shutdown

Dieses Jahr versuchte ich mich zu entspannen. Ganz dringend sehr schnell Ruhe zu finden und Kraft zu tanken, für all die Dinge, die zu tun sind. Allein mit meinen Büchern sein, zeichnen, das Hörbuch, das wir schon länger geschenkt bekommen hatten, anhören, Kekse essen, lange Runden mit NakNak* machen.
Nichts davon hat bis jetzt wirklich zu Entspannung geführt.

Am Morgen bin ich noch müde, denn Traumascheiß kennt keine Feiertage oder den Moment, in dem man nicht mehr nachtritt, weil jemand schon am Boden liegt. Mittags bin ich fertig mit den Nerven, weil ich noch keine Ferienroutine habe. Da sitze ich in der Küche und weiß: Ich habe Dinge zu tun – kann Dinge tun, die ich in der Schulzeit nicht tun kann – und weiß nicht wo wie womit wann anfangen. Und fange dann gar nichts an. Bleibe sitzen und starre Brandflecken in die Luft bis NakNak* kommt und mich nervt, damit wir rausgehen.

Draußen ist es kalt und nass. Draußen ist Weihnachten und ich laufe an Häusern vorbei, die entweder voll mit Familie sind oder leer, weil alle bei der Familie oder Freund_innen sind. Ich muss uns eingestehen, dass wir es nicht schaffen unseren Freund zu besuchen. Muss andere, hellwach überreizte Ichs hinter mir daran erinnern, dass wir keine Familie haben, zu der wir fahren wollen.
Merke, wie mir die zwei Wochen Ferien zu wenig sind, für das Ausmaß an Ruhe und Alleinseinbedarf, der direkt neben dem Wunsch steht, mit all dem nicht allein sein zu müssen. Der neben dem Wissen steht, dass wir das auch nicht müssen. Neben dem wiederum die Klarheit ist, dass genau das nicht aushaltbar ist, weil es zu viel erfordert und abverlangt.

Nach 3 Tagen weint es einfach aus mir raus und ich merke meinen Selbsthass wie etwas, das von meinen Schultern klettert, um mir durch Augen, Nase, Mund und Ohren in den Kopf hineinzukommen. Alles ist dicht, jeder zusätzliche Reiz zu viel. Meine Tränen brennen mir Schneisen ins Gesicht und es gibt nichts, das macht, dass es aufhört. Ich würde sagen, das ist ein Nervenzusammenbruch. Von nichts. Denn ich weiß nicht, woher es kommt.

Ich will, dass es aufhört. Das weiß ich schon. Ich weiß auch, dass es ein so traumanaher Gedanke ist, dass es gute Chancen auf einen alltagstriggerscheiß Zustand gibt, der latent mit dem Alltag mitschwingt. Aber ich weiß auch: ich bin gerade nicht im Flashback. Ich bin real überreizt von all dem Alles in einer Zeit, in der ich sehr viel Nichts brauche. Doch sobald ich zur Ruhe komme, kriecht das Trauma wieder hoch.

Ph und: “das Trauma” wie das klingt. Viel zu weich, um diesen baumstammdicken Schmerzreiz, der mir senkrecht durch den Rumpf schießt, um in der Mitte angekommen, eine schrille Kaskade nach der anderen loszutreten, zu beschreiben.
Es ist ein Horrorloop. Einer, bei dem es nicht reicht bei der Telefonseelsorge anzurufen, oder der Therapeutin zu schreiben, oder mit dem Begleitermenschen zu sprechen.

Es ist eine Ecke von “nichts hilft”, der man nur wahrnehmend zunicken, aber keinesfalls um Halt ersuchen darf, weil man sie erkannt hat.
“Nichts hilft” ist das Medusenhaupt der Traumascheiße. Du darfst wissen, dass du das gerade fühlst und es dich gerade anschaut, aber du musst die Augen schließen und warten. Augen zu und durch_über_leben. Du weißt nicht, wie lange das dauert und wie schlimm es noch wird, aber irgendwann geht es nicht mehr darum, was hilft, sondern, dass es vorbei ist. Das traumatisierende Moment, genauso wie das Loophole aus PTBS-Symptomatik und dem Dauerlauf der Kompensation dessen. Irgendwann kommt es bei uns immer und es ist immer eine Frage von Zeit und Raum. Der Shutdown. Das Moment, in dem nichts mehr rein und nichts mehr rauskommt.

Es hat keinen Sinn dagegen anzukämpfen. Es vielmehr so, dass dieser Zustand etwas für uns erkämpft, in dem er uns zum Aufhören zwingt.
Also hören wir auf, mehr als die Basis zu wollen oder zu müssen.
Mehr von uns zu fordern, als weiter am Leben zu bleiben.

weglaufen

Ich weiß nicht, ob die Person am Steuer des Wagens mich nicht gesehen hatte oder für Einbildung hielt. Wundern würde es mich nicht. Wie wahrscheinlich ist es, dass dir nachts um 3, wenn du, warum auch immer im Auto sitzt und irgendwohin unterwegs bist, jemand über die Landstraße vors Auto rennt und mehr zufällig als durch aktives Zutun nicht unter die Räder kommt?

Für mich war es nichts weiter als ein Moment der Verwirrung. Das Gefühl den Faden eines Willens oder Gedankens verloren zu haben. Puls, der mir gegen den Unterkiefer wummert, kalte feuchte Haut. So außer Atem sein, dass es brennt.

Diesmal war es nicht weit. Vielleicht 5 Kilometer von unserer Wohnung entfernt. Aber es war das erste Mal, dass es auf diese Art gefährlich war. Und – vielleicht muss ich das hinzufügen, weil ich es nicht genauer weiß – das erste Mal, dass ich es als so gefährlich wahrgenommen habe, wie es ist.

Das Auto fuhr weiter, ich blieb mit einem Fuß im Straßengraben stehen und sah ihm nach. Es war Dienstagmorgen, in ein paar Stunden würden wir in die Schule müssen. Klausuren schreiben, Dinge lernen. Reden. Zuhören. Und später arbeiten. Und am Abend würden wir mit unserer Therapeutin darüber reden, warum es wieder losgegangen ist.

Dieses Weglaufen mitten in der Nacht, das wir seit ein paar Jahren schon immer wieder um diese Zeit herum erleben. Nie um irgendwo hinzukommen, wohl aber um wegzukommen, scheinbar egal wie.

Als ich nach Hause lief, dachte ich nur darüber nach, was für eine verdammte Scheiße das ist und warum ich mich eigentlich nie zusammenreißen kann. Ich schmückte meine Unzufriedenheit über mein Unvermögen mit Flüchen und festem Auftreten auf die Straße, die niemand außer mir benutzte, und wärmte mich daran auf. Wie tröstlich so eine Prozession mit allem, was man kennt. Wut, Aggression, alles über_greifende Strenge.

13 Wachstunden später, machte die Therapeutin eine Geste zu einem Geräusch, die sie noch nie gemacht hatte. Vielleicht brauche ich merkwürdige Erstmaligkeiten, um zu Bewusstsein zu kommen, denke ich jetzt. Denn wieder war es, als würde ich in einem Gedankensein unterbrochen oder würde einen Faden verloren haben, den zu haben mir vorher nicht bewusst war. Ich hörte ihr zu und begriff, dass wir diese Nacht hätten verletzt werden können. Sterben können. Überfahren von jemandem, der nachts übers Land donnert, weil er nicht mit Menschen oder Tieren rechnet, die seine Strecke kreuzen.

In der nächsten Nacht verpackten wir den Haustürschlüssel und schlossen uns ein. Das hatte wohl in den letzten Jahren geholfen, aber mehr als die Erinnerungen und Notizen der Therapeutin begründete diese Maßnahme nicht für mich.

Heute beschäftigt mich, ob das meine Art von Vertrauen ist. Dinge zu tun, die auf der Erfahrung und Erinnerung anderer Menschen beruhen und nicht auf dem, was ich denke oder glaube. Über das Weglaufen dachte ich nämlich im Grunde nichts außer, dass es scheiße ist, weil es mir beweist, wie wenig Kontrolle ich über mich (uns) habe. Und, weil es gefährlich ist und zwar so gefährlich, dass unsere Therapeutin etwas tut, das sie sonst nicht tut. Was irgendwie in sich eine neue Gefahr ist.

In der Nacht blieben wir zu Hause. Ich fand mich verwirrt und abgekämpft im Flur wieder, so ausgelaugt und ängstlich wie mich nur desorientierte Innens fühlen lassen.

Das ist besser als beinahe überfahren zu werden und im Dezember mit nassen Hosen nach Hause zu laufen. Aber mehr auch nicht.

wert_los

Am Morgen las ich, dass es typisch für manche autistische Menschen ist, eher ärgerlich als depressiv zu wirken und fühlte mich seltsam entlastet.

Es ist das Eine zu wissen: „Mein Trauma war es, gerettet zu werden und das als überwältigendes Eindringen ins eigene Da_wo man ist_sein zu erleben“ und sich damit zu erklären, warum man im Grunde nie etwas anderes getan hat oder wollte, als dass Menschen gewisse Abstände einhalten.

Das Andere ist, in dem Umstand erkannt zu sein, dass man es nicht ertragen kann, wenn jemand so nah ist, dass es nicht nur zu nah, sondern auch zu viel Ein_Druck und Anspruch ist.

Etwas anderes ist die Idee, hinter „lautem Verhalten“ (wie Aggression zum Beispiel) stecke „eigentlich“ ein niedriges Selbstwertgefühl und die Depression. Uns wird ständig ein niedriges Selbstwertgefühl attestiert. Sei es, weil wir bloggen, weil ich Leute weghalte, weil wir XY tun oder nicht tun. Der Umstand, dass meinunser Selbst vielleicht nur für ebendiese Menschen keinen Wert hat, bleibt ausgeblendet. Denn: das kann ja gar nicht sein.

Vielleicht hat mein Ausdruck weniger mit mir zu tun, als mit dem worum es mir geht. Mindblowing, hm? Vielleicht ist so mancher Menschen Dreh- und Angelpunkt nicht das soziale Universum der emotionalen Zwischen_Menschlichkeit, sondern der Interaktion an sich.

In meiner Auseinandersetzung mit „meinem Autismus“ fällt mir auf, dass mein Problem öfter ist in meiner „eigentlichen“ Interaktion gestört zu werden und zwar von Menschen.

Menschen, die meinen man könne nicht mit Dingen, Dynamiken, Zufällen, Reihenfolgen, Abläufen sozial interagieren. Für sie sind die Dinge, die mir wertig sind, weil sie etwas in mir machen und bewegen, nicht gleichermaßen wichtig, wie ein laut_sprachiges Reden oder andersähnlich Miteinander zu tun haben. Für sie bedeutet „sozial“ = „Menschen“ und nicht „Uneinsamkeit“.

Im Moment erleben wir eine depressive Episode. Eine überfordernde Mischung aus Erinnerungen an Gewalt, die sich durch das Netz der dissoziativen Barrieren drücken; unseren ganz eigenen Bewältigungs- und Umgangsstrategien damit und dem Alltag, in dem wir versuchen zu wachsen und zu lernen. Auch über uns.

Ich schreibe das nieder, weil ich mir bewusst halten will, mich oder uns nicht für „eigentlich wertlos“ zu halten. Das tue ich nicht. Das habe ich nie getan. Wohl aber fühle ich mich und das, was mir wertig ist, als wertlos von Menschen wahrgenommen. Meine Abwehr ist mir wertvoll, meine Einordnung von dem Moment, in dem mir etwas oder jemand zu viel wird, ist wertvoll. Selbst dann wenn jemand das als „Vermeidungsverhalten“ oder als „Noncompliance“ oder als „narzisstischen“ Persönlichkeitsquirk betrachtet und damit so ziemlich alles ausblendet, was ich überhaupt an mir habe.

Es geht darum, dass wir ein anderes Wertesystem haben oder präziser: andere Dinge (auch) bewerten.

Das ist wichtig zu verstehen. Sonst missversteht man mich und uns. Und gibt uns das Gefühl wert_los zu sein oder mit etwas in Kontakt gehen zu müssen, dem wir wertlos sind, weil alles, was es in uns zu sehen und zu finden glaubt, für und aus sich selbst heraus kommt. So jemand oder etwas braucht uns nicht. So jemand oder etwas hat kein aufrichtiges Interesse an uns. Da geht es um Bestätigung von Annahmen oder Überzeugungen.

Da geht es um Grenzen, die nicht (gut genug) eingehalten werden.

durchaushalten

Der Regen schneit in aller Unförmigkeit auf uns runter, als wir durch den Wald nach Hause laufen. Sie könnte schreien vor Schmerzen, doch wieder ist es das Fehlen einer konkreten Quelle, die einen Ausdruck dessen unlogisch macht. Die Haut ist taub. Kalt, aufgerissen, feucht unter Kleidung. Weh tut es darunter.

„Es ist ja kein Aufgeben von allem“, sagt sie und argumentiert uns in eine Mauer hinein. „Wir sind viele, ja, aber das allein bedeutet doch nichts weiter. Außer Arschkarte halt.“.

Sie hat zuletzt am Wochenende mehr als 2 Stunden geschlafen. In unser beidaller Blut schwimmen Medikamente, die man nicht ins Klo entsorgen darf.

Klausurenphase. Zweifelzeit. Beklommenheit.

Während die Schritte unter uns in Matsch und Regenwasser verwinden, denken wir einander mit Gefühlen und Wahrheiten zu. Wissen, der Schlafmangel verzerrt alles. Die Not hat keinen Platz, dort wo wir sind. Wissen, wo wir sind, hätten wir nie hingemusst.

Wir laufen weiter. Nach Hause. Zu Tee am Küchenfenster und Klausurenvorbereitung auf dem Schoß. In unsere Festung des Durchaushaltens.

Fundstücke #54

Da ist Unsicherheit, schreibt sie und deutet auf ihr Zwerchfell, das wie ein Spinnennetz zwischen Lunge und Bauchnabel zittert.

Wir lassen das jetzt lieber sein, beschließen wir und denken: „Ok, vielleicht ist das wirklich das Beste. Wir sind weit gekommen und vielleicht ist mehr wollen einfach zu viel mehr für uns.“.

Es ist eine Stille, bemerke ich und betrachte die Schweigestücke auf dem Stück Blick, wo ich meine Wörter habe.

Es ist diese weißweiche Nebelwand. Kapitulation. Einen Schritt zurück. Alle Fühler eingezogen. Aufgelöstes Verharren, zittern, die Menschen beäugen und die Welt als etwas erleben, das durch die Ohren hineingekrochen kommt.

Es ist fremd in seiner Vertrautheit. Beängstigend in der Art wie es weich macht, nebelig und ruhig.

Sie versucht die Ränder zu erfassen. Findet weder Anfang noch Ende. Das macht die Verunsicherung noch größer.

Fundstücke #53

Und plötzlich ist Dezember.
Es ist, als hätte sich der Lauf der Dinge an einer Stelle überfressen und mich hier ausgekotzt.
Dinge, die ich machen wollte, sind vorbei. Dinge, die ich jetzt machen muss, fühlen sich unnatürlich gestellt und dadurch unschaffbar an. Vielem stolpere ich wieder einmal hinterher, manches fürchte ich als unausweichlich.

Nach viel Zeit allein, bin ich mir, uns, so nah, dass ich merke, dass unser Gesamtzustand gelitten hat. Trotz aller Achtsamkeit, Fürsorge und Bewusstheit. Manchmal denke ich, dass es vielleicht genau deshalb für mich spürbar ist. Weil ich achtsam bin. Weil ich mich kümmere und dran bleibe.

Und das Leben tobt weiter. Beruhigend irgendwie.
Selbst dann, wenn ich hier so stehe und mich weder halten noch tragen kann, weil ich mir erst einmal wieder Wurzeln in das Hier und Jetzt wachsen lassen muss.

Zweifel

Es begann mit dem Zeitungsartikel, in dem vom Insektensterben berichtet wurde.
Heute gibt es 75% weniger Insekten im Vergleich zu einem Zeitraum, der noch gar nicht so lange her ist.

Es ging weiter mit Artikeln zum Klimawandel. Nicht als “könnte eventuell vielleicht”-Blablabla, wie ich es als Jugendliche in den 2000ern noch lesen durfte, sondern als “HALLO WERDET AKTIV”- Ausrufezeichen mitten in meine Gefühle der Ohnmacht.
Dazu kam ein Atomstörfall in Russland, eine Regierung, die es gar nicht gibt, weil – ja warum eigentlich? Haben die Leute da vergessen, dass sie mit einem Job beauftragt wurden, oder was? – Puerto Rico hat noch immer keinen Strom überall, Flint kein sauberes Wasser, ständig brennt eine Unterkunft für Geflüchtete und immer noch gibt es Menschen, die anderen Menschen grundlegende Rechte nicht zugestehen wollen.

Ich saß unserer Therapeutin gegenüber und versuchte mich auszudrücken, obwohl ich gleichzeitig von der inneren Gewissheit eingenommen war, dass es sinnlos sein würde, darüber zu sprechen.
Mein Angefasstsein von solchen Dingen gehört einfach in mein kleines Kämmerlein, weil drüber heulen nur genau dort Sinn hat. Außerhalb dessen muss man den Arsch hoch kriegen, weiter machen, immer wieder ansprechen, bewusst machen, wo Verschwendung passiert und wie es anders besser funktionieren könnte sollte müsste.
Müllvermeidung, aufhören Tiere zu essen, Bus- und Bahn statt Auto fahren, solidarisch sein und bleiben, Gefallenen beim Aufstehen helfen – immer weiter immer weiter machen. Nicht aufhören, nicht ergeben, nicht fallen lassen, denn irgendwann bleibt man liegen und wofür hat mans dann überhaupt je gemacht?

Seit dem Klinikding, denke ich dauernd, ich müsse meine Motivationen und Gedanken rechtfertigen. Muss unterstreichen, dass ich wirklich und in echt nicht meinetwegen darüber verzweifle, nicht mehr tun zu können, als meinen Müll zu vermeiden, nachhaltig gewirtschaftet zu konsumieren und andere Leute damit zu nerven, dass sie die x-te Petition gegen Regenwaldzerstörung, Ölbohrungen im Meer, Monsanto und Glyphosat unterstützen sollen.
Jedes Mal drehe ich mich aus dem Gefühl nicht ernst genommen zu werden, weil man sich meine Worte zurechtdreht und in ihrer Wichtigkeit abtut. Jedes Mal unterdrücke ich den Wunsch Leute zu schütteln oder anzuheulen, wenn sie mir sagen, dass das doch eh alles gar nicht reicht oder genug ist. Noch mehr, wenn sie mir in ankumpelnden Ton sagen, sie halten Weltverbesserer für selbstsüchtige Gutmenschen und würden deshalb extra einfach gar nichts verändern.

Jedes Mal, wenn wieder sowas war und ich am Ende doch wieder in meinem Kämmerlein darüber heule, denke ich, dass das eigentlich alles ist, was das mit mir zu tun hat: dass es mich fertig macht und so viele andere nicht.
Vielleicht, eventuell, denn was weiß ich über die Kämmerlein anderer Leute.

Während der Therapiestunde kam noch eine weitere Komponente für mich über uns dazu.
Nämlich die des Dramas von Menschen, die an Dinge glauben und deshalb Dinge tun. Auch in anderen Kontexten.

Es ist ein Thema von uns, Dinge dafür zu tun oder wollen oder zu machen, weil wir davon überzeugt sind, dass sie das Richtige und Wichtige sind, um die Welt zu einem guten Ort für alles und alle zu machen. Dafür mache ich heute viel und dafür haben andere Innens früher viele Dinge getan. Und: an sich tun lassen.
Und zwar nicht, um selbst etwas davon zu haben oder deshalb für sich einzufordern, sondern, weil man ihnen sagte, dass es um den Fortbestand der Welt als eine bessere geht.

Natürlich kann man sich der Erzählung vom Sozialmärchen des Altruismus und der Selbstlosigkeit hingeben. Kann zynisch auf Gruppen wie die, in der wir über_gelebt haben schauen und sehen: “Ja ha genauso läuft das nämlich – mächtige Leute bringen dumme kleine Würstchen dazu zu denken, sie würden etwas für ein höheres Wohl tun, aber in Wahrheit…”
Man kann sich aber natürlich aber auch fragen, warum man selbst kein solches “höheres Wohl” im Kopf hat. Warum man so bereitwillig aufgibt, daran zu glauben, dass es mehr geben kann, als Unterdrückung, Zerstörung und Überlebenskampf. Oder warum man auf Menschen herabschaut, die das nicht tun.

Man kann sich fragen, warum manche Menschen so viel bereitwilliger Verantwortung für den Bockmist anderer einstehen und sich bemühen, Dinge besser zu machen und manche nicht. Warum manche Menschen im Grunde die ganze Zeit damit beschäftigt sind, sich nicht einzumischen, über Macher_innen zu lästern und selbst nichts anderes als Eskapismus zu zelebrieren und warum das für manch andere die schlimmste Form der Kapitulation vor den herrschenden Verhältnissen ist. (Selbst dann, wenn man erkannt hat, dass Eskapismus als solcher auch eine Protestform sein kann!)

Nach der Sitzung schrieb ich bei Twitter, dass ich festgestellt hatte, dass für mich die Apokalypse schon da ist.
Und zwar nicht, weil ich denke, dass jetzt schon alles kaputt ist, sondern weil ich bemerkt hatte, dass ich dieser unserer Gesellschaft nicht (mehr) zutraue, dass sie den Arsch hochkriegt, weil sie begreift, was hier gerade jetzt in dieser unserer gemeinsamen Lebenszeit passiert.
Zu einfach ist es, die Tage mit Dingen zu verbringen, die unser Klima negativ beeinflussen und Ausbeutung fördern, ohne es überhaupt zu bemerken. Zu leicht ist es, sich selbst nicht als Teil dessen zu empfinden, was alles krepiert, wenn Flora und Fauna, Klima und Planet abkratzen.

Und warum fasst mich das so an?

Weil ich dafür nicht überlebt haben will.
Weil ich die Enttäuschung darüber, dass es kein echtes “besser als früher” gibt, nicht einfach so akzeptieren will.

Es war für mich, für uns, damals schon schlimm genug zu merken, dass nach dem Ausstieg nichts aber auch wirklich gar nichts kam, das irgendwie “gut” war. Dass wir uns jedes und es sei es ein noch so kleines “besser” oder “okay” alleine erkämpfen und erbetteln mussten und selbst bei Erfolg nicht einmal davon ausgehen konnten, dass das für immer bleiben würde.
Es ist mir schlimm genug, bis heute diesen de facto unausgleichlichen Mangel im Leben zu haben und zu wissen, dass das niemand nachvollziehen kann, die_r das nicht genauso auch üb_erlebt (hat).

Wir haben in unserer Therapie noch nie viel darüber geredet. Über dieses Gefühl von Beschiss von beiden Seiten. Den “Guten” wie den “Bösen”.
Geschweige denn über das Gefühl, das auch nirgends wirklich genauso ausdrücken zu können, ohne diesen Touch von “Die glaubt wohl sie hätte was besseres verdient” oder “Undankbares Miststück, die Rosenblatt” oder “Das Leben ist kein Ponyhof – deal with it” als Reaktion miterwarten zu müssen.

Denn: ja klar haben wir was Besseres erwartet. Warum sonst hat man uns denn jahrelang damit unter Druck gesetzt auszusteigen und angebotene Hilfen anzunehmen, wenn nicht dafür, dass es uns besser er_gehen soll? (Vielleicht eventuell etwa doch, weil man uns etwas glauben lassen wollte, damit wir etwas tun, was wir aus uns selbst heraus gar nicht getan hätten, wenn wir es nicht geglaubt hätten…?)

Sicher erscheinen wir undankbar, wenn wir sagen, dass es uns nicht reicht so zu leben, wie wir gerade gezwungen sind zu leben. Gerade dann, wenn man sich schwer tut uns zu glauben, dass unser Leben ein unfreies und trotz vieler Fortschritte nachwievor scheiße nochmal schmerz_volles ist. Obwohl wir nicht mehr ausgebeutet und konkret verletzt werden. Und, obwohl es Millionen von Menschen noch ganz viel schlechter geht.

Es ist die Parallele, die es so unaushaltbar macht.
Für mich, weil ich zwar nicht genau weiß, was wir konkret nicht mehr erleben, aber sehr wohl weiß, was es bedeutet, keine Familie, keine gänzlich bewusste Geschichte und keine strukturelle Einbettung zu haben.
Und für uns als Person, die sich in einen Kontext einzubinden versucht, der von Trennung dominiert ist.

In jedem Fall geben wir viel uns weg, strengen uns an, verzichten, nehmen uns Verantwortungen an, auf die andere ganz gezielt scheißen – und bleiben mit nichts weiter da stehen, als dem Wissen, dass wir damit zwar nicht allein, aber auch nicht in einer Masse gemeinsam sind, die genau das verändern kann.
Manche Aktivist_innen beschreiben genau das Gefühl mit dem Begriff “activist burn out”. Das “sich aufrauchen” an einer Herausforderung, die überfordern muss, weil sie weit über das Individuum hinausgeht.

Vielleicht will ich am Ende einfach nur nicht akzeptieren, dass das Leben in dieser Zeit, dieser Gesellschaft, diesem Lauf der Dinge nun einmal so ist und wir einfach reingefallen sind. Vielleicht will ich es am Ende doch aus ganz eigennützigen Gründen nicht akzeptieren, für so eine Scheiße so gelitten und verzichtet zu haben, aber bedeutet das denn zeitgleich, dass meine Bemühungen nie um etwas anderes als mich selbst gekreist sind?

Immer wieder muss ich an den Grabstein denken, von dem H. uns mal erzählt hatte. “Ihr Leben war Last und Müh’ “ hatte da drauf gestanden.
Sowas nicht zu wollen – nicht akzeptieren zu wollen, dass es eventuell sein kann, dass dieses ganze Gekämpfe niemals aufhört, ganz egal was man warum und für wen und für welches Ziel auch immer – Himmel ja das ist egoistisch hoch zehn. Aber ist das nicht auch eine Hoffnung, die man braucht, um neugierig auf das zu sein, was man stattdessen tun könnte?

Als wir uns damals gegen die Familie* und alles entschieden haben, dachten wir, wir könnten ja vielleicht irgendetwas anderes lernen. Irgendwas machen, was für andere hilfreich ist. Irgendwas erschaffen, was das, was danach kommt, zu einem guten Zeit_Raum macht. Sowohl für uns, als auch für andere. Weil wir ja nicht mehr allein sein würden. Weil wir ja nicht mehr so seltsam fern und fremd von dem sein würden, was uns umgibt.
Ich hatte mir das so gut ausgemalt.

Vielleicht zu gut?
Vielleicht hätte ich das nie machen sollen? Würde es dann heute weniger weh tun?

Themenwoche “Ableismus”

Seit NakNak*s Diagnose haben wir Themenwoche “Ableismus”.
Und weil wir gerade niemandem all das sagen können, was wir sagen wollen, schütten wir unsere Worte mal wieder hier hin.

Es begann damit, dass wir unsere eigene Behinderung und die damit einhergehenden Begrenzungen gespürt haben.
Das informierende, beratende Gespräch mit dem Tierarzt war wenig informativ und vielleicht zu holterdipolter nach der Diagnose, um beratend zu wirken. Er spricht kein glattes Deutsch und was meistens kein Problem ist, war diesmal, wo es mir um wirklich jeden Aspekt der Erkrankung des Hundes ging, ein Riesenproblem.

Ich konnte den Sinn seiner Worte nicht verstehen. Konnte mich nicht auf einer Ebene mit ihm bewegen und entsprechende Fragen stellen. Was ich aber wichtig finde, wenn es darum geht, was für NakNak* gut und wichtig ist. Sie ist scheiße nochmal so sehr davon abhängig, dass wir gute Entscheidungen für sie treffen. Es ist wichtig, dass wir alles verstehen. Und es klappte einfach nicht. Mein Verstehstress, tickte meine Ohnmachtsgefühle an, ein anderes Innen tauchte auf. Scheiterte. Wir kamen richtig in Stress und sind da ~irgendwie~ raus.
Super Leistung.
Nicht.

Wir wissen, dass in uns in solchen Momenten sehr alter Selbsthass wieder angeht, der teils erlernt und von außen nach innen genommen wurde, sich aber auch aus unserem Anspruch an unser Funktionieren ergibt. Und ich weiß, dass viel von unserem Selbsthass aus den ableistischen Demütigungen in  unserer Kindheit und Jugend kommt. Ich weiß, warum es in meinem Kopf 24/7 dauerschleift, dass ich gefälligst reden soll, wenn man mit mir redet. Dass ich nicht so behindert glotzen soll. Dass ich meinen blöden Arsch hochkriegen soll, um Dinge so zu tun, wie man es mir gesagt hat.
Und trotzdem.
Es ist etwas anderes in so einem Moment.

Da reicht es nicht zu wissen, dass das alles vorbei ist. Dass ich, dass wir Dinge können und bla bla bla – denn in diesem Moment ist da eine Behinderung und sie passiert genau da, wo ichwir und meinunsere Fähigkeiten enden. Und allein aus uns heraus kommen wir da auch nicht drüber.
Und so denken wir uns gerade die Zukunft mit NakNak*, die blind wird und uns immer und konsistent klar und auf sie passend eingestimmt braucht: Wir brauchen Hilfe dabei und niemand raffts.

Und wenn wir daran scheitern, dann sind wir die Person, die ihren Hund weggibt, weil sie nur eine funktionierende Maschine benutzen will.

Stichwort “funktionierende Maschine” – das ist die andere Seite
Seit wir das wissen, fragt uns jede_r die_r davon erfährt, ob man das operieren kann. Wegmachen kann. Aufhalten kann.
Und niemand redet mit uns darüber so, als hielte man es für notwendig, dass wir das machen, oder so, als würde man von uns erwarten, dass wir das machen lassen – sondern EINFACH NUR SO – was ich nicht verstehe.
Alle Menschen in unserem Leben wissen, dass wir uns das nicht leisten können und aus Gründen, die mit unserer Haltung zu Speziezismus zu tun haben, auch nicht wollen. Und trotzdem reden sie mit uns lieber über eine Operation, als darüber, wie (ob) wir uns fühlen, welche Ideen wir haben, was für (ob) Gedanken uns bewegen, was man sich als hilfreich für den Umgang vorstellen könnte.

Meistens weiß ich auch gar nicht, wie ich mich fühle. Denn ich hab Themenwoche Ableimus an NakNak* und daneben noch zig andere Baustellen, die teilweise ihr ganz eigenes Feature in ebenjene Themenwoche einfließen lassen.
Die Menschen sind alle zugewandt und wollen mit uns sein – aber es verletzt so sehr, wie sie es versuchen.

Ich, wir, versuchen NakNak*s Blindheit als etwas zu akzeptieren, das passiert. Als das “Risiko”, das wir eingegangen sind, als wir uns dafür entschieden haben, einen gemeinsamen Weg zu gehen. Nicht als etwas, “wogegen man angehen muss”, was “ja eigentlich nicht so schlimm” oder “eine traurige Sache ist”.
Denn genau diesen Scheiß haben wir mit unseren Behinderungen jeden scheiß verdammten Tag schon für und über uns und unsere Un_Fähigkeiten, x-mal am Tag auf dem Tableau.

Es ist nämlich genau das auch mit unserem Autismus. Weil es “bei uns ja nicht so schlimm ist”, sieht niemand unsere Kommunikationsprobleme und überfordert uns immer wieder. Weil “es ja so eine traurige Sache ist”, bietet man uns manchmal Hilfe an, wo wir gar keine brauchen oder bevorzugt uns schneller mal auf sozialen Ebenen. Weil “man ja dagegen angehen muss”, halten so viele Leute unseren überdurchschnittlichen Lern- und Arbeitszeitraum für legitim und nicht das Ergebnis von Bewusstsein über die Notwendigkeit mehr als andere Menschen kompensieren zu müssen.

Kompensation ist, was die Leute sehen, doch nicht begreifen. Sie sehen einen Rollstuhl und denken: “Ah behindert, weil kann wohl nicht (so gut/lange/weit..) laufen.” und eben nicht: “Ah kompensiert mit dem Rollstuhl die Behinderung, die dadurch entsteht, dass…” und das ist der Punkt.

NakNak* war und ist nachwievor etwas und jemand, die_r uns sowohl Kompensations/Hilfsmittel als auch Begleiter_in ist.
Sie ist nicht wichtig für uns, weil wir behindert sind.
Sie ist, wichtig für uns, weil der Großteil von uns nicht sprechen kann/will bzw. nicht spricht, um zu kommunizieren. Sie ist wichtig, weil sie uns damit geholfen hat eine Routine zu etablieren – und bis heute hilft, diese aufrecht zu erhalten. Sie ist wichtig, weil wir in ihr viele Anhaltspunkte für das eigene Stresslevel haben und ach vieles mehr. Manches haben wir Stefan auf dem Podstock erzählt und manches in dem Text über sie letztes Jahr.

Ihre gesamte Ausbildung basierte auf Sicht bzw. alle Signale/Befehle an sie sind (und manche: auch) Handzeichen.
Aus Gründen, die wir nicht einfach mal eben so umstricken können oder wo man einfach so sagen kann: “Ja ach das wird schon…”. Wir hatten uns dabei schon was gedacht und müssen auch heute noch sagen, dass sich keiner dieser Gründe erledigt hat.
Und nein – es ist auch nicht aufmunternd oder tröstlich oder hilfreich, wenn uns Leute schreiben, dass sie in einer ähnlichen Situation auch dachten, sie würden das nie schaffen, aber dann doch geschafft, weil… Das ist es schon deshalb nicht, weil sich sowas aus der Retrospektive immer leicht sagen lässt und Geschichten vom Nichtgeschaffthaben so gut wie nie erzählt/geteilt werden.

Gerade bei Haustieren ist Nichtgeschaffthaben so eine Sache. Ein Tier aus dem Tierheim zu holen ist Gold, wer vom Züchter abkauft, elitärer Scheißspießer, der einen Designerhund will, der dann doch im Tierheim landet, weil besonders so ne Leute doch alle Versager sind. Tierheimtiere brauchen Retter_innen blablabla Ein Herz für Tiere zeigt sich in bedingungsloser Aufopferung kotzbrechbla

Und in so einer Lage, wie meinunserer?
Wo wir uns sehr wohl auch reflektieren müssen, ob wir mit den Problemen, die NakNak* kriegen wird, langfristig wirklich die richtige Person sind, schmeißen wir sie damit weg oder was? Oder denken wir da nicht vielleicht irgendwie doch so verantwortungsbewusst, wie man das von Haustierhalter_innen erwartet?

In einem anderen Haushalt würde man sie vielleicht operieren können (finanziell) und würde sich mit der Entscheidung nicht herumquälen (weil man ihr Einverständnis dazu nicht einholen kann, aber das nicht problematisch findet). In einem anderen Haushalt würde das Leben vielleicht auch nicht auf die Richtung zugehen, wie bei uns mit Auswander- Berufseinstiegverselbstständigungs- und Familienplanungsüberlegungen – da hätte sie vielleicht noch Zeit sich umzugewöhnen, so lange sie noch sehen kann und ist dann bis zum Lebensende supergechillt und glücklich, weil sich nicht dauernd alles ändert?
In einem anderen Haushalt müsste sie nicht mehr arbeiten. Da wären vielleicht Leute, deren Schwierigkeiten im Alltag anders und nicht so kontinuierlich wie bei uns vorliegen?

Ich würde anders darüber nachdenken, wenn wir in den letzten Jahren mehr Fortschritte an den Stellen gemacht hätten, die NakNak* uns kompensieren hilft. Haben wir aber nicht. Auch aus Gründen. (Die völlig okay sind und andere gemachte Fortschritte deshalb nicht abwerten).

Ich weiß im Moment nicht, wie ableistisch mein Blick auf uns ist. Mache ich gerade zu viel von meinunseren Fähig- und Fertigkeiten abhängig? Unterschätze ich die Fähigkeiten, die NakNak* hat, selbst wenn sie blind ist? Entlang welcher Parameter kann man alternativ entscheiden bzw. auseinandersetzen?

Ich wünsche mir im Moment so sehr meine Anti-Ableismus Timeline in die direkte Nachbarschaft.
Wünsche mir lange Stunden mit Auseinandersetzung und Diskurs darüber, wo es langgehen kann, wenn man die ableistischen etablierten Pfade verlassen will.
Ich hätte gern, dass mich niemand trösten will, sondern auf das stößt, was ich gerade ausblende.
Kein Vermeidungstanz, sondern echte aufrichtige Mit-mir-zusammen-Auseinandersetzung.

Zum Einen um dahin zu kommen, einen Umgang zu finden – zum Anderen aber auch, um selbst in der Situation anzukommen.
Denn eigentlich – emotional – stehen wir (Rosenblätter) da noch in der Praxis und verstehen gar nichts außer: Wir haben keine Ahnung, was wir tun sollen und ob wir dem genug sein können.

Während andere Innens Schule, Alltag und Gedöns weitermachen als wär nichts gewesen und wir uns fragen müssen, ob da überhaupt irgendwas von dem Tierarzttermin angekommen ist.

das unerwartete Klingeln

Es ist so wenig lange her, dachte ich. 9 Jahre. Nein, 10.

An dem Abend hatte es an der Haustür geklingelt.
Wochenende, später am Abend. Einfach so.
Irgendwer wird irgendwas von uns gewollt haben, das jetzt nicht mehr wichtig ist. Also wird es für uns unwichtig zu wissen, wer das war.

Das ist neu. Ein neuer Teil unserer Freiheitspraxis. Unwichtige Dinge, unwichtig bleiben zu lassen.
Dass jemand bei uns klingelt, am Wochenende, an einem späteren Abend, einfach so, ist heute etwas, das auch unwichtig sein und bleiben kann.

Es macht uns unruhig. Triggert uns in Erinnern. Es lässt uns alte Reaktionsimpulse fühlen.
Aber es ist auch unwichtig. Und das ist gut.
Es ist wichtiger, dass wir schon im Schlafanzug sind und nicht mit jemandem verabredet. Wichtiger, dass wir uns erinnern, dass heute heute ist und so viel anders. Guck der Hund, guck die Kleidung, guck die Haare, guck der Freund, die Freund_innen, die Schule… all die Leute – alles wichtiger als, dass da mal was war, das sich die meisten um uns herum, nicht mit uns zusammen denken können.

Natürlich saßen wir hier wie auf heißen Kohlen. Selbstverständlich war alles wieder da. Und ja, wir schlichen auf Zehenspitzen durch die Wohnung, um uns mit einem Cuttermesser in der Hand in den Wohnungstürwinkel zu stellen. Es ist unwichtig, wer da geklingelt hat – das macht den Gedanken, sich selbst für den eventuell doch eintretenden Fall, dass sich Jahre später noch einmal etwas wiederholt, zu schützen, nicht auch unwichtig.

Hätten wir diesmal etwas anders gemacht? Wirklich zugestochen? Nach unseren Nachbar_innen gerufen? Ich glaube nicht.
Das Denken in Worten war vorbei. Das Funktionieren in Reiz-Reaktionsmustern an. Nicht desorientiert und voller Angst, sondern völlig schörkellos und klar.
Es war das Stehen in der Stille, das Warten auf Schritte oder Geräusche im Treppenhaus, das langsam alles aufgelöst hat. Das Espassiertnichtmehr, das sich mit dem Moment vermischte und mich bewusster atmen ließ.

Am Montag sprachen wir mit der Therapeutin darüber. Darüber hinweg.
Wie das damals war, dieses Ding. Es klingelt und wir lassen alles stehen und liegen. Greifen nach der Handtasche und steigen in das Auto, das unten wartet. Ohne wenn, aber, wer wie was.

Nie, weil das nicht wichtig war, sondern, weil das wichtig war.

Niemals etwas zu fragen, bedeutet auch niemals etwas zu sagen zu haben.
Das ist effizient. Unpersönlich. Dissoziativ.
Um nichts anderes ging es dabei. Nicht um uns, nicht um irgendjemanden.

“Damals hatten ja auch alle Angst, dass wir bald tot sind.”, sagte eine und, “dass wir ja auch dauernd irgendwie auf Droge waren – entweder verschriebenen oder gegebenen.”. Und ich merkte, dass 10 Jahre eben doch ganz schön viel sind. Dass es eben doch eine ganz schön lange Zeit ist, überlebt zu haben. Zu entziehen. Clean zu bleiben. Nicht aufzuhören, nach dem zu greifen, was man sich gemeinhin so als “Leben” vorstellt.

Als wir nach der Stunde in die Wohnung treten, reißt die gebastelte Anwesenheitsnotiz vom Türrahmen. Zwei Stückchen Klebeband und dazwischen ein Bindfaden. Mit Trick 17 zum Realitätscheck. Niemand wird uns in der eigenen Wohnung erwarten. Niemand wird uns verletzen, bedrohen und dann seelenruhig die Tür hinter sich schließen, weil er weiß, dass er nichts zu befürchten hat.

10 Jahre sind eine lange Zeit.
Aber ein Klingeln zu ungewöhnlichen Zeiten, ist noch immer kein unerwartetes Klingeln allein.