erste Film angesehen werden konnte.

Und doch: uns haben sie gefallen und wir freuen uns auf die Fortsetzungen.

Worum geht es?

Kurz gesagt geht es um Ella, deren Ehemann verstorben ist. Dieser Ehemann hat auch mit Christina zusammengelebt und zwei Kinder mit ihr gehabt. Nach seinem Tod will Ella das Haus verkaufen, in dem Christina lebt.
Aus dieser Konstellation ergibt sich ein Handlungsstrang, der davon geprägt ist, dass Ella anders kommuniziert als Christina (und viele andere Menschen) und viele unterschiedliche Interessen aufeinander treffen.

Auch der zweite Film lebt von dieser sozialen Konstellation und einer Geschichte voller kleiner und großer sozialer Konflikte.

Die Filme funktionieren. Egal, wie Ella ist oder nicht ist.
Und das macht sie gut für uns.

Ella lebt mit dem Asperger Syndrom und wird als klare, strukturierte Person mit wenig Mimik und präziser Sprache dargestellt.
Ja, das ist ein Stereotyp. Ja, das ist etwas, das nicht alle Menschen, die mit Asperger bzw. auf dem Autismusspektrum leben, repräsentiert.
Das ist für viele nicht schön, das ist nicht realistisch. Das ist Fernsehen, das ist Fiktion.

Und es hätte noch viel schlimmer kommen können.

Das ist zwar nichts, wofür man, insbesondere als selbst mit Autismus lebende Person, dankbar sein sollen müsste, aber doch. Es gab und gibt schon weitaus schlimmer verzerrende Filme, in denen autistische oder popkulturell aufbereitet “socially awkward like autistic” Charaktere dargestellt wurden und werden.

Ella Schön ist eine konzentrierte, beherrschte Person, was Anette Frier, unserer Ansicht nach, großartig spielt. In dieser Figur sind außerordentlich wenig “weirde” Quirks verpackt, was sehr dazu beiträgt sich für die Geschichte zu öffnen.

Ihr Autismus kommt in Form einer Erklärung weshalb sie keine Rechtanwältin ist, zur Sprache und danach nie wieder von ihr selbst. Ein anderes Mal sagt Christina so etwas wie, Ella hätte einen Knall mit ihrem Asperger-Quatsch. Und das wars. Es gibt keine Szene, in der die Leute zusammensitzen und erst mal erklärt bekommen, was das ist und was sie deshalb alles kann und nicht kann.
Ella äußert selbst was ihr Schwierigkeiten bereitet – und lässt dabei offen, ob es einen Zusammenhang mit dem Asperger-Syndrom gibt, oder nicht.

Ich halte das für näher an der Realität autistischer Erwachsener, als vieles andere und einen weiteren Pluspunkt an den Filmen.

Es gibt noch mehr Szenen und Aspekte, die ich als in dem Film sehr nah an der Realität befindlich dargestellt einordne. Beispielsweise Ellas berufliche Situation. Sie arbeitet in einem Callcenterbüro, statt in einer Anwaltskanzlei, weil sie das Referendariat nicht abgeschlossen hat. Sie hat einfach keine Kanzlei gefunden, in der sie das schaffen konnte. Im Laufe des Films trifft sie auf den Anwalt der Insel, der beeindruckt ist von ihren fachlichen Fähigkeiten und ihr die Möglichkeit gibt, bei ihm das Referendariat zu machen.
Das ist eine, wie ich das nicht erst seit der eigenen Diagnose und Recherche immer wieder beobachte, Situation die für erwachsene Autisten (und andere behinderte Menschen) auf die eine oder andere Art zukommt. Der Umstand, dass es selten bis nie darum geht fachlich, sachlich etwas nicht zu schaffen oder zu können oder lernen – sondern immer wieder darum, diese Dinge nicht so und nicht dort machen zu können, wie von etablierten Strukturen und Normen definiert.

Es wird sichtbar was für ein Glück und damit unsteuerbares, unkontrollierbares, unselbstherstellbares Geschehen für so oder auch anders behinderte Menschen von Nöten ist, um berufliche Teilhabe und Aus_Bildungschancen zu erhalten.

Der Anwalt in dem Film erinnert mich sehr an all die Lehrer_innen, Freund_innen und Unterstützer_innen in unserem Leben. Er ist beeindruckt von Ellas Können und hat keine Zweifel an ihren Kompetenzen, allerdings auch keine Idee davon, was sie braucht, um immer wieder entstehende soziale Schwierigkeiten zu lösen.

Auch das ist ein sehr realistischer Anteil an dem Film. Wie die Menschen versuchen Ella zu helfen, ohne, dass sie helfen. Sie sagen ihr, was sie tun soll und was erwartet wird. Sie sagen ihr “Hier macht man das so”. Den letzten Dreh, den es braucht damit die Anpassung nahtlos klappt, schaffen weder Ella, noch die Menschen um sie herum. Es bleibt eine Kante. Ein Unterschied. Etwas, das wie ein Anderssein von Ella zu lesen ist, aber doch nie mehr wird, als eine Facette, die Normalität auch haben kann.
Ella ist kein Sonderling. Sie wird nicht ausgegrenzt. Man findet einen Umgang miteinander, in dem das Andersalsüblich das Geschehen mitgestaltet, wie alles andere auch.

Die Filme schaffen es dem Roboterstereotyp, das derzeit gerne genutzt wird, um Menschen mit Autismus darzustellen, eine Ebene an die Seite zu stellen, in denen Ellas Gefühlswelt sehr viel Raum gegeben wird.  Die gewählten Bilder dieser Szenen haben eine sehr klare, strukturierte Ästhetik, trotz der stärkeren Dynamik darin.
Ella muss nicht weinen, um sich schlagen oder schreien, wenn sie verzweifelt oder traurig ist, um vom Zuschauer als verzweifelt oder traurig gesehen zu werden. Das ist, was nur Film kann und hier sehr schön genutzt wurde.

Was erwartet die Zuschauer_innen noch in diesen Filmen?

Wunderschöne Ostseebilder. Viele Szenen am frühen Morgen und späten Nachmittag. Ostseeklischees, wie ein Chantychor und Fischer in hohen Gummihosen, damit man auch ja nicht vergisst, wo der Film spielt.
Es gibt eine angenehm unterstützende, jedoch nicht treibende Filmmusik, die Ellas Geradlinigkeit genauso wie die bunte Funktionsquirligkeit von Christina und ihrer Familie unterstützt.

Auch schön: Christina ist schwanger und natürlich wird das Kind noch in dem Film geboren. Allerdings weitaus undramatischer, als man das von Filmgeburten so gewohnt ist.

Und selbstverständlich muss sich Ella noch verlieben. Das ist ja der heiße Scheiß. Autist_innen und Liebe.
Dieser Strang beginnt im ersten Film peinlich und klischeehaft, wie zu befürchten war, nimmt im zweiten jedoch einen weitaus realistischeren Verlauf und gibt sowohl Ella als Charakter, aber auch Christinas Beziehung zu ihrem besten Freund mehr Tiefe.

Wie gesagt: wir verstehen die Kritik von Aktivist_innen an den Filmen und stimmen damit in Teilen überein.
Jedoch bietet die Filmreihe zum Einen für uns viele Szenen des Alltags, die wir mit anderen Menschen anschauen können, um über das gemeinsame Miteinander zu sprechen und zum Anderen habe ich den Eindruck, dass viele Kritiker_innen schneller mit ihrem (oftmals scheinbar schon von vornherein bestehendem) Urteil waren, als mit der Analyse unter Berücksichtigung des Kontextes, in dem Filme konzipiert und produziert werden.

Denn: Natürlich können und sollten konkret Betroffene sich darüber äußern, wie Menschen, die etwas mit ihnen gemeinsam haben, in Film und Fernsehen repräsentiert werden.
Doch dann ist es zu spät. Der Film ist fertig und veröffentlicht.
Solcherlei grundlegende Kritik an Filmen zu äußern, halte ich für medienwirksam, jedoch nicht konstruktiv.
Was es braucht ist meiner Ansicht nach auch nicht “mehr Aufklärung”, wie es Herr Knauerhase, der seinerseits Geld damit verdient Menschen über Autismus aufzuklären, in einem Interview vorschlägt.

Aufklärung kann nur erfolgreich sein, wenn ihr Fehlen als behindernd an_erkannt ist.
Das heißt: Wenn jemand von mehr Information auch wirklich profitieren kann.
Da kommt der Kontext des Filme- und allgemein Medienmachens für mich ins Spiel. Es ist nämlich keine Hürde schlecht über Dinge informiert zu sein, wenn man eine Geschichte erzählen möchte. Es ist weder verboten noch sonstwie hinderlich für Einschaltquoten oder Auszeichnungen, Scheiße produziert und veröffentlicht zu haben.

Bei der Produktion von Film und Fernsehen geht es nicht um reale Personen. Es geht bei Ella Schön nicht um “die Autist_innen” oder “den Autismus”. Es geht um die Geschichte, um Geld, um filmisches Handwerk.
Das muss nicht so akzeptiert werden. Das ist keine Legitimation für eine Repräsentation, die falsch oder stereotyp ist und sehr viel Antistigmatisierungsarbeit zunichte macht.
Aber das sind Aspekte, die aufzeigen, wo die Wurzeln der Rollenklischees auch ihre Nahrung herbekommen und damit ebenfalls etwas, wo Kritik gleichsam ansetzen sollte, um Veränderungen anzustoßen.

Und was bitte nicht vergessen werden darf: Ja, nicht alle Autist_innen sind wie Ella Schön.
Aber manche eben doch. So viel Differenzierung muss sein. Vor allem, wenn man sich schon dafür stark macht immer wieder zu sagen, dass Autismus ein Spektrum ist und also jede_r Autist_in anders.

Eine abschließende Bemerkung.

Wir schauen ungern fiktionale Filme. Außer Superheld_innenfilme und Science Fiction.
Soziale Schnörkelgeschichten wie Liebesdramen oder solche Geschichten, wie die um Ella Schön, sind uns zu undurchsichtig, irritierend, letztlich auch oft unverständlich.
Durch den Charakter der Ella Schön und ihre Reaktionen, Fragen und Konflikte, fiel es uns sehr viel leichter dem Geschehen der Filme zu folgen und auch emotional mitzuschwingen, als Filmen, in denen wir als Zuschauer_in allein mit diesem Konflikt bleiben und ihn nicht aufgelöst bekommen, weil entscheidende Informationen mit Nahportraits von uneindeutigen Gesichtsausdrücken oder Körperhaltungen vermittelt werden, statt mit klaren Worten bzw. Dialog.

Für uns ist diese Filmserie also auf dieser Achse ein Gewinn. Wir konnten einer Geschichte folgen, die wir ohne den autistischen Charakter darin, vermutlich nicht so verstanden hätten.
So kann barriereärmeres Fernsehen also auch aussehen.

der Nichtschweigeskill

Wir gehen gerade mit einer Situation um, in der eine Person etwas über eine andere Person behauptet und sich das weiterträgt. Gossip, Klatsch, Rufschädigung, Gerüchtestreuung. Sowas in etwa.

Wir haben nicht oft mit solchen Dingen zu tun, denn die meisten Leute, die uns so etwas antragen, tun das in der Regel nur ein Mal. Mit uns macht sowas einfach keinen Spaß, denn wir reden mit möglichst mit allen Leuten gleich, sind froh, wenn wir nicht vor den Einen dieses und vor den Anderen jenes sagen müssen, um mit ihnen Zeit verbringen zu dürfen. Wir haben keine Kraft dafür, denn es kostet uns schon Kraft uns zusammenzuhalten. Mitzukriegen, wer von uns mit wem was wie laufen hat – das können wir im Außen einfach nicht tragen. Vielleicht mal kurz, wenn eine Situation das erfordert, aber selbst dann brauchen wir Leute, denen wir sagen können, dass wir da grad was tragen, damit wir das schaffen.

Jedenfalls.
Diese Situation und das was sie macht, erinnert mich an Schweigegebote.

Schweigegebote haben für uns mit “mitmachen” zu tun. Gebote sind für uns Regeln, denen man zu folgen strebt.
“Sag nichts, dann passiert irgendetwas, wofür sich das lohnt/ passiert was Gutes/Wichtiges/Richtiges”.
Das heißt: man verspricht sich etwas davon oder bekommt etwas versprochen.

Im alltagsgewaltvollen Umgang bedeutet das, dass viele Leute Dinge einfach nicht sagen, weil sie sich etwas davon versprechen. Keinen Stress und akute Harmonie vielleicht. Jemandem nicht zu sagen, dass sie_r krassen Mundgeruch hat ist zum Beispiel so eine Sache. Man redet nicht darüber. Es gibt ein soziales Schweigegebot darüber. Vielleicht ist es auch ein Tabu – wobei mir dazu gerade die Abgrenzung nicht einfällt und ich eigentlich auch gar nicht über Tabus schreiben will.

Anyway.
Interessant finde ich, wenn Gewaltüberlebende/Gewalterfahrene und ihre Verbündeten (und deren Behandler_innen)so etwas miteinander machen. Die Einen über die Anderen, diese über jene und “Ach DIE also NEE!”, bei gleichzeitiger Weitergabe von so etwas wie “Aber pscht, ne?!” oder schlimmer noch: von sich selbst wegtransferierte Verantwortung für die Weitergabe von Gerüchte, Klatsch und Hörensagen über Personen, die nicht im Raum (und bereits damit konkret unterlegen!) sind.

Der Klassiker ist da das Gerücht ohne Urheber_in.
Dem kann man nichts entgegnen, man kann evtl. zugrunde liegende Missverständnisse oder Fehlinformationen nicht aufklären. Als Opfer/Ziel von einem Gerücht ohne Urheber_in ist man maximal ohnmächtig und soll es auch sein. Man soll nur die negativen Auswirkungen zu spüren kriegen und die_r Urheber_in im Schutz der Unsichtbarkeit bleiben können.

Interessant finde ich das, weil es ein Verhalten von Kindern ist, die die Schwächen/”Fehler” anderer zielsicher finden und gegen sie zu verwenden, sobald diese sie verlassen oder kränken oder verletzen oder oder oder. Solche Kinder haben meistens lügen, tarnen, verwässern und verwischen gelernt, um zu überleben. Und das ist ein Skill. Einer, der sehr feine, gut funktionierende Antennen für soziale Geflechte und eine gewisse “akute Skrupellosigkeit” im Miteinander erfordert.
Lügen, zum Beispiel, bedeutet ja nicht nur die Unwahrheit zu sagen oder Dinge vorzugeben, die nicht stimmen – man muss in der Regel schnell sein, erfassen, wie und womit sich das Gegenüber überhaupt täuschen lässt und dann darf man die Lüge das ganze Leben lang nicht vergessen, weil man ja vielleicht immer mit der Person zu tun hat.
Deshalb nenne ich das einen Skill. Menschen so lesen zu können, kann an anderen Stellen sehr hilfreich sein.

In einer Szene, die sich zusammenfindet, weil es Menschen gibt, die andere Menschen von Kleinkindalter an belügen, verwirren, ihre Motivationen verwässern und und und, ist das meiner Ansicht nach so zynisch wie logisch.
Das Eine schließt das Andere nicht aus und trotzdem ist es bitterbitterbitter, weil das bedeutet, dass solche Zusammenschlüsse (noch) nicht als etwas gesehen werden (können), in denen neue Möglichkeiten probiert und gelebt werden können, um bewährte Fähig- und Fertigkeiten umzumünzen in etwas, das die Gewalt nicht weiterträgt.

Wir sprechen sowas immer an. Sind transparent mit dem was uns über andere Leute erzählt wird, vorrangig um uns selbst zu entlasten, denn wie gesagt: wir sind nicht gut in so etwas.
Wir erkennen den sozialen Sinn für uns nicht*, erkennen aber sehr wohl die Gewalt darin und das, was sie machen soll. Gerüchte sollen verunsichern. Niemand soll sich mit einer Person sicher fühlen – bei urheber_innenlosen Gerüchten geht es oft sogar darum sich gar nirgendwo und mit gar niemandem sicher zu fühlen.
Wie das bei Menschen andockt, die sowieso schon jeden Tag mit Angst umgehen und enorm vieles leisten, um sich sicher zu fühlen, ist denke ich klar.

Manchmal merke ich, dass unser Umgang mit solchen Sachen irritiert, Schuldgefühle auslöst oder sogar als Zeichen von Unsolidarität gelesen werden. Und dann fühle ich mich nicht nur sozial unfähig, weil ich wieder denke, dass es da vielleicht doch irgendeinen geheimen Wink gibt, den zu erkennen ich einfach unfähig bin, sondern auch noch mies, weil wir damit umgehen, wie wir damit umgehen: nicht schweigend oder verdeckend.

Wir machen das nicht, weil wir uns für ein moralisches Neutrum halten, wir machen das, weil die beste soziale Interaktion, die wir hinkriegen die dingliche/sachbezogene ist.
Wenn wir klar haben worum es geht, warum wir was wie machen und wollen und was das Ziel sein soll, dann kann es für uns auch mal emotional werden oder um Dinge gehen, die heikel sind. Aber wir brauchen den konkreten Bezug.
Und der konkrete Bezug ist Leuten, die Gerüchte oder Gossip oder auch einfach bloßen Klatsch verbreiten, meistens scheiß egal oder völlig wegdissoziiert. Die meisten Leute, die das machen, haben nicht klar, dass es um sie geht, wenn sie über andere (schlecht) reden.

Wir kennen jemanden, die_r wenn wir sie_ihn treffen, immer schlecht von Leuten redet, mit denen sie_r selbst persönlich überhaupt nichts zu tun hat. Einfach so als normaler Talk, ganz oberflächlich und manchmal auch ganz in dem Ton wie Bunte, Glamour und Bild der Frau titeln.
Wenn die Person mit den Leuten an einem Tisch säße, würde sie ihnen das nie sagen.
Durch unsere Beziehung und eben diesem Hang zum Reden über andere Leute vor anderen Leuten, habe ich Angst jemals irgendwen von den Leuten zu treffen, über die diese Person spricht. Was wenn ich sie mal treffe und dann macht sie diese Sache von der die Person so schlecht geredet hat? Darf ich dann sagen, was ich von wem darüber gehört hab? OF COURSE NOT!

Oder doch?
Wovor ich Angst habe ist, dass die Person von da an auch schlecht über mich redet. Wobei sie das vermutlich sowieso schon tut, ich bis jetzt nur noch nichts davon weiß. Sicher kann ich mir darüber nicht sein.
Gesetzt den Fall ich würde es sagen, wäre die unangenehme Situation da und das Moment, in dem eine oder vielleicht auch wir beide anerkennen müssen, dass es vor allem deshalb unangenehm ist, weil man plötzlich nicht nur mit “Verrat” oder “Gebotsbruch” umgehen muss, sondern auch damit, dass es keine Routine im gewaltfreien Umgang mit solchen Situationen gibt.

Wir sind nicht so gut in sozialer Ausschlussperformance – also: Schweigen als soziales Mittel, Leute dissen oder Leute anziehen, um sie “auf unsere Seite zu bringen”, darin sind wir ziemlich schlecht.
Was wir können sind Reflektionen, Analysen, Auseinandersetzung, Fragen stellen, Klarheit schaffen und daraus Überlegungen anstellen, was helfen könnte.
Very konkret, much dinglich.
Und: ohne Schweigen
Unser ganz eigener Nichtschweigeskill.

Ich persönlich finde das okay so.
Und ich denke, dass das vielleicht auch ein guter Skill ist. Also heute jedenfalls.
Früher war das oft nicht sehr hilfreich. Und auch heute ist es im sozialen Miteinander eher irritierend.
Aber heute bedeutet Irritation keine Lebensgefahr mehr. Wir müssen nicht schweigen und wir müssen die verschiedenen Schweigerituale anderer Menschen nicht mitmachen – auch wenn wir uns deshalb manchmal nicht gut damit fühlen, weil wir nachwievor allzu oft allein damit sind. Obwohl wir uns in Szenen bewegen, die viel von unserem Er_Leben teilen.

Aber wir sind ja nicht die einzige Person auf der Welt, der es manchmal so ergeht, oder?

 

*@mthsblgr hat uns gestern noch geschrieben, dass der soziale Sinn für manche Leute darin liegt, sich über die Abgrenzung zu anderen Menschen mit jemandem zu verbünden bzw. eine Bindung aufzubauen, ohne sich selbst sehr zu öffnen.

Da muss man erstmal drauf kommen. Für uns ergibt das keinen Sinn. Muss es ja aber auch nicht.

Fundstücke #60

Wenn ich lese, dass “der Feminismus” alle Männer zu Tätern (sigh) erklärt, dann denke ich mir den Verfasser des Textes als jemanden, in dessen Leben ich gerne einmal hineinschlüpfen möchte.
An der Stelle geht es mir nicht ums Privileg oder darum, mal zu schauen zu schauen, wie das so ist als Mann mit Dingen konfrontiert zu sein. Ich frage mich wieder einmal, wie das wohl ist, wenn man nicht von anderen Menschen traumatisiert wurde.

Ich wurde von zwischenmenschlicher Gewalt in der eigenen Familie, in Institutionen, in erweiterten sozialen Gruppenkontexten traumatisiert. Tatsächlich bedeutet heute jede Person– unabhängig von jeglichen Eigenschaften, die sie von einer anderen Person unterscheidet – für mich eine potenzielle Gefahr.
Immernoch. Obwohl das Schlimmste inzwischen schon seit gut 11 Jahre vorbei ist.

Wenn ich Sätze aufschnappe wie: “Die (Feminist_innen) erklären alle Männer zu Tätern!”, dann denke ich sofort, dass das ein falscher Satz ist. “Täter_in” ist ein Wort, das eine im Nach-etwas-das-passiert-ist-hinein-Begrifflichkeit ist. Es muss etwas passiert sein – jemand muss etwas getan haben, um Täter_in zu sein. Einfach so, pauschal kann man das über niemanden sagen. Weder über Männer, noch über Menschen, die keine Männer sind.

Das ist wichtig. Gerade, wenn es um die (feministische) Auseinandersetzung mit sexistischer Alltagsgewaltpraxis geht. Die sexistische Alltagsgewalt wird von manchen als Tat eingeordnet und bedeutet in der Folge, viele aktive Täter-, Ermöglicher-, Mittäter_innen (!) , die auch als solche benannt werden.
Ob das jetzt so nötig, ist, um Sexismus als solchen abzuschaffen, kann ich nicht abschließend sagen, aber, dass es in dem Fall keinen generellen Outcall an Männer gibt, sie seien Täter, ist an der Stelle klar. Hoffe ich.

Was ich aber auch verstehe ist, dass das ungerecht vorkommen kann.
Wenn es in der eigenen Wahrnehmung so normal ist sexistisch zu sein, zu handeln, zu denken und zu bewerten, und es zusätzlich noch eine krasse Ausnahmesituation ist im eigenen Da_Sein, Handeln, Denken und Werten kritisiert, bezweifelt, und aufgrund dessen vielleicht sogar im sozialen Rahmen abgewertet und ausgeschlossen zu werden, ja dann kann einem die Welt schon mal brennen.
Das bedeutet aber noch lange nicht, dass andere dafür zuständig sind, das wieder in Ordnung zu bringen.

Für mich sind  WWcM*-Texte deshalb interessant, weil ich darin etwas finde, das mir sehr fremd ist.
Und damit meine ich nicht den öffentlichen Ausdruck von Unzufriedenheit mit der eigenen Situation und auch nicht den Umstand, dass dort eine völlig fremde Perspektive auf etwas fassbar wird.
Ich meine die Grundhaltung zu anderen Menschen.

Für mich sind andere Menschen im günstigen Fall etwas, deren störender Einfluss auf mich, in irgendeiner Form erwartbar ist. Im ersten Moment sind sie jedoch eine Gefahr. Das ist die Macke, die man mitnimmt, wenn man von klein auf damit konfrontiert ist, dass es so etwas wie einen “sicheren Menschen” schlicht nicht gibt..

Ich habe mich noch nicht viel mit anderen Menschen beschäftigt. Keine meiner Beziehungen ging über klar eingegrenzte Miteinander-Tätigkeiten hinaus, ich habe keine Menschen im Leben, die ich in allen Alltagssituationen und Zuständen einschätzen oder verstehen kann.
Eine “tiefe innige Verbundenheit” empfinde ich zu niemandem.

Mein neutrales – nicht von Anpassungen an Traumafolgen oder allagsgewaltbedingten Sozialmustern verformtes – Interesse an Menschen habe ich erst entwickelt, nachdem ich begriff, dass in jedem Menschen ein anderer Kosmos wirkt. Da waren wir etwa 21 Jahre alt. Heute weiß ich, dass das vielen Autist_innen so geht und nichts ist, was mich zurm Psychopath_in oder gefühlskalten Egoman_in macht. Und auch nicht zum „unfähig zur Liebe traumatisiertem Opfer“.

Ich weiß heute, dass soziale Interaktion nichts naturgegebenes ist, sondern das Ergebnis eines lebenslangen Lernprozesses, der immer nur in dem Rahmen passieren kann, der individuell zur Verfügung steht..

Vielleicht ist es an der Stelle schwierig für Lesende, die Parallele zum Täter_innenvorwurf zu finden.
Deshalb schreibe ich es so:
Manchmal mache ich mir Sorgen, dass mir Ähnliches gesagt wird, wenn ich meine Sicht auf Menschen so klar ausdrücke, wie ich sie erlebe. Dass ich alle Menschen vorverurteilen würde oder, dass ich Menschen instrumentalisiere, (weil ich sie als minderwertig(er als mich selbst) einordne) oder dass ich damit aufhören solle. Als wäre das etwas, was im ersten Schritt von mir gewählt wurde und ich mir im zweiten Schritt nicht selbst anders wünschen würde.

Diese Welt, die WWcM in ihren Texten als Schreckensszenario aufmachen, ist bereits meine Lebens_Realität.
Ich kann schon immer nicht einfach sagen, was ich wirklich denke, glaube und werte, gerade weil es sexistische, ableistische, klassistische Alltagsgewalt gibt, die mir Alltagspraxen und Verhaltenskorsette aufzwingen, in denen es mir in irgendeiner Form schadet, wenn ich ausdrücke (verkörpere) wer und was und wie ich bin, denke, glaube, handle, werte.

Mich beschäftigt die Frage, wie das ist, wenn das nicht so ist.

Wie ist das die Wohnung zu verlassen und einfach keine Angst zu haben?
Wie ist das an der Straßenbahnhaltestelle zu stehen und nicht schon längst von den Umgebungsreizen bis ins Mark aufgeschürft zu sein?
Wie ist das Menschen, die entgegen kommen oder von hinten überholen, nicht darauf abzuscannen, ob ihre Hand erhoben, das Gesicht verzerrt, die von ihnen ausgehende Lautstärke auf eine_n gerichtet ist?

Wie ist das, wenn man morgens aufsteht und einfach irgendwie weiß und glaubt, dass die Welt ein Ort für eine_n ist? Vielleicht sogar nicht einmal so klar und bewusst – sondern so ganz tief drin. Ganz sicher und fest.
Ohne jeden Zweifel. Jemals.

Ist es besser? Oder ist es anders?

Wie ist dieses Normal?
Wie ist es sich in einer Welt zu bewegen, in der man selbst die Regel und nicht die Ausnahme ist – ganz egal, wo, wie, warum man sich mit wem befindet?

In meiner Vorstellung ist da unheimlich viel Potenzial.
Zeit und Raum und Kraft für Schöpferisches, für Entdeckungen, für Kunst, für Fürsorge, für die Lösung von Problemen. Das ist zumindest was ich an mir feststelle, wenn ich in einem Moment von Okaysein in der Welt und meiner direkten Umgebung bin. Dann geht mir keine Energie daran verloren, mich zu schützen oder zu rechtfertigen. Dann habe ich keine Angst vor dem was andere Menschen an oder von mir verurteilen. Dann bin ich einfach da und mache meine Dinge und die Dinge, die anderen Menschen vielleicht etwas geben.
Das ist nicht die Erfüllung – aber es ist einfach so ein Passieren und Da-Sein, von dem ich denke: „Das ist Leben.“. Einfach so.

Da ist aber auch Machtpotenzial.
Wenn man so viel Kraft zur Verfügung hat, dann gibt es vielleicht auch einen Willen dazu, sie um jeden Preis zu erhalten. Notfalls mit Gewalt. Mit jenen *istischen Gewalten, von denen unsere Gesellschaft bereits durchzogen ist.

Ich habe damals vor 11 Jahren unseren Ausstieg unterstützt, weil wir verstanden hatten, dass Gewalt unser Leben bestimmt. Damals noch mehr als heute ganz im wortwörtlichen Sinne. Wir sind für Gewalt an uns aufgestanden, nachdem wir uns mit Gewalt (mittels Medikamenten, Alkohol und Drogen) in den Schlaf gebracht haben. Wir sind zur Schule gegangen, weil die Staatsgewalt, das so vorschreibt. Wir haben unser Verhalten und Da_Sein an jenen Instanzen ausgerichtet, die uns mit Gewalt zu was auch immer zwingen konnten, wenn sie nur gewollt hätten. Jedes Wollen und Wünschen wurde mit Gewalt beantwortet – manchmal von außen, manchmal von uns selbst.

Wir haben damals gesagt, dass wir keine Gewalt mehr leben und ausüben wollen.
Und heute denke ich, dass es deshalb überhaupt nur geklappt hat. Wir haben uns als aktiv Gewalt ausübend erlebt und akzeptiert– obwohl uns damals schon Jahre und Jahre lang gesagt wurde, dass es “die Täter_innen” waren, die uns Gewalt angetan haben.
Für uns war damals klar, dass es eine sich gegenseitig immer wieder anstoßende Gewaltspirale war, in der wir uns bewegt haben – egal, wie andere Menschen (Verbündete und Helfer_innen) das eingeordnet haben.

Sich selbst davon zu entfernen und nach Alternativen zu suchen, hätte nicht funktioniert ohne dieses Bewusstsein.

So denke ich das auch in Bezug auf solche Diskursblüten wie die, mit der dieser Text angefangen hat.
Ich denke, dass es wichtig ist zu verstehen, dass selbstverständlich alle Menschen potenzielle Gewalttäter_innen sind und auf jeden Fall auch schon einmal Gewalt ausgeübt haben. Darüber darf es keine Zweifel, von dieser Annahme, darf es keine Ausnahmen geben, denn wir leben (noch) nicht in einer Gesellschaft, in der es so etwas wie Gewaltlosigkeit nicht gibt.

Das schreibe ich nicht, weil ich als Teil eines Wir in diesem Körper, die Gewalt zu der Menschen fähig sind so genau kenne und sie mir deshalb nicht mehr als friedliche Wesen denken oder glauben kann.

Ich schreibe das, weil ich fest davon überzeugt bin, dass es Diskurs wie diesen weder gäbe noch bräuchte, wären Menschen diese friedlichen Wesen, als die sie sich selbst gerne verorten möchten.
Friedliche Wesen hätten die Kraft neugierig aufeinander zu sein. Schöpferisch und kreativ miteinander zu sein. Fürsorglich und nachhaltig mit sich und der Mitwelt umzugehen.

Friedliche Wesen haben keine Angst vor einander.

 

*weinende weiße cis Männer

von Haien und Sardinen, Ausgrenzung und Selbstvertretung

“Euer Podcast gibt mir immer weniger.”, sagte uns eine Freundin am Samstag, kurz bevor wir den Film starteten, den wir uns ausgesucht hatten. Sie sagte, sie könne für sich immer weniger rausziehen, die Folgen seien zu lang und das Geplänkel zwischendurch wäre mal ganz nett, aber …
Hm ja, dachte ich. Feedback ist wichtig, wir legen uns das mal an die Seite.

Auf dem Weg nach Hause dachte ich darüber nach, was die Dinge, die wir tun, anderen Leuten überhaupt geben soll und ob wir beeinflussen können, was sie sich nehmen wollen und was nicht.

Am Sonntag bekamen wir Besuch für ein Projekt, in dem es ums Vielesein geht.
Wenn die Person da ist, sprechen wir über uns, wie wir uns wahrnehmen, wie was bei uns funktioniert und was es bedeutet, dass es so ist, wie es ist.

Am Abend stellten wir ein Modell fertig, das unsere “innere Landkarte” symbolisiert.
Eine Arbeit, die wir schon lange für die Therapie machen wollten, aber doch nie gemacht haben.
Zum Einen, weil wir Angst davor hatten, unerwartet mit Dingen konfrontiert zu werden, auf die wir nicht vorbereitet sind. Zum Anderen, weil es in uns nachwievor Unsicherheit darüber gibt, ob das überhaupt wichtig ist. Ob das jemand wissen will. Ob das Sehen unseres Seins etwas ist, das anderen Menschen (der Therapeutin, der Projektperson, den Personen, die das Projekt später sehen oder generell: überhaupt irgendjemandem) “etwas gibt”, was auch uns mit einschließt.

Für uns ist es normal so zu sein, wie wir sind. Wie wir funktionieren, ist für uns nichts fremdes oder besonderes – das ist es erst geworden, nachdem uns gesagt wurde, dass es das nicht sei. Dass es eine Krankheit sei, dass es eine Störung sei, dass das, was dazu geführt hat, unnormal sei. Unrecht. Falsch. Schlecht.
Wir, wie wir sind und wie wir geworden sind, hat also nur durch die Gegenüber- oder Nebeneinanderstellung mit dem Leben und Sein anderer Menschen überhaupt diesen Status von etwas, dem man sich anders widmet und/oder widmen will/muss/sollte, als dem, was diese als üblich wähnen.

Wir machen immer wieder die Erfahrung, dass Dinge, die wir wahrnehmen und denken, teils massiv von dem abweichen, was andere Menschen wahrnehmen und denken. Nicht, weil wir andere politische Haltungen vertreten, nicht, weil wir Dinge mögen, die jemand anders nicht mag – einfach nur, weil unsere Perspektive durch unser Sosein, durch unser Sogewordensein eine völlig andere ist.
Und auch das nicht nur so ein bisschen. So ein bisschen, dass andere Menschen sich eventuell vielleicht doch – mit ein bisschen Anstrengung, Empathie und intellektueller Verdrehung – in uns und unseren Blick auf die Welt hineinversetzen können.

Nein. Wir sind auf eine Art anders gestrickt, dass wir nicht nur ein zwei Aspekte anders erleben und entsprechend einordnen, wenn Wind und Mond mal zufällig komisch stehen oder ein Trigger wirkt oder uns irgendetwas irritiert.
Die grundlegende Struktur ist zu jedem Zeitpunkt anders, als bei Menschen, die nicht viele sind (und zufällig auch noch autistisch).

Für mich beginnt der Unterschied schon dort, dass ich die Normalität der Menschen, die nicht autistisch und nicht viele sind, weder kenne, noch erklärt bekomme, noch als etwas erlebe, das ich als etwas potenziell auch von mir er_lebbares nachvollziehen kann, wenn ich mich in diese Menschen hineinversetze.
Es ist für mich weder denkbar, noch vorstellbar, nicht so zu sein wie ichwir.

Interessanterweise geht mir das auch so mit Tieren.
Ich kann mir nicht im Mindesten vorstellen, wie es ist eine Giraffe zu sein, geschweige denn einen Begriff von ihrem Bewusstsein oder der Art ihrer Wahrnehmung und ihrem Ich-Erleben zu haben.
Dieser Umstand wird von allen Menschen als gegeben akzeptiert. Niemand verlangt es von irgendjemandem und niemand maßt sich selbst ernsthaft an, all das über eine Giraffe zu wissen oder “mit ein bisschen Anstrengung/Empathie schon irgendwie nachvollziehen zu können”.
Es würde sich auch niemand mit vorwurfsvoller Miene vor eine Giraffe stellen und ihr sagen, sie solle sich mal ein bisschen klarer (bitte ohne Geplänkel) ausdrücken, damit man ebenjene Dinge über sie in Erfahrung bringen kann.

Ich will uns und Menschen in ähnlicher Situation nicht mit einem Tier gleichsetzen.
Ich will hier auch nicht zu dem Schluss kommen, dass wir “in einer anderen Welt” als andere Menschen leben. Ich will auch nicht das so oft bemühte “wrong planet”-Bild nutzen.
Ich will aufzeigen, wie groß die Kluft zwischen unseren Wahrnehmungen und Er_Lebensrealitäten ist.
Und wie ungleich groß zuweilen die Bemühungen darum sind, miteinander in Kontakt zu kommen und einander zu verstehen. Und wie verschieden die Motivationen dazu sind, das überhaupt anzustreben.

Ich will es nicht darauf reduzieren, aber schreibe es nun doch so auf:
Ohne die Pathologisierung, die Stigmatisierung, die Ausgrenzung, ohne den tiefen krassen Schmerz, den es bedeutet so wie wir sind in dieser Welt und in diesen Kontexten zu leben, würden wir uns kein Stück um ein Miteinander mit Menschen kümmern. Wir würden es sein lassen.
Wir würden all die Kraft, die es uns kostet in Lautsprache zu denken, zu erklären, zu kommunizieren einsparen und all die Dinge tun, die uns und vielleicht sogar nur uns allein zur Kommunikation und Interaktion mit der Welt dienen.  Wir würden uns nicht erklären, würden nicht all die großen und kleinen sozialen Dressuren aufführen, die es braucht, um überhaupt von als Mensch mit Seele und Sein an_erkannt zu werden.

Wir fragen uns nie, “was es uns gibt” uns die Abbildungen und Darstellungen in Film und Fernsehen, in Romanen, in Erzählungen oder Klatsch und Tratsch von neurotypischen (nicht komplex traumatisierten) Leuten reinzuziehen, weil wir von vornherein wissen, dass das, was dort verhandelt wird, aus einer Perspektive kommt, die wir niemals je selbst einnehmen werden. Da werden Interaktionsmuster gezeigt, die wir nur kopieren, jedoch nie in ihrer Tiefe und Intension selbst auch erfahren. Da werden Werte und Normen repräsentiert, die uns nicht mehr sagen, als, dass sie wichtig für diese Personen sind. Da werden zwischenmenschliche Dramen und Erfahrungen mit_geteilt, die wir selbst entweder gar nicht machen (können) oder, die wir machen, ohne mehr damit anfangen zu können, als das, was wir ohnehin schon 24/7 tun: analysieren, entschlüsseln und mit anderen Erfahrungskontexten abgleichen, bevor sie abgespeichert werden.

Wir wissen, dass uns all diese Medieninhalte nichts geben – wir wissen, dass sie euch etwas geben. Deshalb nehmen wir uns all die Dinge daraus, die uns im Kontakt mit euch eventuell mal hilfreich sein können.

Wir werden daneben übrigens auch nie gefragt, wie das für uns ist nirgendwo kongruent in unserem Sein und Er_leben repräsentiert zu werden.
Manche Menschen erwarten Reaktionen von uns auf Filme, in denen Viele sein oder autistisch sein vorkommt, aber sie erwarten selbst von unseren Reaktionen auf Medien, die Menschen mit einer so krass anderen Perspektive und Er_Lebensrealität über (Aspekte) unseres Seins und Er_Lebens gemacht haben, noch einen Mehrwert für sie und ihre Sicht auf das Thema.
Was sie nicht erwarten ist Unverständnis dafür. Gekränkt davon zu sein, schon wieder von jemandem ohne gleichen Hintergrund für einen Kontext benutzt worden zu sein, in dem wir selbst weder mitgedacht werden, noch sonstwie in einer Art passieren, die auf gegenseitigem Begreifen, Verstehen und inkludiertem Miteinander beruht.

Um ein weiteres Tierbild zu bemühen:
Manche Haie kapieren nicht, dass es Sardinen kränkt, wenn ein Hai einen Sardinenfilm dreht, um unter Haien als der geilste Filmer bekannt zu werden, Haie ins Kino zu bringen, Haien ein weiteres Mittel zur Etablierung einer Haikultur zu schenken, in der sich Haie erkennen und so zu einer Verbesserung oder Veränderung des Haimiteinanders beitragen können.
Und manche Haie haben darüber für Sardinen dann oft auch nicht mehr übrig als “Nja mag ja sein, dass das für dich persönlich jetzt voll blöd ist, aber mich brings voll weiter.” – während die Sardine zurückbleibt. Nicht nur mit ihrer persönlichen Verletzung, sondern auch mit dem Bewusstsein selbst eben nicht weitergekommen zu sein, sondern nur dazu benutzt worden zu sein, einer Gruppe weiterzuhelfen, die nichts außer ebenjene Benutzung mit ihr zu tun hat.
Und, die ihrerseits zu keinem Zeitpunkt überhaupt einen Anlass hat sich einer anderen Gruppe als sich selbst zu widmen.

Die Selbstverständlichkeit mit der sie sich selbst vielleicht mal gut, vielleicht mal eher schlecht repräsentiert wieder_finden können, lässt die Information von komplettem Ausschluss für sie völlig absurd wirken.
Denn selbst sehr schlechte Darstellungen werden ja nur für sie gemacht. Nur sie können die Tiefe, die unausgesprochenen Codes entschlüsseln, nur sie sind gemeint. Nur um sie geht es bei der ganzen Sache. Um ihre Kultur, ihr Miteinander, ihr Sein.

So sitzen wir also da mit der Kritik an einem Projekt, das ist wie es ist, weil wir sind, wie wir (und Renée) sind und sich an Menschen richtet, die sich davon nehmen dürfen sollen, was sie selbst auch nehmen wollen.
Um dann vielleicht auch mal mit Menschen, die erheblich viel anders sind, als sie in an_erkennenden Kontakt zu kommen.

So sitzen wir nun da mit einem Modell von unserem Innen und wissen gleichzeitig, dass wir das Modell des Innen eines Menschen, der nicht viele und nicht autistisch ist, vermutlich niemals zu sehen kriegen werden.
Geschweige denn erklärt und im gleichen Format beschrieben.

Wir sitzen da und fragen uns, was wir denn davon haben, das so zu machen.
Und wieder einmal kommen wir zu dem Schluss, dass wir davon nicht mehr haben als das Wissen, dass wir wenigstens versuchen unseren Schmerz an der Kluft zu anderen Menschen zu lindern. Dass es uns wenigstens nicht so selbstgefällig scheißegal ist, wie es uns damit geht, dass mit uns so umgegangen wird, wie mit uns umgegangen wird.

Wir wissen, dass wir alles dafür getan haben, was wir können, damit es Miteinander gibt. Dass es mehr Möglichkeiten zu Verstehen und Begreifen gibt. Dass niemand sagen kann, wir hätten ja in Wahrheit gar kein Interesse daran.
Wir wissen, dass wir jeden Tag alles was wir können tun, um sowohl uns selbst, als auch anderen Menschen in ähnlichen Lagen zu markieren, dass der Status Quo einer ist, in dem die Mehrheit über aufwendig konstruierte Minderheiten bestimmt.

Wir wissen, dass wir nichts weiter tun und wollen, als uns selbst zu repräsentieren und selbst in unseren Themen und Forderungen zu vertreten.
Und zwar, damit wir selbst am Ende etwas davon haben.
Nämlich die An_Erkennung in unserem Sosein, wie wir sind.
Nämlich die Gewährung von Respekt, von Schutz, von gesellschaftlicher, kultureller, ökonomischer und struktureller Gleichstellung mit genau den Menschen, an deren Normen und Werten entlang, wir, egal wie wir dazu stehen, als anders, fremd, krank definiert werden.

“Ausbildung inklusive”, Episode 10: “Halbzeit” oder “Warum Punktekonten problematisch sind”

“… die Anpassung des einen, kann das beHindernis, des anderen sein…”

Ein Gedanke, der mir kam, als ich am Tag der Zeugnisausgabe nach Hause ging.
Am Tag vorher hatte ich von meiner Note in Wirtschaftskunde erfahren. Auf dem Schulflur. Zwischen Tür und Angel, denn Wirtschaft in eines der Fächer, das wir uns überwiegend allein zu Hause erarbeiten.
Ich habe eine schlechtere Note, als meine schriftlichen Tests vermuten ließen, bekommen, weil ich nicht alle Wahlpflichtaufgaben des Punktekontos erfüllt hatte. Pudels Kern: Die Wahlpflichtaufgaben sind ohne beständige Präsenz im Unterricht und mit einer Problematik in der sozialen Interaktion und Kommunikation nicht erbringbar.
Das nennt der Volksmund “Arschkarte”, ich sage, dass es eine unfaire Benotung ist.

Punktekonten sind der moderne heiße Scheiß.
Und für manche Schüler_innen super. Wenn sie zufällig Freund_innen in der Klasse haben, immer pünktlich, immer präsent und zufällig die Lerntypen sind, die mit Mind Maps, Vokabelkarten und anderen gut überprüfbaren Mitteln arbeiten können.
Für manche Lehrer_innen sind sie vermutlich auch super. Soweit ich das aus meiner Schüler_innenperspektive sehe, hat man damit ein strukturiertes, klares Mittel der Leistungserhebung, das davon befreit, Schüler_innen individuell und/oder vielleicht sogar von Sympathie beeinflusst, zu benoten. Man kann sein Ding durchziehen. Muss nicht weiter überlegen. Behandelt alle Leistungen gleich.

Jedes Punktekonto ist ein Standard, eine Norm.
Jede Leistung, jeder Punkt, der in einem Halbjahr nicht erbracht wird (werden kann) frisst an der Endnote.
Motivation, Engagement, Eigeninitiative, Kreativität bei der Auseinandersetzung mit den Unterrichtsinhalten werden damit nicht gefördert – viel mehr werden sie für das Konto ab_geleistet.
So ergab ein Gespräch mit meinen Klassenkamerad_innen, dass niemand von uns Vokabelkarten für den Englischunterricht, in dem wir ebenfalls ein Punktekonto haben, verwendet, jedoch fast alle welche haben, um die Punkte aus dem Wahlpflichtbereich zu bekommen.
Was genau ist an der Stelle die Leistung? Die pünktliche Abgabe einer zu erbringenden Leistung ohne persönlichen Nutzen, oder die Englischvokabeln, die im späteren Leben zu persönlichem Nutzen verhelfen sollen?

Aus meiner Sicht sind Punktekonten auch schon deshalb problematisch, weil sie Tür und Tor für lerntoxische und übergriffige Akte im Miteinander von Schüler_innen und Lehrer_innen öffnen.
Ich finde es zum Beispiel grauenhaft, wenn Lehrer_innen meine Mappen einsammeln, um ihre Führung zu benoten – oder “für das Punktekonto zu bewerten”.
Denn meine Mappen sind mein Lern- und Arbeitswerkzeug. Da ist meine Ordnung wichtig. Ich muss damit arbeiten können – und auch damit arbeiten wollen. Das Wissen um die Durchsicht für Punkte und damit auch für Noten hemmt mich.
Tatsächlich entwickelt sich bei mir schnell eine Parallelwelt in der Mappenführung, weil ich 90 % der Arbeitsblätter barrierefrei für mich umgestalten muss. Das heißt: die hübschen Kopien aus dem Lehrerzimmer, landen in der hübschen chronologischen Mappe, mit Deckblatt und Punktekonto und Inhaltsverzeichnis zu den durchnummerierten Seiten
– die Dinge, die dafür sorgen, dass ich verstehe, worum es geht, de zeige ich niemals irgendjemandem.

Meine Lernmittel, sind Notizen, Kringel, Schleifen, für Außenstehende vielleicht wirre Skizzen, diverse Webseiten und YouTube-Videos, in denen mir der Stoff wieder und wieder in Dutzenden Variationen erklärt wird, bis ich durch die Wiederholungen das konkrete Muster finde und mit den Unterrichtsmaterialien und den Worten der Lehrer_innen in Verbindung bringen kann.
Heißt: Die Auseinandersetzung mit den Inhalten ist meine Art zu lernen. Das ist langwierig und manchmal ist es auch gar nicht sichtbar, weil ich die Inhalte in mir bewege und innerlich mit der Umgebung abgleiche.
Mein Weg, um Dinge zu begreifen, führt nicht darüber, dass ich mit anderen darüber spreche oder Vokabeln lerne.
Ich lerne über Mustererkennung und brauche dafür eine Umgebung ohne Ablenkung und mit relativer Ruhe, in der ich mir ohne Probleme oder Sorge um mögliche Unterbrechung, ein Video nach dem anderen, einen Text nach dem anderen, über ein und dasselbe Thema reinziehen kann.

Ich lerne dabei nichts auswendig. Ich sammle die Wörter, behalte die, die am häufigsten genannt werden und mit jedem weiteren Text wird mir ihre Position – ihr Kontext klarer. Diese Kontexte brauche ich nach einer Weile immer weniger angestrengt suchen. Und irgendwann – meistens in der Phase vor einem Test, bin ich dann soweit, dass ich sogar im Unterricht anwesend sein kann, ohne mich daran zu verausgaben, zu suchen, was die_r Lehrer_in erzählt, fordert, beschreibt.

Diesen Teil meiner Lernarbeit zu verstecken, gehört zu meinem Leben seit immer.
Denn: die meisten Menschen können das so nicht nachvollziehen.

Die verschiedenen Lerntypen sind über die Sinnes- und Interaktionskanäle definiert.
Es wird zwischen “auditiven” und “visuellen”, aber auch “motorischen” und “kommunikativen” Lerntypen unterschieden.
In diesem Modell fehlt sowohl die Annahme von Menschen, die nicht nur “visuell ein bisschen und motorisch etwas mehr”-Typen sind, sondern auch die Menschen, deren Sinnes- und Interaktionskanäle ganz anders funktionieren und miteinander zusammen (oder entgegen) arbeiten.

Lernen, das ist bedeutet ja nicht nur, Informationen aufzunehmen und abzurufen.
Lernen bedeutet auch, die Beschaffenheit von Informationen zu erkennen, einzuordnen, flexibel einbringen/anwenden zu können und passend zur Fragestellung abrufen zu können.
Das erfordert neurologische Prozesse, die bei neurotypischen Menschen bereits prima erforscht sind und ergo zu solchen Lerntyp-Einordnungen führen.

Wie man meinen Lerntyp nennt, weiß ich nicht.
Ich kenne keine anderen Menschen, die sich mit Inhalten ganz genauso auseinandersetzen müssen, um sie zu erfassen und in die Lage zu kommen, irgendwas damit anfangen zu können.

Ich kann anderen Menschen oft nicht gut klar machen, wie flach mir das vorkommt, was ich als neue Information erhalte.
So seltsam flach, dass ich es meistens als fast körperlich unangenehm empfinde und dann logischerweise verändern will.
Ich bin keine besonders wissbegierige Person. Bin kein “Streber” oder außerordentlich neugierig. Das, was heute mein großer Wortschatz ist, mein, im Kontext zu meinem Leben, meiner Klasse und der Nichtbildung in den letzten Jahren, erstaunlich breites Allgemeinwissen, ist das Ergebnis von dem angenehmen Gefühl, eine unangenehm flache Information zu etwas werden zu lassen, das sich bewegen, be_greifen, anwenden lässt.

Da geht es nicht darum, dass ich mich dann schlauer fühle und deshalb gut oder überlegen.
Ich fühle mich einfach weniger gestört, unangenehm berührt … dumm … manchmal auch: gequält von etwas, das mir zuweilen sogar Angst macht, weil es so gar keine Tiefe oder Bezüge zu irgendetwas hat, aber DA ist und sich immer wieder bemerkbar macht.

Herrje – was für ein Abschwiff.
Zurück zur schlechteren Note.

Ich akzeptiere die Note so nicht und werde auch im nächsten Schuljahr den Wahlpflichtleistungsteil des Punktekontos in dem Fach nicht so akzeptieren. Die Lehrerin hatte mir keine alternativen Möglichkeiten zur Verfügung gestellt, so dass ich gar keine weiteren Punkte “machen” konnte, als die, die ich erbracht habe.
Die alternativen Möglichkeiten stehen mir als Nachteilsausgleich zu.

notsofunfact: der ist offiziell noch immer nicht für uns beantragt.
Warum? Wir haben das an die Schule bzw. die Menschen, die uns da unterstützen wollen, abgegeben.

Inzwischen ist die Hälfte der Ausbildungszeit um.
Wir haben nach wie vor keine Unterstützung beim Schulweg, bringen die Kosten zur Anpassung des Materials selbst auf, unsere Betreuerin sammelt noch immer Absagen von Behörden, wenn es um die Kostenübernahme der Materialgebühren der Schule geht.
Anfang des Monats kam ein Brief von der Stadt wegen des Antrags auf eine I-Kraft, in dem nach dem “Hilfebedarf des Kindes” gefragt wurde.
Das war der Moment, in dem ich dem Direktor und der Klassenlehrerin sagte, dass ich mich manchmal selbst verletze, um handlungsfähig zu bleiben und gleichzeitig der Moment, in dem wir merkten: seit dem Jahr 2000 hat sich für mich (und damit für uns alle) in Bezug auf das “in einem Schulbetrieb sein und lernen” nichts verändert, außer dem Ausmaß der Scham, das mit so einem “Geständnis” einhergeht.
Und das Alter des Körpers, den wir uns teilen.
Und dem Bewusstsein darum, dass dieses So-sein “Autismus” heißt.
(Also vielleicht doch etwas?)

Wir sind trotzdem nicht unglücklich mit der Ausbildung an sich oder denken, dass wir das gar nicht schaffen.
Wir sind manchmal einfach nur sehr sehr müde.
Müde, frustriert und der Alleinsamkeit mit manchen Dingen so bewusst, dass es eben doch sehr weh tut.

Unterstützerhunde – Assistenzhunde

(Achtung: das ist ein 360° Video. Das heißt, man kann mit dem Mauscoursor auf der Videofläche, das Bild hin- und herziehen und dann alles wie in einem Raum ansehen. Es passieren viele Eindrücke gleichzeitig. Man kann aber auch nur Jessica angucken. Dann ist es fast wie üblich, außer einer leichten Bildkrümmung.)

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Ich freu mich über den Unterschied, den Jessica in dem Video zwischen Hunden macht, die ihre Menschen unterstützen und denen, die aktiv und zuverlässig, die Dinge tun, die von ihnen erwartet werden – und dadurch unterstützen.

Das freut mich, weil ich heut genau sowas in der Schule erlebt hab.

NakNak* ist immer bei mir in der Schule.
Am Anfang der Stunde hab ich sie auf dem Schoß. Meistens bin ich noch ein bisschen verwirbelt von der Pause oder dem Schulweg. Ihr Gewicht auf den Beinen hilft mir, mich darin zu versichern, dass es meine Beine sind und, dass sie wirklich da sind. Also: dass ich wirklich da bin und, dass ich da bin, wo ich sein soll. In der Schule.
Das unterstützt mich.

Wenn ich mich gut fühle (oder mir die Beine eigeschlafen sind, weil ich zu dick bin für die Stühle in der Schule), sag ich NakNak*, sie soll sich unter den Tisch legen. Das verlange ich von ihr und sie macht das. Ich kann mich drauf verlassen, dass sie nicht einfach aufsteht und zu Leuten läuft und Quatsch macht.
Das ist das Ergebnis ihrer Arbeit.

Heute war ein Lehrer von uns krank und wir waren mit den Mitschülern und Mitschülerinnen alleine. Wir hatten eine schwierige Aufgabe auf. Das hat mich so verwirbelt, dass mir NakNak* eher weh getan hat. Das heißt ich konnte sie nicht auf dem Schoß ertragen.
Mir hilft, wenn die eine andere von innen dann Dinge einfach macht und rumrennt und so. Sie ist also rumgelaufen und hat mit zwei von den Mitschülern und Mitschülerinnen zusammen gearbeitet.
NakNak* war immer an dem Platz, wo der Rechner stand, mit dem wir arbeiten. Ich hab gemerkt, dass mich das beruhigt hat. Ich hatte irgendwie Angst, dass der Raum zerfällt oder ich zerfalle. Aber NakNak* hat den Ort, wo sie war, sehr fest gemacht. Wie eine Insel, wo mein fester Platz ist und nichts Unberechenbares mich erreicht.

Ich war da wiedermal sehr dankbar, dass wir sie im Leben haben und auch in der Schule dabei haben dürfen.
Und ich bin jetzt grad sehr stolz darauf, dass wir und sie so gut arbeiten, dass wir uns auf sie verlassen können. Auch wenn Dinge passieren, die mich sehr verwirbeln und ich nicht mehr so viel mit ihr arbeiten kann, sondern brauche, dass sie viel arbeitet, damit es gut klappt.

… und raus bist du

Das Gefühl der Ausgrenzung kennen wohl alle Menschen.
Das setze ich an den Anfang des Textes, um zu zeigen: Ich weiß das. Und um anzuzeigen, dass es entsprechend keinen Grund gibt, mir zu sagen, dass meine Gefühle und Gedanken allein deshalb schon nichts besonderes sind.
Wie gesagt: Ich weiß das. Es ändert meine Gefühle und meine Not an ihnen nicht und ich schreibe sie hier auch nicht auf, weil ich denke, dass sie besonders sind.

Wieder einmal schreibe ich etwas dazu auf, gerade weil ich weiß, dass es normal ist, ausgegrenzt zu werden, weil man ist, wie man ist.
Besonders, wenn man anders ist.

Sprung.

In dieser Woche habe ich vielleicht einfach nur ein paar Enttäuschungen zu viel gehabt. Wer weiß. Vielleicht bin ich auch nur müde. Vielleicht steht der Mond ungünstig. Vielleicht hab ich nur noch nicht genug geweint und bin deshalb noch nicht an dem Punkt, an dem ich loslassen kann, um mich Wichtigerem zu widmen.
Vielleicht ist es aber auch einfach Teil meiner Strickweise, dass ich lange brauche um Dinge zu prozessieren, zu verstehen, zu begreifen – sie mir auseinanderzunehmen und als neu hinzugekommene Erfahrungen in mich und mein Bild von der Welt einzubauen. Was weiß ich.

Sprung.

Ich bin frustriert über meine Leistungen in diesem 3 Schulhalbjahr. Nicht, weil sie schlecht sind. Ich bekomme nachwievor selten eine 1, üblicherweise eine 2, wenn ich denke, ich habs ganz verkackt, reicht es noch für eine 3. Ich habe keinen Grund zu glauben versetzungsgefährdet zu sein oder die Ausbildung nicht zu schaffen, weil meine Leistungen nicht ausreichen.

Unzufrieden bin ich damit, dass ich – im Gegensatz zu meinen Lehrer_innen – weiß, dass ich nicht besser werde, wenn mich nur noch mehr motiviere, noch mehr lerne, noch mehr reinhänge, mich mehr öffne oder locker mache.
Ich weiß, dass es in vielen Dingen nur noch um dieses eine kleine µ der zwischenmenschlichen Kommunikation und Interaktion geht.

Und während ich das weiß und wieder einmal 3/4 meiner Alltagskraft in die Kompensation dessen stecke – merke ich: Sie sehen das nicht. Sie merken das nicht. Sie halten mich für perfektionistisch. Denken, ich sei nur mit Note 1 zufrieden. Ordnen mich als generell schwer zufriedenzustellen ein. Und eben nicht als autistisch und damit behindert im Bereich der zwischenmenschlichen Kommunikation und Interaktion.

Sie merken nicht, wie sie mich damit damit jedes Mal neu rauswählen.

Sprung.

Es bleiben mir noch zwei Stellen für eine Bewerbung um ein Berufspraktikum.
52 Stück habe ich seit September letzten Jahres weggeschickt.
Schriftliche Absagen: 11 Stille Absagen: 40 Wartend auf: 1
Niemand schreibt, dass meine Behinderung oder der strukturelle Aufwand, der nötig ist, mich als Praktikantin anzunehmen der Grund dafür ist.
Aber ich weiß, warum wir vor der Ausbildung jetzt mehr als 10 Jahre weder Arbeit noch Ausbildung hatten.

Ich habe nicht viele Informationen. Verstehe zu wenig von der wirtschaftlichen Lage und der Welt, in der Menschen leben, die so arbeiten, dass sie andere Menschen bei sich mitarbeiten lassen können, als dass ich mir selbst gut zureden kann, all die Nichtaussichten für mich wären in Faktor X oder Y – aber auf keinen Fall in mir und meinem So-Sein begründet.

Ich will das alles nicht persönlich nehmen. Doch wie soll ich es denn nehmen? Was soll ich denn denken, machen, glauben, wünschen?
Zufall? Bestimmung? Pech? Jede Niederlage ein Sieg für die Selbsterkenntnis?
Wie lange muss man so eine Situation ertragen, damit es vor anderen Menschen legitimiert ist, sie nie wieder aufzusuchen?

Sprung.

Ich habe erfahren, dass es den Studiengang “Medieninformatik” gibt. Das klingt gut für mich. Nach einer Richtung, die mir ein Tool in die Hand gibt, danach Dinge zu realisieren, die es ermöglichen Informationen auf vielleicht sogar ganz neuartige Art zu übermitteln.
Sehr motivierend so eine Aussicht. Gerade jetzt, wo ich mit den Mitteln, die ich zur Kommunikation nutzen kann, immer wieder scheitere.

Dann war ich gestern beim Tag der offenen Tür des “bib” in Bielefeld. Das bib ist ein privater Bildungsdienstleister, von dem diverse Studien und Ausbildungsgänge angeboten werden. Unter anderem auch Medieninformatik.

Weil ich nicht wusste, dass es ein Privatunternehmen ist, bin ich hin, wie ich bin.
Hätte ich es gewusst, hätte ich mich unter unbequemerer Kleidung und Make up versteckt und hätte die vielen kleinen Demütigungen, die so ein Umfeld für Menschen wie mich bereithält, an mir abprallen lassen können.
So stand ich dann da mit meiner C&A-Jeans und den Resten der Stresspickel, die mir die letzten zwei Schulwochen beschert hatten und versuchte mich mit meinen Wortgewändern und einer Lächelgrimasse anzupassen.

Menschen, die nicht am Existenzminimum leben, wissen meistens nicht, dass sie das tun. Sie glauben oft, dass sie “ja auch kämpfen müssen” und halten das für vergleichbar mit der Lebensrealität von Menschen wie mir. Sie haben häufig keine Rezeptoren für den Schmerz, den sie anderen zufügen, in dem sie die gleichen Sorglosigkeiten und Relevanzbewertungen, wie bei sich selbst, für gegeben annehmen.

Sprung.

Manchmal ist es für mich demütigender, wenn mir Menschen sagen, dass ich mich doch nur locker manchen müsse, weil doch eh alles immer irgendwie läuft, als wenn sie mir direkt sagen, dass ich einfach einer dieser Menschen bin, für den man in dieser Gesellschaft keine Ver_Wert_ung findet.

Ich dachte lange, mein Wunsch doch bitte gleich offen als wertloses Stück Scheiße benannt zu werden, hätte seine Wurzeln allein darin, dass ich mich nach langer Zeit des Gewalterfahrens selbst so sehe.
Heute weiß ich, dass ich in manchen Lebensbereichen noch immer so behandelt werde und es die permanente Anstrengung zur Dechiffrierung dessen in eine klare Aussage ist, die in mir diesen Wunsch logischerweise auslöst.

Es geht also nicht darum, dass ich das gerne hören möchte, um mich in meinem Selbstbild zu bestätigen, sondern darum, dass ich mir wünsche, die Menschen in meiner Umgebung hörten endlich auf, mir ihr Bild von mir nicht offen zu zeigen und/oder auch vor sich zu verschleiern.

Sprung.

Auf meine Frage nach Erfahrungen mit der Integration von Menschen mit Behinderung, erhielt ich eine lange Satzkette mit der kurzen Information “Nein” drin. Trotz dem es die Möglichkeit gibt, für eine Woche zu hospitieren, um zu schauen, wie sich der Lernalltag gestaltet, war ich am Boden zerstört.

Nicht, weil das so ist. Es hätte mich gewundert, wenn die Klientel, die dort lernt und studiert, so divers ist, dass es zu einem reichen Erfahrungsschatz kommen kann. Aber die Bestätigung meiner Annahme war nichts, was ich gern gehabt hätte.

Jeder Beweis für die nachwievor bestehende Ausgrenzung von behinderten Menschen, ist mir ein Beweis für meine Ausgrenzung. Für mein Nichtrepräsentiertsein. Für mein Nichtmitdabeisein. Und dafür, dass jeder einzelne Schritt inmitten dieser Menschen(gruppen/klassen) für mich einer ist, der allen Beteiligten neu, fremd, anstrengend, ängstigend… über_heraus_fordernd ist.

Und auch hier: Ich wünschte, ich könnte das nicht so persönlich nehmen. Es geht dabei ja nicht um mich persönlich.
Aber wie soll ich es denn nehmen? Es ist ja nicht so, dass sich an den entsprechenden Stellen jemand persönlich als verantwortlich bereiterklärt.

Sprung.

Und wie soll es für mich weitergehen?
Ich bin nicht gut darin mich selbst so tiefgreifend zu belügen und mich darauf aufbauend zu immer mehr Leistung zu motivieren. Ich brauche Perspektiven. Sicherheiten. Gewissheiten. Ich brauche Unterstützung und sehr viel öfter soziales Cheerleading, als ich das einfordere oder zum Ausdruck bringe.
Ich brauche mehr als das, was ich im Moment habe, um damit umzugehen, leider draußen bleiben zu müssen.

Nicht, weil ich behindert bin, sondern, weil ich es zusätzlich dazu oft auch noch werde und beides oft genug noch nicht einmal bemerkt und anerkannt wird.

Und wenn ich das so schreibe, dann bedeutet das nicht, dass ich mir wünsche, umgeben von Leuten zu sein, die mir ein Taschentuch geben und mich an ihrer Schulter ausweinen lassen, damit ich neue Kraft für den nächsten Kampf um Teilhabe, Zukunft und Lebensqualität tanken kann.
Ich wünsche mir mehr Leute in meiner Umgebung, die mit mir zusammen weinen, weil sie mit_fühlen, wie tief diese ganze Scheiße jeden einzelnen weiteren Tag weh tut – und mit mir zusammen kämpfen, damit das weder ich noch andere Menschen jeden einzelnen Tag weiter durchmachen müssen.

Was “kämpfen” an der Stelle bedeutet?
Es kann bedeuten weder mir noch anderen behinderten /Menschen/ mit Behinderung zu sagen, ihre Forderung nach Teilhabe unter Berücksichtigung und entsprechender Anpassungsleistung ihrer Umgebung, sei eine andere Forderung, als die als auch normaler Mensch anerkannt zu werden.
Es ist keine überzogene Forderung, wenn man bitte nicht ausgegrenzt und dadurch auch entmenschlicht werden möchte.

Es kann aber auch bedeuten, die eigenen Bedürfnisse und Bedarfe auszusprechen, um die Lebensumgebung aller mitzugestalten.
Je offener der Umgang mit der Vielfältigkeit des Menschseins und den Facetten dessen, was Menschen täglich leisten oder auch nicht leisten können, desto weniger besonders wird das, was man jetzt als Abweichung wahrnimmt.

Außerdem wird man so darin trainiert, sich schneller und effizierter an wechselnde Anforderungen anzupassen. Es wird leichter. Und dadurch auch weniger daran gebunden, wie sympathisch, wertvoll, menschlich man jemanden oder etwas einordnet. Man macht es dann einfach, weil es kein Akt mehr ist, es überhaupt zu machen.

Es kann auch bedeuten, sich der eigenen Ignoranz zu stellen, die man gegenüber der Thematik von Ausgrenzung allgemein, und der Inklusion, als gesellschaftliche Herausforderung unserer Zeit, hegt und eventuell sogar pflegt, ohne es bewusst zu haben.

Ja, Inklusion ist eine Riesenumwälzung. Ja, alles würde sich verändern. Ja, viele Dinge kosten Geld. Ja, Inklusion ist für manche Menschen fremd, neu und vielleicht auch zu viel, um sie sich überhaupt als Realität vorzustellen.
Aber all das sollte neugierig machen. Motivieren.
Und wenn schon nicht das, dann wenigstens erschrecken und beschämen, gerade weil sie noch nicht passiert ist.

Denn nichts anderes ist ein jeder “… und du bist raus”-Moment in unserer Gesellschaft, egal wem gegenüber und warum.
Beschämend und erschreckend.

„Ausbildung inklusive“, Episode 9: „Solidarität und Mut“

Eigentlich ist meine Reihe “Ausbildung inklusive” tot.
Sie starb den für so manche meiner Textserien natürlichen Tod durch Zeit- und Ressourcenmangel. Doch auch: Fluffmangel
Ich wollte das gerne so: leicht, unterhaltsam, fluffig, augenzwinkernd.
Da meine Ausbildung aber schon damit begann, dass ich bis weit in die Ausbildungsanfänge kein Geld hatte, war von fluffiger Leichtigkeit keine Spur.

Und so ging es weiter.
Auf jedes leichte, schöne Moment, sei es mit meinen Mitschüler_innen oder den Lehrer_innen, folgte ein strukturelles Kackscheißeloch, das sich zusammen mit dem, was ich jeden Tag kompensieren muss, oft genug zu etwas entwickelte, vor dem ich am Ende schlicht die Segel streichen musste.
3 Wochen vor den Ferien und mitten in der Prüfungszeit war für mich Schluss. Mit einer Krampfanfallrate von bis zu 4 pro Woche und einem Nervenkostüm, das mir die blanken Nerven aufscheuerte, konnte ich einfach nicht mehr. Nicht einmal mehr wollen, konnte ich.

Jetzt beginnt das zweite Schuljahr.
Und diesmal wünscht sich die Schule eine Integrationshilfe. Nicht für mich. Für sich.
Dabei spielen Angst vor Verantwortung und Personalmangel in der Schule eine Rolle.
Ich will das nicht. Ich will keine Integrationshilfe.
Ich will aber gut mit der Schule zusammenarbeiten.

Also beantragte ich eine Integrationshilfe beim Sozialamt meiner Stadt.
Das tat ich vor den Sommerferien, denn wie man weiß, werden frische Anträge an Behörden in den tiefen Katakomben unter der Stadt aufgehängt, bis diese von allein zurück ins Büro der zuständigen Bearbeitungsperson laufen können.

Weit vorher beantragte ich übrigens eine Verlängerung meines Bafög. Das kann aber erst im Oktober beschieden werden, weil ich ja sonst frei von existenzieller Angst wäre, was meiner Aus_Bildung eventuell nur schadet.

Ja. Ich bin sarkastisch. Und – das liest sich hier vielleicht nicht so deutlich raus: wütend.
Denn ich habe nun einen Zwischenstand vom Sozialamt zu meinem Antrag auf die Integrationshilfe.
Von dort heißt es, sie wären nicht zuständig. Aber das Jobcenter. Vielleicht. Eventuell. Kann man nicht wissen. Muss man prüfen.

Das muss das gleiche Jobcenter sein, wie das, was es 12 Jahre nicht geschafft hat, mich in eine Berufsausbildung zu bringen, weil ich für vorhandene Stellen nicht genug oder falsch behindert war. Das gleiche Jobcenter, das mich in den letzten Jahren nur noch spricht, um mich als “nicht zur Verfügung stehend” oder als “in Stabilisierung” in die Datenbank einzutragen.
Ganz sicher ist es die Ausbildung, die mich jetzt behindert genug oder richtig behindert für irgendeine Leistung macht, die jetzt für mich infrage kommt.

Daneben – neben dieser strukturellen Achse – ist der konkrete Schulalltag, der jetzt wieder begonnen hat.
Ich war in den Sommerferien 5 Wochen überwiegend allein und selbstbestimmt auf dem Rad durch Deutschland unterwegs. Es hat mich gestärkt, mich erholt, mir “Fell wachsen lassen”. Meine Akkus sind wieder voll, mein Gefühl für meine Bedarfe und Grenzen wieder geschärft.

Eigentlich ist es der beste Start. Ich kenne das Gebäude, die Mitschüler_innen, das Tempo, die Lehrer_innen. Ich weiß, in welchem Fach was wichtig ist und wie lange ich in etwa für welche Aufgaben brauche. Ich weiß, wieviel Essen ich mitnehmen muss und was ich mir für den Resttag noch vornehmen kann und wann ich ins Bett gehen muss, auch wenn ich vielleicht gar nicht will.
Ich bin gut kalibriert. Ein großer Teil der Anstrengungen im letzten Jahr fällt jetzt weg.

Bis auf ein paar neue Lehrer_innen wissen alle, wie ich ticke. Was ich mache, wenn ich etwas brauche und wobei ich etwas Zuspruch brauche.
Wir haben uns kennengelernt und gleichen uns nunmehr ab, ob das immernoch so ist, statt immer wieder zu erforschen, was wie ist.

Nun machen wir es so:
Als Ersatz für eine I-Kraft, war der Begleitermensch die ganze erste Woche mit dabei.
Er saß mit im Klassenraum und verfolgte den Unterricht, war ansprechbar für mich und für die Lehrer_innen. Zwei Mal versuchten Lehrer_innen mit ihm über mich zu sprechen. Einmal in meiner Anwesenheit, einmal nachdem ich weg war.
Jedes Mal blockte er das Gespräch ab. Weil er weiß, dass ich für mich allein sprechen will und kann.
Eine fremde Person hätte das vielleicht (wahrscheinlich) nicht gemacht. Eine fremde Person, die nicht der Begleitermensch ist, hat ja auch nie erlebt, was es mit mir macht, wenn ich mit solcherart Gewalt konfrontiert bin.
Einer fremden Person würde ich nicht erzählen, dass mich sowas in Todesängste triggern kann.
Vor einer fremden Person bin ich lieber behindert als komplex traumatisiert.

Eigentlich sollte am Montag eine Lehrerbesprechung sein. Wie siehts aus – was wird gebraucht – was ist der Stand in Sachen I-Kraft. Diese Besprechung ist jetzt verschoben. Der Begleitermensch kann diese Woche aber nicht jeden Tag kommen.

Meinetwegen braucht er es auch nicht.
Ich komme morgens jetzt mit dem Fahrrad. Nach sportlichen 45 oder ruhigen 55 Minuten Schulweg, bin ich weich, warm und entspannt.
Ich habe Präsenzstunden (Prüfungsfächer) und Projektstunden (praktische Aufgaben bzw. PC-Arbeiten). Jeden Tag bin ich also mindestens für einen Block auf jeden Fall da – für den Rest nur soweit ich kann oder brauche, um meine Aufgaben (zu Hause oder in einem ruhigen Nebenraum) allein zu erledigen.
In jedem Fall fahre ich nach Hause, wenn ich müde werde und weiß, dass ich den Weg nach Hause auf dem Rad noch gut schaffen kann.
Es ist eine gute Anfallsprophylaxe und eine gute Stressregulierungsmaßnahme.

Der Begleitermensch sagte mir heute: Es braucht keine I-Kraft.
Ich denke dazu: Das sagte ich die ganze Zeit.
Was die Schule dazu denkt, werde ich irgendwann bald wohl erfahren.

Ich verstehe, dass es jemanden braucht, der für und mit mir sein kann, wenn ich einen Anfall hatte. Ich bin ja nicht die einzige Schülerin, die beaufsichtigt werden muss. Andererseits ärgere ich mich maßlos darüber, dass die Schule keinen eigenen Geldtopf dafür hat, Menschen einzustellen, die so eine Rolle übernehmen können.

Überhaupt ärgere ich mich darüber, wie, ja, man muss es einmal so sagen: strukturell gefickt so eine wichtige Institution ist, wenn es darum geht, es den Menschen, die darin arbeiten und lernen zu ermöglichen, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren.
Es wären ja nicht nur Hilfskräfte gut. Es wären auch Schulungen oder Coachings für die Lehrer_innen gut, die Angst davor haben, eine_n behinderte_n Schüler_in kaputt zu machen, wenn sie sie_ihn wie einen Menschen behandeln.
Und ach, so viele andere Dinge.

Einmal hatte Mareice aufgeschrieben, wie eine Wunschzukunft mit Inklusion drin, für sie aussähe.
In meiner Wunschzukunft ist Schule eigenverantwortlicher und selbstbestimmter. Es gibt Geld und Mittel, Unterstützung von außen sowohl bei Bedarf als auch bei üblichem Lauf der Dinge.

Schule in Deutschland kann nicht inklusiv sein. Jedenfalls nicht im Moment.
Denn bereits die “Schultauglichkeitsprüfung” im Kindergarten ist die ableistische Praxis, die eine Schule “für alle” effektiv verhindert.
Doch selbst wenn es behinderte /Kinder/mit Behinderung in die Schule schaffen, so sind sie nicht mitgedacht, in den Strukturen darum herum.

Selbst die Hilfen, die von/für behinderte Schüler_innen beantragt werden können, werden oft nur bis zu einem bestimmten Alter oder Schulstufe finanziert.
Weil Kinder und Jugendliche mit bestimmten Behinderungen (in dem Fall auch “chronische Erkrankungen”) nicht mitgedacht sind a) so alt zu werden und b) auch etwas von der “höheren Bildung” mitzunehmen (oder mitnehmen zu können, obwohl eine Behinderung vorliegt).
Inklusion, gestärkte Selbstbestimmung und die Ergebnisse ableistischer Förderungspraktiken stellen den strukturellen Apparat vor Zuständigkeitsdilemma.
Ironischerweise sind es Dilemma, die mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit nicht entständen wären, wären behinderte Menschen an der Konstruktion der Strukturen beteiligt gewesen.

So denke ich im Moment oft: Ja, was habt ihr denn erwartet?
Und weiß: nichts haben sie erwartet. “Sie”, das sind in dem Fall die grauen Herren, die darüber bestimmen, wer was bekommt, weil X und Y vorliegen. Die grauen Herren, die nicht mit Behinderungen oder chronischen Krankheiten leben. Die lange nicht mehr in einem Schulalltag oder anderen autoritären Kontexten passieren. Sie, die nichts erwarten, weil man nur dort erwartet, wo man Entwicklungen sieht.

“Sie” sind manchmal aber auch “die anderen” für mich. Die, die nicht mein Er_Leben teilen und eigentlich froh darum sind, denn alles, was mit mir zu tun hat ist kompliziert und viel und fremd und schwer und ach – immer gibt es Abhängigkeiten, gegen die man sich nicht entscheiden kann, ohne ganz grundlegend etwas zu verlieren.

Ich kann mich nicht einfach gegen eine I-Kraft entscheiden.
Selbst dann nicht, wenn ich sie nicht brauche. Jemand von meinen Lehrer_innen braucht sie, weil die Person Angst hat.
Angst, etwas falsch zu machen. Angst, nicht genug für mich da zu sein. Angst, nicht zu genügen. Weder sich selbst, noch mir, noch der Gesellschaft oder anderen Beobachter_innen, in dem eigenen Tun zu genügen.
Es tut mir leid, dass da so viel Angst ist.
Und es macht mich wütend.

Denn die Lösung für diese Art der Ängste ist keine I-Kraft, sondern Hannah-Kraft.
Lehrer_innen- und Hannah-Kraft zusammen.

Vor den Ferien habe ich mit einer Freundin darüber geredet, wie bald ich aus dem Schul_Alltag gehen müsste, würde ich nicht jeden Tag aufs neue meine eigenen Grenzen überschreiten.
Würde ich nicht jeden Tag meine Behinderungen auf das Level kompensieren, das meine Umwelt jetzt von mir kennt, würde diese Umwelt nicht einmal wissen, dass es mich gibt.
Und das ist der Punkt.

Das dabei sein – meine bloße Anwesenheit erscheint erstmal immer total selbstverständlich. Doch das Ausmaß an Kraft, das ich in jeden einzelnen Tag hineinpumpe, um an dieser Welt teilzuhaben, ist unvorstellbar für so viele Menschen.
Es ist also auch kein besonders kämpferischer Move von mir, zusammen mit meiner Schule für eine gute Zusammenarbeit zu sein. Für mich ist das normal. Ich weiß, dass ich für Miteinander und mehr als Überleben so weit über meine Grenzen muss, dass ich mich selbst verlasse.

Es ist die Art normal, die am Maßstab anderer Menschen unfassbar belastend, zermürbend und vielleicht auch schrecklich ist.
Nun frag dich mal, wie es ist, wenn ich an mit meinem Maßstab sage: das ist zermürbend, belastend, viel.

Die Schulsache macht mich wütend, weil sie mich ohnmächtig macht. Oder besser gesagt: ohnmächtig fühlen lässt. Denn natürlich kann ich jede Wahl treffen, die ich will. Nur scheiße ist das Ergebnis in jede Richtung. Ich kann nicht sagen: “Okay – ich lasse das hier jetzt sein.” Kann nicht von der Schule verlangen, sich selbst in schwierige Situationen zu bringen, indem sie auf Unterstützung verzichtet. Weiß: Wenn ich sage: “Ich will und kann alles allein verantworten” – dann hat das ein anderes Gewicht, als wenn es jemand sagt, di_er nicht ich ist.

Für mich fühlt es sich an, als müsse ich etwas verlieren, damit eine nicht greifbare Entität mich eventuell vielleicht etwas gewinnen lässt.
Menschen mit Erfahrungen ritueller Gewalt – Hände hoch, wem das bekannt vorkommt.

Vielleicht ist manchen Leser_innen hier nicht ganz klar, was ich verliere, wenn die Schule die Hilfe einer I-Kraft an mir hat. Es gibt ja noch immer Menschen, die glauben, dass behinderte /Menschen/ mit Behinderung jede Hilfe, die nur möglich ist, brauchen. Je mehr, desto besser.
Mehr ist mehr. Ein Dorf für ein Kind. Bla bla bla.

Die gleichen Menschen verpassen es, sich die Frage zu stellen, was Hilfe eigentlich ist. Um wen und um welches Problem es eigentlich geht. Und um wessen Problem.
Im Fall der I-Kraft ist es nämlich so, dass sowohl über die Strukturen, als auch über die Lehrer_innenangst alle Probleme an mir allein verhaftet werden. Es kommt zu einer Problembündelung an mir. Meiner Person.
Und eben nicht am Zusammenspiel von mir und der Schule.

Das Problem für die Schule sind versicherungstechnische und rechtliche Auflagen, bei gleichzeitiger Unfähigkeit diesen aus eigenen Mitteln je nach Bedarf entsprechen zu können. Es ist ihr Problem eine Schülerin zu haben, deren Schulbesuch etwas erforderlich  macht, das sie nicht leisten können.
Was wäre an der Stelle hilfreich?

Aus meiner Sicht: rechtliche Auflagen beim Träger der Schule, dafür zu sorgen, dass jede Schule jederzeit das Personal einstellen und bezahlen kann, das wichtig ist

Würde man an der Stelle sagen: Hilfreich wäre, wenn die Schülerin nicht zum Schulbesuch zugelassen würde, würde man das Menschenrecht auf Nichtbenachteiligung aufgrund einer Behinderung (oder anderen Faktoren) dieser Schülerin beschneiden.
Was ja viele Menschen nicht stört, da sie glauben Sonder- oder Förderschulen, Werkstätten oder Sonderarbeitsbereiche wären das perfekte Äquivalent zu Wahlfreiheit, Bildungschancen und Selbstbestimmung.
Und weil Menschenrechte nicht einklagbar sind. Noch nicht.

Meine Verluste sind aber auch konkreter.
Durch die Schulwoche mit dem Begleitermenschen habe ich ein paar davon gespürt.
Es gibt Kraftverluste, denn ich muss mehr sprechen, mehr Absprachen einhalten, eine weitere Person mit einberechnen (anhören, verstehen und überlegen, was ich wie wo wann sage). Die Anforderung auf Signale zu reagieren ist höher. Ich fühle mich verantwortlich für diesen Nichtschülernichtlehrer, der mit im Klassenzimmer sitzt, weil ein Problem an mir manifestiert wurde.
Zuweilen fühle ich mich als das Problem, das mit der “helfenden Person” wie eine Leuchtboje markiert wird.
Ich fühle mich beobachtet. Und wenn nicht, dann tut mir die Person leid, die sich statt meiner beobachtet fühlt.

Die ganze Zeit denke ich: Ich will das nicht.
Und merke, wie dieser Gedanke so an alte Wunden rührt, dass es sich zuweilen anfühlt, als seien sie frisch geschlagen.
Darüber verliere ich manchmal den Bezug zu Zeit und Raum. Zu mir als erwachsene Person, die selbst bestimmen kann, was sie will und was nicht.

Nach der Schule verbringe ich viel Zeit damit mich meinem Hier und Jetzt zu widmen. Mich so stark und fähig wie ich bin wahrzunehmen und auch: wie unproblematisch meine Anwesenheit eigentlich ist.
Danach verbringe ich viel Zeit damit mich darüber zu ärgern, mich erneut in meinem Leben wie Problemstoff zu fühlen. Deplatziert, falsch, störend, ängstigend. Wie immer wieder in meinem Leben: Die erste, die – neutral gesagt – etwas in Bewegung bringt, was als Unruhe und Belastung bei den Mitbeteiligten ankommt.

“Hilfe ist, was hilfreich ist”, sage ich immer. Und ob mir etwas hilfreich ist, erkenne ich daran, wie nützlich mir etwas ist.
Den Begleitermenschen als I-Kraft in der Schule zu haben, war mir für nichts weiter hilfreich als für das Wissen, dass ich mich gegenüber der Schule absprachegerecht verhalte und niemandem absichtlich Probleme bereite.

Seine Anwesenheit hätte, wäre die Woche anders gelaufen, eher einen Krampfanfall ausgelöst, als ihn verhindert.
So wie das ganze Gesprächstermine haben, Anträge laufen haben und immer wieder zwischen Schule, Begleitermensch, gesetzliche Betreuerin und Behördenperson umhertingeln viel mehr zu Stress und ergo: Krampfanfällen führt, als alles, was man sich für mich wünscht.

Nützlich ist mir das alles nicht.
Mein Ziel ist die Berufsausbildung mit Fachabitur. Nach Möglichkeit in einem Gesamtzustand, der mit einer gewissen Lebensqualität in Einklang zu bringen ist.

Das ist kein besonderes Ziel. Es ist keine besondere Herausforderung, das zu erreichen.
Die Herausforderung ist, dieses Ziel zu erreichen, obwohl die Umgebung und die Strukturen nicht für Menschen wie mich konstruiert ist.
Die Herausforderung ist, manche Dinge neu und anders zu machen.
Und sie normal werden zu lassen.
Jemanden wie mich an diesem Ort normal werden zu lassen.

Ich hoffe, dass die Schule vor dieser Herausforderung nicht einknickt.
Ich hoffe, dass meine Schule solidarisch mit mir ist, wie ich es für sie zu sein versuche.
Ich hoffe, dass das reicht.
Solidarität und Mut zur Herausforderung.

„Ausbildung inklusive“ Episode 8 – es läuft schief

Donnerstage.

Donnerstage sind nach Mittwochen inzwischen der schlimmste Tag.
Und der beste Tag.

Die Mittwoche vergehen unter dem schlechten Gewissen einer eigenmächtig entschiedenen Fehlstunde. Schlimm genug, dass wir das selbst entscheiden mussten und auch das ganze Schuljahr über so entscheiden werden müssen.  Denn wir können es nicht aushalten mit der ganzen Klasse zusammen in die Werkstatt gequetscht zu arbeiten. Geht nicht. Haben wir versucht, endete mit Weinkrampf auf dem Schulklo.

Apropos – das Schulklo. Scheinbar unser neuer Pausenraum. Weil es sich da gut heulen, trockenlegen und allein sein lässt, wo niemand länger als nötig bleibt.
Vielleicht bedienen wir ein Klischee, wenn wir das so aufschreiben.
Mir egal – es ist wie es ist und wäre anders, wäre anders möglich.
Ist es aber im Moment nicht.

Vor allem Mittwochs nicht.
Morgens die Werkstattstunde, die uns fehlt und die wir in dem Fach aber eigentlich dringend bräuchten, denn wir brauchen länger als die anderen. Nach meiner Schätzung ist die Klasse nächste Woche fertig – unser Werkstück erst zu einem Drittel. Inmitten von Menschen für die Schule ein Leistungswettbewerb ist, eine Niederlage, die immer wieder Anlass für “nicht so gemeinte” Kränkungen sind.  (Again: für uns ist es nachwievor unnachvollziehbar, was die Intensionen anderer an unseren Gefühlen verändern soll.)

Danach gehts entweder zum Buchbinden (was toll ist) oder zum Arbeiten mit InDesign. An einem Mac.
Also einem Betriebssystem, das wir nicht kennen. Es ist ein Fest.
Ein Fest so toll wie Leichenschmaus mit Todesfall.

Danach: Politik.
In den letzten Wochen sehr gruppenarbeitslastig durch Unterricht von einem Referendar. Der Arme. Muss den ganzen Quatsch für eine Zielgruppe üben, die er – zumindest durch unsere Anwesenheit in der Klasse – gar nicht vor sich hat.
Wir können oft nicht gut teilnehmen und wenn, dann saugt es uns bis zum Letzten aus. Und ich merke das.
Wie ich schrumpfe, einreiße, zerreiße und in dem Krach versickere, auch wenn ich noch so viel trinke, mich kümmere und tue und mache.
Zusammen mit dem sozialen Konflikt und dem daraus entstehenden Isolationsgefühlen ist es einfach nur schlimm.
Aufm Schulklo in graues Klopapier heulen-schlimm.

Und auf so einen tollen Tag folgt der Donnerstag.
Der um halb 8 anfängt und zwar mit der Informatik zu Webdesign. Spannendes Zeug. Allerdings im Vorlesungsstil. Nur,  dass diese Vorlesung wie ein unberechenbares Quiz gestaltet ist und man nie weiß, ob die gestellte Frage rhetorisch oder ernsthaft gemeint ist.
Es ist viel und über meinem Arbeitsplatz flirrt seit 3 Wochen die Leuchtstoffröhre. Schaltet man dort das Deckenlicht aus, sitzen wir im Dunkeln, denn Fenster ohne Blende machen eine ganze Rechnerreihe unbenutzbar, weil man nichts mehr auf den Bildschirmen erkennt.

Danach wirds schön.
Highlight der Woche. Motor durch dieses Schuljahr. Insel in all dem Scheiß.
Die Freistunde, die wir durch die Abwahl des Religionsunterrichtes gewonnen haben. Wenn Klassenarbeiten anstehen, üben wir in der Zeit dafür.
Doch im Moment scheißen wir darauf und es ist gut so.
Statt in dem miefigen Raum zu sitzen, dürfen wir nämlich mit der halben Parallelklasse zusammen nochmal an einem Buchbinden-Unterricht teilnehmen.

Und es ist schön. Es tut uns gut.
Obwohl wir an dem Geheimnis auch schwer tragen und wissen, was für ein Glück wir da haben.
Und daneben steht, dass wir eine Not daran haben, dass nicht alle haben können, was wir da haben. Dass wir uns Sorgen darüber machen, uns vor der Lehrerin nicht als würdig für diese Möglichkeit zu erweisen.

Mit all dem sind wir alleine.
Wie wir mit allen anderen kleinen und großen Gewissenskonflikten an der Schule alleine sind.

Bekommen wir Ausnahmen von der Schulalltagsregel um teilnehmen zu können, dann sollen wir nicht weiter drüber reden – Unmut bei den Schüler_innen
Brauchen wir Hilfe müssen wir das offenlegen und sagen – was immer stört und manchmal nervt – ergo: Unmut bei den Schüler_innen
Fragen wir viel nach, weil die Kommunikation missverständlich ist, sorgen wir für – richtig: Unmut bei den Schüler_innen

Das sollen wir verstehen, weil: die haben Pubertät und wir ne Behinderung.

Das klingt hart und fühlt sich auch so an. Wie harte Scheiße, die einem wo man geht und steht, macht und tut und sich bemüht, vor die Füße geworfen und auf die Nase gebunden wird.
Denn ja: natürlich haben alle ihre Bedürfnisse.
Aber unsere Bedarfe zielen darauf ab, überhaupt gut teilhaben zu können – nicht besser teilhaben zu können, als alle anderen – es ergibt keinen Sinn unsere Bedarfe mit denen der Mitschüler_innen 1:1 gleichzusetzen.

Jedenfalls.
Nach der Oase des Donnerstag kommt der Aufprall. Mathematik.
Ich habs schon mal geschrieben: für uns haben Wörter eine andere Struktur als Zahlen – wir sind schnell aus abstrakten Kontexten rausverwirrbar, wenn jemand konkrete Beispiele benutzt um diese Abstraktion zu erklären.
In Mathe verlieren wir den inhaltlichen Anschluss in aller Regel so nach 5 bis 10 Minuten. Die restlichen 80- 85 Minuten, die diese Veranstaltung hat, sind Kampf um Verstehen und Begreifen. So aktiv wir können. Nicht, weil wir das so unbedingt wissen wollen, sondern, weil es ein Hauptfach ist und wir insgesamt auf dem Zeugnis weder eine Sport- noch eine Religionsnote haben, um mittelprächtige Leistungen im Schnitt auszugleichen.

Die Hauptarbeit und der Grund für unsere relativ guten Noten waren und sind stundenlanges Selbstlernen und üben zu Hause.
Das Problem: irgendwann kriegt man Heimarbeit und Schularbeit nicht mehr übereinander.
Die Irritation wird dem Unterricht immanent. Alles, was es dann noch braucht, um richtig abzuschmieren, liefert unser momentaner Schulalltag frei Haus: unruhige Klasse, noch wenig erfahrene Lehrer_in, die Auflagen rund um Schüler_innenunmut, Pubertät und diese Kleinigkeit, die wir so im Gepäck haben.

Es ist zum Kotzen.
Und zum Heulen.
Überwiegend zum Heulen.

Vor ein paar Tagen dachte ich noch, wie unterschätzt es ist, Inklusion herzustellen, wenn man sie vorher noch nie gelebt hat.
Es liegt unter anderem daran, dass man behinderte Menschen nachwievor zu Menschen mit “speziellen Bedürfnissen” erklärt, “die aber eigentlich ganz leicht zu händeln sind (wenn man nur will)”.
Don’t get me wrong – in vielen Fällen ist das auch so. Aber eben doch nicht immer und schon gar nicht in allen Kontexten.

Die echte Inklusion ist das Ergebnis einer allgemeinen und strukturellen Anerkennung der Behindertenbewegung als Bürgerrechts bzw. Menschenrechtsbewegung.
Es reicht nicht eine Rampe aufzustellen oder wie in unserem Fall zu erlauben, dass NakNak* bei uns sein darf und wir insgesamt hier und da nachteilsausgleichende Ausnahmen gewährt bekommen. Das ist Bedürfnismanagment. So geht man mit Spezialsituationen um.
Man stellt damit aber keine neue Normalität her. Im Gegenteil.

Wenn es schief geht – und bei uns geht es seit ein paar Wochen schon schief – landet alle Verantwortung fürs erfolgreiche Miteinander bei uns. Denn es fordert von uns eine spezielle Dankbarkeit, Geduld, Erklärungs- und Rechtfertigungsbereitschaft und zwar immer für alle und alles.
Wer kann das denn leisten?
Niemand.

Aber wir tragen das. Und wir tragen das alleine.
Wir haben nicht erwartet, dass es einfach wird. Auch nicht, dass es reibungslos wird.
Wir haben aber vor allem nicht erwartet, mit so vielem allein bleiben zu müssen.

Wir haben noch immer keinen Fahrdienst. Der Nachteilsausgleich ist noch immer nicht offiziell beantragt.
Der Begleitermensch schlägt eine I-Kraft vor – wir haben Angst das alles nicht zu packen.

Und morgen klingelt der Wecker wieder um 5 Uhr 15.

Gegenwart ist auch nur ein Abstand

Die Erkenntnis der Abstände hat mir meine Lehrerin für Werken im Jahr 1994 ermöglicht, nachdem mein dritter Anlauf für ein Werkstück zerknüllt auf dem Tisch lag und ich zwischen Frustheulen und Frustummichhauen auf meinem kippeligen Stuhl vibrierte.

Wieder hatte ich etwas falsch abgemessen, wieder passte nichts zusammen und die Bummelletzte war ich auch schon wieder.
Werken – ich mochte nur meine große weiche Lehrerin.
Die Metallscheren machten ein ekelhaftes Geräusch beim Schneiden, der Kleber stank, der Raum war unübersichtlich und die Vielzahl der Umsetzungsoptionen für einzelne Arbeitsschritte, setzte dem Stimmengewirr um mich herum, ein Analysengewirr im meinem Kopf hinzu.
Werken – es war scheiße mit dir.

Aber.
Das Geheimnis von Zeit und Raum konnte sich mir dort erschließen.
Das Geheimnis ist: Abstand.

Ich kann mir nichts Exakteres vorstellen, als den Abstand zwischen Punkt 1 und Punkt 2 und den Abstand zwischen Tick und Tack.

Seit dem Werkunterricht des Jahres 1994 hatte ich nie wieder Probleme irgendetwas abzumessen, nachdem mir meine Lehrerin erklärt hatte, welche Seite des Zentimeterstrichs die ist, von der ausgehend ich abnehmen sollte.
Wenn ein Zentimeterstrich selbst fast 2 Millimeter dick ist, dann ist das eine relevante Information für mich und ich kann mich erinnern, wie tief es mich beruhigt hatte, dieses Geheimnis gelüftet zu haben.
Abstand.

23 Jahre später stehe ich 2 – wenn ich einen guten Tag habe 3 – Mal in der Woche in einer Werkstatt und binde Bücher oder stelle Broschuren her.
Ich bin immernoch die Bummelletzte, brauche immernoch mehr als einen Anlauf für eine Aufgabe, habe nachwievor meine Alleshinschmeißfrustmomente, aber ich habe noch immer meine weiche Werklehrerin im Ohr, die mir bei jedem Mal sagt, dass es um einen Abstand geht.

Um eine Lücke also. Ein Stück Nichts, das zwischen zwei Dingen passiert.
Einen Zentimeter kann man nicht erschaffen – man kann ihn nur definieren. Also einrahmen. Der Rahmen ist, was erkennbar macht, dass es ihn gibt.

Man sagt immer so leichtfertig, beim Handwerk ginge es um die richtig konkreten greifbaren Dinge. Handwerk, das sei so bodenständig und einfach.
Tatsächlich ist der Beruf des Handwerks jeder Art einer, der dem Nichts etwas abtrotzt, das erst dann konkret da ist.
Handwerk ist, wo übers Defizit definiert wird.

Handwerk ist, vor Nichts zu stehen und keine Angst davor zu haben, weil man weiß wie Abstand herstellbar ist.

Die Erfahrung mit handwerklicher Arbeit erleichtert mir heute auch den Umgang mit dem Viel und Alles aus dem Trauma. Dem ES und DAS DA, das soviel ist, dass es ein neuronales Nichts für mich wird.

Manchmal stehe ich inmitten dessen, was Alltag ist und merke, wie ES an mich heranquillt und so dicht wird, dass die Zeit aus ihrem Rahmen von Tick und Tack gedrückt wird.
Da hilft es mir nicht, mir zu sagen, welchen Tag wir haben. Ein Tag hat 24 Stunden – ein Moment aber nicht. Das Ist, das Hier und Jetzt hat keinen anderen Rahmen, als das Wort selbst.
“Hier” ist nur so lange, wie ich “Hier” sagen kann. Dann ist es weg und nur theoretisch überhaupt je gewesen.
Hier und Jetzt – Gegenwart – so sicher und nicht zerstörerisch, wie es auch ist, kann nur von Zukunft und Vergangenheit gerahmt werden und dann sein, was es ist.

Ich habe also eine Schnur bei mir.
Eine Schnur mit kleinen Knoten, die für Dinge stehen, die in der Vergangenheit waren, an einem Ende und Knoten für Dinge, die in der Zukunft sein sollen, am anderen Ende.
Alles, was ich tun muss ist, diese Schnur in die Hand zu nehmen. In der Mitte. Denn in dieser Mitte bin ich. Eingerahmt von meiner weichen Werklehrerin 1994 und dem Praktikum in einer kanadischen Buchbinderei im Jahr 2020.

Gegenwart ist auch nur ein Abstand.
Nichts, was man sich nicht selbst definieren kann.