übers Schweigen schweigen (2)

Himmel1Ich habe, seit ich den Blog schreibe, oft als Rückmeldung bekommen, dass es gut ist, das Schweigen zu brechen.
Nie traute ich mich zurückzufragen, welches Schweigen denn gebrochen wurde, denn nichts worüber ich hier schreibe, würde ich woanders verschweigen. Gemeint ist oft „das Schweigen der Opfer“, was vermutlich auch der Grund ist, weshalb ich mich nie sofort angesprochen fühle.

Es ist etwas, das definitiv zu allen körperlichen und psychischen Folgeproblemen noch hinzukommt und für mein Empfinden immer wieder unhinterfragt passiert: die Art wie direkt von Gewalt betroffene Menschen betrachtet werden.
Bis eben noch war ich die C. Rosenblatt, die halt so da ist.
Und dann kommt der Moment, in dem ich geoutet werde. In den Köpfen zum Opfer schrumpfe.
Kernkompetenz: Überleben
Skills: Leiden hinter sich lassen

– und das ist noch der günstigste Fall. So kampuschmäßig: Boa- guck, was die (wahrscheinlich eventuell man weiß es nicht genau- aber irgendwann rückt sie bestimmt noch damit raus) überlebt hat und wie sie trotzdem noch macht und tut. DASS DIE NOCH ATMET! Guck mal- so STARK.

Dieses „Dass du noch lebst ist so beachtlich“- Opfermodell, begegnet mir recht oft, seit ich blogge und nicht mehr krampfhaft versuche meinen katastrophalen Lebenslauf schönzureden.
Gerade für Menschen, die selbst nicht direkt von Gewalt betroffen waren oder sind, scheint es unfassbar, wie viel Anschlussverwendung mein Leben noch findet und wie viel Weiterverwertungpotenzial noch in mir steckt.

Ich will mich eigentlich auch nicht darüber beschweren. Ja, ich finde es nett, dass mein Überleben gewürdigt wird. Finde es gut, dass Menschen wahrnehmen und für gut, wertvoll und wichtig einschätzen, was ich (er)schaffe.
Das alles passiert aber nicht OBWOHL ich im juristischen Sinne als Opfer zu bezeichnen bin, sondern einfach so. Auch wenn ich keine Gewalt erfahren hätte, hätte ich irgendwas geschafft, das Wahrnehmung und Würdigung verdient hätte. Auch wenn ich verhätschelt und durchs Leben getragen worden wäre, hätte es sicher etwas gegeben, das ich gesehen und anerkannt gewollt hätte.

Es fühlt sich nach Spagat an, denn es heißt auch, dass ich immer stark- überlebend- unopferig sein muss, um nicht als „so ein Opfer“ oder (wenn schon) als eines der „Opfer, die nicht anstrengend sind“, wahrgenommen zu werden. Was wiederum heißt, dass ich Momente, in denen ich mich sterbend fühle, oder schwach, oder hilflos oder ohnmächtig, oder ausgeliefert- eben wie Opfer- wieder verschweigen muss.

Das Gift an Gewalt ist das Schweigen, das sie gebiert.
Ich schweige so routiniert das eine Schweigen, wie ich das andere Schweigen breche.

Fortsetzung folgt

übers Schweigen schweigen

P1010037Will ich über mein Schweigen schweigen?

Da war so ein Moment im Kontakt mit der Therapeutin und fast wäre ich über meine selbst gehaltene Klinge gegangen. Sie fragt in letzter Zeit so oft, ob jemand etwas erzählen will.
Es ist also eine Willensfrage- keine Frage bestehender Privilegien wie Sicherheit, Ruhe, Zutrauen und die Fähigkeit die Echtwerdung des Gesagten sowohl ertragen als auch aushalten zu können.
Ist das so?

Wenn ja- ist das nicht der Moment, in dem ich gepflegt unter der Decke kleben und meine abgefressenen Fingernägel auf den Boden herunterrieseln lassen kann?!

Wenn nein- kommt der Moment dann jemals?

Ich fühle mich ein bisschen entkernt durch diese Nachfrage. Sehe mich wie eine Art Horrorgeschichtenbehältnis. Biologisch abbaubar mit integriertem Verschluss und Abtropfschwämmchen. Selbstreinigend mit Konservierungseigenschaften.

Was habe ich schon zu erzählen?

Vielleicht bin ich das Schweigen selbst.

Fortsetzung folgt

die Nacht

„Weißt du wie sich das grad für mich anfühlt?“, auf eine Antwort warte ich gar nicht erst, „Wie ein „Auf die Plätze fertig los“ mit „Versaus jetzt nicht H.!“ dazu.“.

Sie rollt sich auf die Seite und guckt über den Bettrahmen auf mich herunter. „Es geht nur ums Schlafen. Viel mehr als es nicht passieren zu lassen, kann man dabei nicht falsch machen.“.
Ich will so viel antworten und belasse es dann doch dabei sie anzugucken und NakNak*s feine Ohrhaare zu streicheln.
Ich schaue ihr zu, wie sie einschläft. Wie sie alles richtig macht.
Wie NakNak* ganz richtig gemacht einschläft.
Wie nach und nach das Draußen dunkler wird, weil meine NachbarInnen einschlafen.
Zwei Mal fällt mir auf, dass ich schlafe und erschrecke mich darüber.

Ich muss irgendwann eingeschlafen sein. Oder ich war wach und zu dumm zu merken, wie sich meine Wohnung… mein Gefühl- das gesamte Raum- Zeit- Kontinuum in diesen Schlund verwandelte, in dem ich wie Alice im Wunderland herumstolperte. Auf der Jagd nach dem weißen Kaninchen, das sich Orientierung nennt.

Ich bin schon so weit denken zu können: „nicht echt“, versuche aufzustehen und kann nicht. Meine Käfigbegrenzung ist nicht da. Ich weiß nicht, wo ich mich abstoßen muss. Das verwirrt mich noch mehr, drückt mir aber auf einer Ebene auch das weiße Kaninchen fast in die Arme.

Ich weiß, dass sie das ist, die da auf mich einredet. Ich weiß das. Ich kenne sie.
Und sie macht mir trotzdem so eine scheiß Angst und versinkt zeitgleich in mir.
Vielleicht bin ich gerade die Angst selbst. Kann Angst denken? Was sind die Ansprüche an Angst? Irgendwelche Kernkompetenzen, die über die bloße Existenz hinausgehen, gefordert?

Der Hund drückt sich in mein viel zu großes Menschenkostüm. Ich bin mir nicht sicher, ob das gut oder schlecht oder nicht doch irgendwie einfach nur so abgrundtief vertraut mit meinem Sein ist, dass es schlicht passend ineinandergreift.

Und plötzlich kriecht Kälte durch mich hindurch.
„H.?“, sie guckt mich ganz direkt an und zerrt mich damit richtig in die Gegenwart, wo ich eigentlich gleich schon wieder einen Tod sterben will, weil mir da alles einfach nur peinlich ist. Sie soll weg sein. Ich will hier meine kleine Privathölle bitte nur für mich haben. So jemand Gutes soll nur glitzernd gute Rosenblätter sehen. Nicht sowas wie das, was ich gerade abgebe. Nicht so. Nicht jetzt. Eigentlich nie. Niemand. Nicht einmal ich selbst.

„Du kannst deine Augen aufmachen.“- wieso kommt mir der Satz so absurd vor? Ich hab sie doch auf- ich sehe doch alles was ich nicht sehen will. Meint sie andere Augen als ich habe? Wo sind meine eigentlich?
In diesem ganzen Wirrwarr gibt es nur diese Konstante: die Kälte.
Ich spüre sie und empfinde sie durchgängiger, verlässlicher als mein Denken und Fühlen, das sich, wie eine Mischung aus Falltüren und Landminen, in mir bewegt. Also gehe ich dahin, wo es kalt ist.

Wo es kalt ist, ist es auch hell. Sie hat das Licht angemacht.
Ich bin ganz da und starre zu ihr hoch. Werde vorsichtshalber erst mal starr und halte die Luft an, als ich merke, wie wir da sitzen. Warte darauf, dass sie mir sagt, was ich machen soll. Was sie will, das ich mache. „H.? Atmen nicht vergessen. Du darfst meinen als Referenz nehmen“.
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Oh mein G’tt oh mein G’tt oh mein G’tt
Ich bin inzwischen davon überzeugt, dass sie den Verstand verloren hat und ich in einer Parallelwirklichkeit gelandet bin. Licht anmachen- in meinem Haus. Mich anfassen- in so einem Zustand. Das hier ist alles nicht echt. Kann ja nicht.
In Wahrheit ist alles anders- ich weiß nicht wie- und das hier ist einfach nicht echt. Ich warte einfach bis es vorbei ist.

„H. es ist okay. Wir haben den… äh ich glaube schon 24. September 2013. Ich schlafe heute hier bei euch und was gerade war, war was Altes. Ich habe N. gebeten das Kind mit zu sich zu nehmen und dich weiter nach vorn zu bringen. Hier-“ sie hält mir das gefrorene Gemüse an den Hals, „halt das mal fest. Es ist echt und hier ist alles in Ordnung. Du kannst einatmen und auch wieder ausatmen.“.

Sie redet und redet. Hat offenbar vergessen, dass ich das mit dem Schlafen falsch gemacht habe.
Ist entsetzt, als ich das Blut in meinem Mund ausspucke.
Besorgt, als ich mich für einen Moment allein in den Raum mit der Toilette einschließe. Will mir meine Scham und so viel mehr abnehmen und kann nicht. Ich überlege kurz, ob ich aus dem Kippfenster krieche und mich einfach runterfallenlasse.
Denke in ihre Richtung, dass sie bitte normal spielen soll. Denke, dass sie mich bitte nicht so vor Augen haben soll, wie gerade.

Denke, dass meine Hölle einfach privat sein muss, weil es doch immer wieder schlimmer für mich ist, wenn es jemand anders direkt sieht.

Ich bitte sie, sich hinzulegen und mich ein bisschen für mich zu lassen. Ich muss meine Angstzeugen ermorden, muss die Schlieren des Scheintodes von mir runterkratzen, muss meine Augäpfel durchspülen. Das geht am Besten unter der Dusche und allein.
Ich sage ihr, sie soll sich hinlegen und ein bisschen zu schlafen versuchen.

Als ich wiederkomme tut sie das schon halb. Mit NakNak* im Arm.
Es tut mir so leid, dass sie einander trösten müssen.
Leid, dass ihr Wecker in weniger als 2 Stunden klingelt.
Leid, dass mein Hund sie kurz vor Ablauf dieser 2 Stunden noch aufweckt, weil er Durchfall hat.

Es tut mir leid, dass ich es nicht richtig kann.
Das mit dem Schlafen ohne Zustände.
Das mit dem Leben ohne Traumafolgen.
Das mit dem Sein ohne Angst.

nach-t-wach-e

Ich hatte das Telefon am Ohr und baumelte zwischen den Worten, Tönen und Intensionen der Therapeutin herum, noch während ich das Seil zu halten versuchte.
Es war eigentlich schon so dumm anzurufen. Ich weiß doch, dass es mich klappern und klirren, manchmal scheppern und zerspringen lässt.
Ich lasse los und falle auseinander.
Nicht immer, aber mit schlafwandlerischer Sicherheit immer genau dann, wenn ich mit Händen und Füßen versuche, genau das zu verhindern.

Ich redete irgendwas, was nicht war, was ich sagen wollte.
Das waren nicht die Worte, die ich mir in der ganzen Nacht, dem Morgen und bis zu dem Anruf am Mittag zwischen Kopf und Mund hatte wachsen lassen.
Mein klitzekleiner Sinnbonsai in einer Untertasse wachsend. Nicht viel Platz wegnehmend. Nur da und leicht zu übergeben.
Und dann quoll mir so ein Wust nesselnden Unkrauts über die Lippen und mit einem Mal schossen dicke Tentakelwurzeln durch mein Gaumensegel direkt ins Gehirn, um alles, was sich dort befindet zu erwürgen und zu einem Leichentheater zu fabrizieren.

Ich mag es nicht sie anzurufen, wenn es mir schlecht geht. Ich bin gestresst, weil ich sie nicht stressen will. Ich will eigentlich nur etwas irgendwo abladen- vielleicht genau dieses wildkrautige Ungetüm in meinem Innen, das ich vor mir selbst mit winzigen Nagelscheren bearbeite und so klein wie möglich halte.
Eigentlich will ich mich nur besser fühlen. Auf wundersame Weise einfach so. Ich will von etwas abgeholt werden, damit ich weiter gehen kann.

Ich machte Geständnisse und zeigte eine Schwäche. Sprach vom Lindenblatt und hoffte doch irgendwie noch, sie wäre vom Drachenblut abgelenkt.
Ich sag ja: dumm.

Sie fragte, ob jemand bei uns schlafen könnte. Meinen Schlaf bewachen könnte.
Ich sagte, dass ich in Zuständen aufwache. Riss meine Angst zu schlafen an, obwohl ich fast zeitgleich das Telefon hätte mitten durch meinem Kopf schlagen können, über meine eigene Dummheit. Wie blöd kann mensch sein?! Ich sagte, ich wolle nicht, dass meine Gemögte mich so sieht. Sagte nicht, was die Gemögte sehen könnte.
Ich sehe es ja selbst nicht, denn: Ich stehe auf und halte die Augen geschlossen, den Atem flach, zittere mich durch die Nacht und warte bis es hell wird. Ich sehe nichts und will, dass andere auch nichts sehen.

Da war die Verantwortungsfrage. Die Frage danach, wer was zu erzählen hat. Die Frage, wer oder was im Innen mich unterstützen kann. Die Fragen, die ich alle nur noch wild strampelnd von mir treten konnte. Die Fragen, die alle nur ein Ziel haben: H. muss weg. H. kann das alles nicht. Wir können auf H. verzichten, weil sie keine sachdienlichen Informationen hat. H. ist nicht für Therapie gemacht. Was treibt H. eigentlich gerade so viel an der Front? Es gibt viel kompetentere FrontgängerInnen bei den Rosenblättern. Weg mit H. Keiner kann sie gebrauchen. H. soll sich eine Anschlussverwendung suchen.

Ich habe nur diese Verantwortung. Ich werde nicht aus dem Fenster springen, damit die Wolke in meinem Kopf vom Flugwind herausgetrieben wird. Ich habe nichts zu erzählen, weil mich das, was ich erzählen könnte, Molekül für Molekül zersetzen lassen würde. Nach Tagen ohne Schlaf, ist auch das dickste Seil nach innen nicht mehr zu spüren.

Also rief ich eine Gemögte zur Hunderunde aus der Pause. Fragte nach einer Nachtwache.
Legte mich hin. Dösdisste die Stunden weg und war hellwach, als sie in meiner Tür stand. Überließ ihr mein frisch bezogenes Bett.

Jetzt soll ich endlich den Laptop ausmachen. Ihn zuklappen, genau wie meine Augen.
Es ist, als würden zwei Zahnreihen aufeinanderkrachen und meinen letzten Halt abbeißen.
schnapp klapp
ab

in die Falle H.

and when the rain begins to fall..

„Wart ihr schon mit NakNak* draußen?“, fragt sie mich durchs Handy.
Irgendwie schaffen es ihre Worte, die Härchen in meinen Ohren zu überspringen und sich in meinem Kopf zu verlaufen, ohne eine Schnur zu spannen.
„Ich komme gerade aus einer denkmerkwürdigen Therapiestunde mit dickem Zeitüberzug- ich bin gerade froh zu wissen, wie alt ich bin.“. Ich stolpere den Weg zur Wohnung entlang und hoffe einfach mal, dass sie die Frage noch mal wiederholt- mehr als das Fragezeichen kam gar nicht bei mir an.

„Wollt ihr alleine sein oder wollen wir mit NakNak* rausgehen? Ich hab die ganze Woche an Schreibtischen gesessen.“. Klingt sie genervt? Meine Sensoren krabbeln durch die Leitung und umklammern jede Silbe, bis wir uns dann doch verabreden.

Wir stapfen auf nassen Trampelpfaden über Wiesen und Felder. Üben mit NakNak* neuen Quatsch ein, was sie mit breitem Grinsen und Sambatänzchen begleitet.

Irgendwo zwischen Herumalbern, Mensch- und Hunderaufen, bunte Blätter bestaunen und Fotos machen, ploppt etwas von der Stunde heute und der von gestern auf und spannt einen seidenen Faden.
Ich muss lachen. Wieder nur so ein Seidenfaden. Damit kann ich keinen Anker an mir befestigen.

Ich lache immer noch, als es anfängt zu regnen und alberne Kinderinnens ein Wettrennen zum Auto anstrengen.
Keuchend fallen wir auf die Sitze, während NakNak* auf die Rückbank klettert.
„Das war was!“. Sie grinst mich an und schaut auf das hechelnde Wesen, das etwa 5 Kilo Acker- und Wildlosungsgemisch mit seinem Fell verbunden hat. „Du stinkst…“, sie lacht: „nach dreckiger Hund!“.

Kurze Zeit später muss ich das Radio aufdrehen.
„Das!!!“
„Was?“, mit geweiteten Augen starrt sie an den Scheibenwischern vorbei, auf die graunass eingetrübte Landschaft.

„And when the rain begins to fall you’ll ride my rainbow in the sky
and I will catch you if you fall you’ll never have to ask me why
and when the rain begins to fall I’ll be the sunshine in your life
you know that we can have it all and everything will be alright“

Das flutscht einfach aus meinem Hals. Einfach so. Ganz leicht.
Wann habe ich das letzte Mal gesungen? Wir hatten gestern darüber gesprochen in der Therapie. Diese Biographiestunde, vor der wir uns eigentlich ein Jahr erfolgreich zu drücken geschafft hatten. Ich hatte gesagt, dass ich gut singen kann und, dass das auch das Einzige ist, das ich wirklich als von mir gemacht erinnere.

Sie stimmt mit ein, trommelt mit den Fingern aufs Lenkrad, während mir die Augen auslaufen.
Das ist das „sozial“, das ich aus Versehen gut kann.

Und mit dem ich zufällig genau das schaffe, was das Kinderinnen, das mir seit Tagen in den Rücken tritt, von mir verlangt: Ihm zu versichern, dass ich es auffangen werde, wenn es fällt. Ohne, dass es sich fragen muss, warum ich das tue. Als Licht in seinem dunklen Moment.
Ihm zu vermitteln, dass es nicht mehr schreien muss, um zu bekommen, was es haben muss.
Deutlich zu machen, dass alles wirklich in Ordnung ist.

Der Radiomoderator lässt das Lied ausklingen.
„Taschentücher sind im Handschuhfach- obwohl- eigentlich wärs jetzt auch ne Gelegenheit laufen zu lassen. Bist ja eh schon nass.“. Wir lachen, als sie ins Bullergeddo einbiegt.

Ich glühe bereits seit einer Stunde vor mich hin und bin ganz froh, dass wir jetzt da sind.
Sie macht es uns beiden gemütlich und kocht Lakritztee.

„Für mich ist es auch wichtig aufgefangen zu werden, wenn ich falle.“, denke ich.
„Ohne darum bitten oder mich dessen versichern zu müssen. Ohne im Dunkeln zu bleiben.
Einfach um zu spüren, dass auch für mich alles in Ordnung ist. Und sei es nur, damit ich dies ehrlich zu den Kinderinnens sagen kann, die es hören und spüren müssen.

Egal, ob es nun wirklich regnet oder nicht.“

Weil sich die Sprachführung über sexualisierte Gewalt verändern muss!

Wenn ich mich darüber aufrege, dass unsere großen (Print)Medien ständig das Wort „Pädophilie“ benutzen, dann hat das folgenden Grund:

Pädophilie meint wörtlich eine Wertschätzung, eine Hingabe, eine liebevolle Zuwendung zu Kindern- keine sexuelle Präferenz!
Eigentlich- wenn sich unsere Leitmedien vernünftig ausdrücken würden- wäre also jeder Mensch der Kinder eben nicht auf sexueller Ebene anziehend findet (und dies auf gewaltvolle Art eben auch ausdrückt- als Teil einer winzig kleinen TäterInnengruppe), ein pädophiler Mensch!

Jede/r KindergärtnerIn, jede Mutter, jeder Vater, jede/r KinderliederschreiberIn, jede/r KinderbuchautorIn- alle verdammt- alle Menschen, die Kinder tatsächlich liebevoll wertschätzen und sie nicht zerstören oder verletzen, sind im Grunde als „pädophil“ zu bezeichnen.

Die Zeitungen aber schreiben von Straftatbeständen! Sie meinen keine Menschen, die sich liebevoll und bewahrend um Kinder kümmern. Sie meinen Menschen, mit als krankhaft eingestufter Sexualpräferenz.
Sie meinen sogar sehr oft Menschen, die nicht einmal diese Sexualpräferenz haben, sondern schlicht das Machtgefühl über ein Kind mit Lust verwechseln.

Diese Menschen als „pädophil“ zu bezeichnen bedeutet, den TäterInnen- den GEWALTÄTERinneN- eine Selbstbezeichnung zuzugestehen, die sie nicht verdient haben. Die sprachlich verklärend und einfach falsch ist.
Es ist mir egal, ob „schon jeder weiß, was gemeint ist“.
Für mich als Betroffene von sexualisierter Gewalt in der Kindheit, heißt das: „Die Täter haben dich aus liebevoller Wertschätzung verletzt und zerstört.“

Das ist nicht wahr.

Wenn ich mich darüber aufrege, dass unsere großen (Print)Medien ständig den Begriff „sexueller Missbrauch“ verwenden, dann hat das folgende Gründe:

In dem Wort „Missbrauch“ steckt auch „Brauchen“, was eine Notwendigkeit- eine Not- ein Brauchen impliziert. Dieses Wort steht für mich in einem weiterentwickelten Denken, das mit dem alten Wort : „Notzucht“ einherging.
Gewalt hat keine Not, die etwas mit dem Menschen zu tun hat, der sie erfährt. Es gibt keine Not- kein notwendig unbedingt zu erfüllendes Bedürfnis, welches mit sexualisierter Gewalt befriedigt werden muss.

Für mich als Betroffene von sexualisierter Gewalt in der Kindheit, heißt das Wort: „Du musstest von TäterInnen benutzt werden, weil sie es gebraucht haben.“
Ich war und bin kein Objekt, dass zur Benutzung freigegeben ist, wie die Notbremse in der Straßenbahn!

Wenn ich mich darüber aufrege, dass unsere großen (Print)Medien ständig das Wort „Kinderpornographie“ verwenden, dann hat das folgenden Grund:

Pornographie ist ein Geschäft. Es gibt VertragspartnerInnen, die mündig sind, eigenverantwortliche Entscheidungen abschätzen und treffen können und nicht zuletzt bezahlt werden, für die Darstellung ihrer Körper bei sexuellen Handlungen.
Für Kinder gilt dies alles nicht.
Sie haben keine Wahl! 

Dieser Begriff suggeriert eine Entscheidung und Bezahlung dieser gequälten Kinder, die es de facto nicht gibt!

Wenn ich mich darüber aufrege, dass unsere großen (Print)Medien ständig Worte wie: „Sextourist“, „Sextäter“, „Sexbestie“, „Sexopfer“, „Kinderschänder“ und „Zwangsprostituierte“ verwenden, dann hat das folgenden Grund:

Sex = Sexualität (freie Wahl und Lust)
Vergewaltigung = Gewalt (keine Wahl und Verletzung)

Sogenannte „SextäterInnen“ sind GewalttäterInnen. Sie nicht so zu nennen, verdeckt die Gewalt und damit alle Not, die über die Betroffenen kommt!
Sogenannte „Sextouristen“ fahren in Länder, in denen Kinder und Jugendliche nicht geschützt sind und dort quasi wie Sonderangebote an GewalttäterInnen feilgeboten werden. Es ist Kinderhandel- Menschenhandel- das hat mit Sex nichts zu tun.
Sogenannte „Sexbestien“ sind besonders hinterhältige und/ oder brutale Straf/GewalttäterInnen. Sie zu Bestien zu machen, entmenschlicht sie. Dieser Begriff gestattet das Denken, es handle sich um eine Tat, die „von Sinnen“ geschah und damit außerhalb der Verantwortung bzw. Straffähigkeit des Täters bzw. der Täterin.
Sogenannte „Sexopfer“ sind eigentlich Gewaltopfer. Doch dieser Begriff wird so gut wie nie verwendet.

Sogenannte „Kinderschänder“ sind GewalttäterInnen. Sie bringen keine Schande über ein Kind- was für eine Schande überhaupt?! Was ist das für ein Denken, in dem Schande über grundlegend unschuldige Kinder gebracht werden kann?! Es ist der/die TäterIn selbst, wo Schande und Schändliches zu verorten sind!

Sogenannte „Zwangsprostituierte“ gibt es nicht. Entweder mensch wird zu etwas gezwungen (und erfährt so Gewalt) oder prostituiert sich (verkauft also eine Dienstleistung, die sexuelle Handlungen impliziert).

Wenn ich mich über die gesamte Sprachführung unserer großen Medien mit ihrem riesigen Einflussbereich aufrege, dann hat das folgenden Grund:

Sie bekommen Geld für jedes Wort, das sie in die Welt schicken.
Sie tragen Verantwortung für jedes Wort, das sie in die Welt und die Köpfe der Menschen schicken.
Sie haben eine Macht und nutzen sie nicht zum Wohle der Betroffenen, sondern immer wieder und wieder und wieder zum Wohle der TäterInnen.
Sie vermischen Sex und Gewalt. Sie implizieren Wahlmöglichkeiten. Sie betreiben offene Häme.
Und niemand haut ihnen dafür die Finger

Sie dürfen mich als Betroffene dieser Gewalt immer wieder über die Sprache denken lassen, eine Wahl gehabt zu haben. Dass ich mich nur hätte wehren zu müssen. Die Gewalt ja doch irgendwie schön gefunden haben zu müssen- schließlich geht es um Sexualität- nicht um Gewalt.
Sie sagen mir immer wieder, dass die TäterInnen die Gewalt an mir gebraucht haben und mich deshalb gezwungenermaßen- weil SIE keine Wahl hatten (nicht etwa ich!)- verletzten.

Das ist alles nicht wahr.
Es ist einfach nicht wahr.

Und wenn ich mich darüber aufrege, dann ist das legitim!
Wenn sich alle konkret Betroffenen darüber aufregen, dann ist das legitim!

Und wenn sich die Presse nicht verändert an dem Punkt, dann ist auch die Frage gestattet, wieso verdammt nochmal die Interessen und Gefühle der TäterInnen so verdammt viel wichtiger sind, als die der Betroffenen!

Ihr™ – ein Rant

Ich lese die Schlagzeilen und denke an Schläge.
Will zuschlagen.
Auf die Finger die „Pädophile“ statt „Pädokriminelle“ schreiben.
Auf dummdreiste Deppen, die so eine unnötige Debatte um Parteivergangenheiten zu etwas machen, das sich wieder auf den Rücken aller Betroffenen ergießt.

Ich will schreien, weil IHR™ so handelt.
Euch die Gefühle, die Gedanken, die Lebenswelten aller Betroffenen so was von verdammt nochmal scheißegal sind, dass ihr™ euch ins Fernsehen, vor JournalistInnen, eure Blogs und ja sogar eure Peergroup stellt und frank und frei den letzten Dreck erzählt.
Manche sind sogar so ekelhaft, dass sie sich ein Alibiopfer an die Seite stellen. „Ich bin ein Held- ich kenne ein Missbrauchsopfer. GUCKT WIE KAPUTT DIES LEBEN IST- DAS KOMMT WEIL WEGEN MISSBRAUCH!!!“

Das ist sowas von ekelhaft!

Ihr™ redet über Missbrauch und bezieht euch auf die 80iger Jahre. Auf eine sich damals gerade mal gründende Partei. Nein- ihr™ redet nicht von sexualisierter Gewalt. Nein, ihr™  redet nicht davon, dass das bis heute etwas ist, mit dem jedes vierte Kind Europa konfrontiert ist. Ihr™  redet nicht davon, dass die Folgen dieser Scheiße bis heute etwas sind, wofür mensch sich schämt. Dass diese Gewalt etwas ist, das euch die Wirtschaft komplett um die Ohren fliegen lassen wird, wenn ihr™ nicht endlich wirklich opfersolidarisch agiert! Ihr™ redet nicht davon, dass ihr™ JA GENAU IHR™ diejenigen seid, die nicht zuletzt auch dafür sorgen, dass diese Art der Gewalt nicht gesühnt und angemessen bestraft wird. Ihr™ versteckt euch hinter armseligen Hilfsfonds und Plakaten. Den millionsten Informationsbroschüren, die „sensibilisieren“ sollen. ÜBERRASCHUNG: Der Bedarf beginnt da, wo ihr™ Feierabend macht!

Und IHR™- ihr anderen Ihrs™- lernt es auch nicht, ne? Ihr™ Schwätzer und Worthülsenschmeißer, die ihr™ euch täglich in Zeitungen und Webseiten erbrecht. Von wem werdet ihr™ gegängelt, dass ihr™ eure Sprachführung nicht einziges Mal so haltet, dass nicht irgendwo diese Scheißmythen über Vergewaltigungen, sexuelle Misshandlungen und Kinderfolterungen aufrecht erhalten werden?!

Es heißt nicht Sextäter- es heißt: Gewalttäter
Es heißt nicht Pädophilie- es heißt Pädokriminalität
Es heißt nicht Kinderpornographie- es heißt Kinderfolterdokumentation
Es heißt nicht Kindersex- es heißt Vergewaltigung eines Kindes
Es heißt nicht sexueller Missbrauch- es heißt sexuelle Misshandlung
Es heißt nicht Kinderschänder- es heißt Gewalttäter

Kriegt ihr™ es denn nicht ein einziges Mal gebacken, das Thema der sexualisierten Gewalt im Gespräch mit der Öffentlichkeit zu haben, ohne die damals wie heute davon betroffenen Menschen erneut zu demütigen, auszubeuten, bloßzustellen, zu verletzen und letztlich doch wieder, in alledem, was ihre Not ausmacht, so verdammt allein und ohne echte Hilfen dastehen zu lassen?!

Ihr™ habt eine Macht.
Ihr™ habt eine Verantwortung.

Und ihr™ missbraucht während ihr™ misshandelt.
Ihr™ missbraucht ein Thema und misshandelt währenddessen wieder die Betroffenen.

Ohrfeigen und mit dem Gesicht an die Wand stellen will ich euch™ .

Schämen sollt ihr™ euch.

Und eurer™ Verantwortung nachkommen verdammt nochmal. Das ist euer™ Job!

die Hängematten im Hof

392095_web_R_K_by_Clara Diercks_pixelio.deDraußen im Hof hingen Hängematten.
Wir durften alle 2 Stunden in den Hof. Rauchen. Kontakt zu Rauchenden von der anderen Station haben. 5 Minuten schaukeln und wieder rein.
Auf Station.
Obwohl ich das Wort „auf“ in Bezug auf „Station“ noch nie verstanden habe.
Ich stieg ja nicht auf etwas drauf, sondern ging viel mehr in etwas hinein.

Sam hatte eine Drogenpsychose.
Oder etwas Ähnliches. Er hatte auf jeden Fall was mit Drogen. Dauernd hatte er seinen Tabakbeutel mit Wasser geflutet und dann den Tabak auf der Heizung trocknen lassen.
Das sollte etwas mit der Stärke machen.
Sam hatte dunkle Haut. Sie rieten ihm deshalb zu Rastas, um das Bild vom jamaikanischen Rastahaschischmann zu vervollkommnen. Sam hatte Halluzinationen von Insekten in seinen krausen Haaren.
Ich glaube, er war froh, wenn er seinen Tabak stark genug bekommen hat.

Diana war schizophren. Und ein bisschen verrückt auch.
Sie hatte mich vor den Hängematten gewarnt. Man könne nie wissen. Sie wuselte, wie eine kleine runde Maus durch den langen Gedärmschlauch in dem sich der Wahnsinn tummelte und doch nur den seltsamen Namen „Station“ trug. Diana hinterließ überall Botschaften. In deutsch, englisch und kauderwelschisch. Geheime Informationen offen zu hinterlassen war ihr Trick. Sie sagte: „Wenn man alles offen schreibt, fangen sie nicht an zu suchen.“ Ich finde das sehr schlau. Bei meinen Rasierklingen hatte das auch immer geklappt. Drei Päckchen klauen kaufen und zwei pseudoverstecken. Ein Drittes suchen sie nicht.
Sie das sind die, die Diana kleine Sender in die Tabletten stecken, damit sie immer wissen, was sie denkt. Deshalb denkt sie oft an Einhörner und Schmetterlinge und nur manchmal daran, wie eklig es aussieht, wenn ihre Gedärme aus den Hängematten quellen.

Tschakkliiien hatte geklaut. Und gelogen. Und mit Jungs rumgemacht. Und sie trug keine ordentlichen Mädchensachen. Und sie hatte ihrer Mutter gesagt, ihr Freund sei ein Kinderficker.
Tschakkliiien gabs gleich drei Mal und in verschiedenen Versionen. Modell Mädelhopper, Modell bunte Doc Martens und Modell Freundschaftsarmband mit Goazeichen. Ich hab zugehört und genickt, wenn sie mir mit glänzenden Augen von irgendeiner Band, einem Konzert oder der Geilheit von Drogen erzählt haben. Sachte von links nach rechts in den Hängematten schwingend, hastig und heimlich noch eine zweite und dritte Zigarette rauchend.
Tschakkliiien kam ins Heim. Der Freund ihrer Mutter kam nicht ins Gefängnis. Schließlich hatte sie ja schon mal gelogen und war deswegen sogar in einer Psychiatrie. Der Freund ja nicht.

Lisa war ein Stöckchen. Ein zittrig zartes Stück Hartholzstock. Sie klapperte ihre Runden im Hof und an den Wänden der Station entlang. Manchmal verwischte sie aus Versehen Dianas Botschaften. Dann huschte sie sachte klickernd in ihr Zimmer und lauschte, wie Diana unter lautem Geschrei über den Flur geschleift und in der Sackgasse- der Endstation Ende von Ende- ausgesetzt wurde.
Lisa aß nicht. Vielleicht weil ihre Holzzähnchen vergammeln, wenn sie Fett oder Zuckerlösung abbekommen. Sie ging zum Essen ins Schwesternzimmer und hob ihren Wollpulli hoch. Sie hatte eine Luke im Bauch, die für Essenseingaben geöffnet und geschlossen wurde.
Sie sagten ihr, sie sei eine wunderschöne Frau. Immer wieder sagten sie ihr, wie schön sie sei. Und wie noch viel schöner sie, mit ein paar Kilos mehr, sein könnte.
Als sie mit einem Herzinfarkt vor einer der Hängematten zusammenbrach, fand ich sie nicht schön. Sie war keine schöne 12 jährige. Sie war ein verhungerndes Kind.

Pätrik und Kevin hatten ADHS. Und viel Langeweile.
Wenn sie keine Langeweile hatten, hatten sie Spaß. Mit Fußball. Kicker. Fangen. Kloppen. Irgendwas mit Actionhelden. Wenn sich keiner um sie kümmerte, hatten sie ADHS.
Ich glaube, sie waren eine Impfung für die Irren. Die Antikörper des Wahnsinns. Eine Dosis krankgeredeter Alltagsschmerz. Sie rüpelten, nervten, witzelten, verärgerten, forderten, ermunterten, johlten und klatschten. Mit Volldampf. Aus allen Poren. Immer.
Warum ständig an ihnen gezogen wurde, habe ich nicht verstanden. Manchmal mussten sie „Dipi“ schlucken. Sie waren die Einzigen, deren Medis nach Süßkram rochen und deren Eltern dauernd angerufen haben.

Ab 19 Uhr war Telefonzeit.
Und freie Rauchzeit. Niemand suchte mich bis 20.30 Uhr. Außer vielleicht Diana, die kontrollieren musste, ob ich nicht gerade von Pferdedärmen erdrückt würde. Man kann ja nie wissen.

Ich guckte in den Himmel und stieß mich immer am Fenster ab. Rauchte bis mir schlecht war. Einmal hatte ich 12 Stück in einer dreiviertel Stunde geschafft. Dann hatte mich Sam gestört, weil er trockenen Tabak zum Rauchen brauchte und ich konnte nicht mehr unterscheiden, ob mir vom Schaukeln oder dem Rauchen schwindelig war.

Für die Irren ist es Telefon- und Wartezeit, für ihre Wärter ein täglicher Parcourlauf mit Hindernissen:
Sam heult, weil der heilige Tabaksaft die Heizung runterläuft und das Telefon zur Abnahme und Weiterreichung klingelt, während Diana mit jedem Ton des Geräts einen spitzen Qiekser von sich gibt, worüber Kevin und Pätrik lautstarkes Gebrülllachen schütten, was eine der Tschakkliiiens zu bändigen versucht.

Ich lag in der Hängematte und schaute ihnen manchmal zu. Inhalierte den Rauch und pustete ihn auf die faustgroße Deoverbrennung auf meinem Unterarm. „Auf Fettgewebe“, dachte ich. Ich dachte immer, es sei Fettgewebe. Meistens war es aber einfach nur die Hautschicht unter dem ledrigen Teil.
Manchmal überlegte ich, was Diana wohl zu so einem Anblick sagen würde. Aber sie war schon so oft im Wartehäuschen der Endstation. Ich wollte nicht, dass sie anfängt zu überlegen, was für Poster sie sich dort aufhängen könnte, um es wenigstens etwas gemütlicher zu haben.

Meine Lieblingshängematte war zwischen zwei Dachpfeilern gespannt. Diese waren rundherum mit Platten gepflastert. Zwischen diese Platten passte genau eine halbe Wilkinson. Schützend eingewickelt, in das Papier der Hülle. Die andere Hälfte passte perfekt in den Hohlsaum der Hängematte.

Das Telefon klingelte nie für mich zwischen 19 und 20 Uhr 30.
Aber ich klingelte zwischen 23 und 1 Uhr nachts nach der Nachtschwester.
Meistens, weil mein Fettgewebe nicht aufhörte zu bluten.

S/schuld

Es soll empowernd sein, wenn in Videos oder Texten oder Selbsthilfegruppen oder aus dem Mund der TherapeutInnen der Satz kommt: „Es ist nicht deine Schuld“.

Ich habe oft darüber nachgedacht, warum ich es nicht schaffe zu fragen, was sie meinen.
Was denken sie, empfinde ich als meine Schuldigkeit?
Manchmal dachte ich, in ihrem Kopf gebe ich mir die Schuld daran, misshandelt worden zu sein. Als sei es dieser Satz der GewalttäterInnen, der sich in meinem Fühlen breitgemacht und zu einem dichten „Ich bin selbst schuld an meinem Schmerz“ verworren hätte.
Die Ebene, mein Sein als Ursprung einer Schuld zu empfinden, sich selbst als etwas zu sehen, das von Anfang an und immer schuld ist, Schuld in sich stapelt und vereint zu einem nicht abtragbarem Berg… das ist nicht vorgesehen in dem Satz.

Irgendwann fühlte ich mich berührt von einem inneren Hauch, der mir sagte: „Du bist nicht S/schuld“. Dachte, „Vielleicht bin ich nicht meine Schuld und Schuldigkeit. Vielleicht bin ich nur die Hülle für die Schuld, die sie über Jahre in mich hineingestaucht, getreten und gequetscht haben.
Irgendwo musste sie doch hin. Die Schuld.“.

Bin ich an einen Punkt, an dem ich mich damit versöhne, ihnen etwas gestellt zu haben, was ihnen sonst niemand bot? An dem ich denke, dass der Akt des Schuldinsichhineinlassens, des Schuldalssichselbstbetrachtens zu dem gehört, was einfach ist. Eben doch. Egal, was andere Menschen, vielleicht vor allem jene Menschen, die ihre Schulden, ihre Schuld und Schuldigkeiten wie eine Ware, ein Objekt von sich abtrennen und in die Hände G’ttes oder des Lebens oder einfach irgendwohin fort von sich schicken können, sagen.

Vielleicht gerade, weil es so viele Menschen gibt, die Schuld von sich wegtragen. Sie muss doch irgendwo hin um zu verschwinden. Es ist ja nicht so, dass sie schwindet, nur weil sie ver-schwindet.

Es ist Yom Kippur und ich esse, trinke und besuche die Synagoge nicht.
Hannes sagt, mit G’tt zu sprechen und sich Gedanken zu machen reiche auch.
Eva sagt, Religion ist kein Wettbewerb.
Ich glaube, ich muss mehr darüber lernen, was Schuld genau ist. Was genau eine Sünde zu einer Sünde und Schuld zu einer Schuld macht. Was genau ein Erlass, eine Umkehr, eine Sühne ermöglicht.

Es ist eine der giftigsten Verstrickungen der Gewalt an mir, die mir bis heute die hohen Feiertage zur mit schwierigsten Zeit im ganzen Jahr macht. Sie ist, was ich nie loswerde. Nie aufbürden und abgeben kann. Nie verschwinden machen kann.

Sie ist in mir, vielleicht ich selbst. Vielleicht bin ich es, die ver- weg- ge- geben sein muss, um schwinden zu können.
Vielleicht muss ich mir noch viel mehr von mir geben, um mir etwas von mir ver- geben zu können.