ein Montag

Geisterhaar “Ich habe einen Drive- G’tt sei dank. Dann ist dieses übelste aller PMS-Dinger ever vielleicht morgen schon durch.”, dachte sie und kämmte die nassen Haare.
”Duschen ohne weinen. Auch schon länger her.
Gehört das zu “Wie Sie existieren”?”.

Dem dumpfen Branden im Hinterkopf lauschend, schreibt sie lächelnde Emails, füllt Überweisungträger aus.
Telefoniert mit dem Betreuungsgericht.
“Nächste Woche noch mal anrufen”, kritzelt sie als Gesprächsnotiz an die Innenseite ihrer Gedanken.

Die nassen Lockwelldellen wirbeln im frischen Sommerwind, als sie zur Sparkasse geht. “Ich könnte ja auch mal wieder in die Bücherei gehen… Nadia und Charlott lesen so coole Sachen und ich immer nur Arbeitszeugs.”. Der dicke Stapel Kontoauszüge gemahnt ihrer Schlampigkeit.
“Du kannst echt nicht mit Geld umgehen.” knirscht es in ihrem Kopf. Enttäuscht. Muttienttäuscht.
– “Mir hat nie jemand beigebracht, wie “man” mit Geld umgeht”, schickt sie zurück. Enttäuscht. Tochterenttäuscht.

on another love …
all my teeeears…

la la lalaaaa

on another love…

Sie macht Fotos.
“Wie Ihr Existieren aussieht” hatte die Therapeutin gesagt. “Machen sie mal Fotos davon” und sie hatte abgewiegelt.
Unser Hartz 4 – Palast mit Kellerleben drin, nein so wie er ist, zeigen wir ihn nicht.
Aber das Existieren vielleicht. Irgendwie, wenn Fotos so etwas transportieren können.

Ein neues Regal haben wir. Ein blaues hohes Regal von dem zugemüllten Schrotthaufen auf dem Dachboden nebenan. Alle Mal- und Kunstkrempelsachen sind dort jetzt drin und das Arbeitszimmer evolutioniert sich langsam zum Wohnzimmer.
Vielleicht wird es aber auch eine Art Gebärmutter.

Dort war noch kein Fremder drin, der keine Erlaubnis dazu hatte.

Auf dem Herd kocht ein Gulasch. Szegediner Gulasch ohne stopfige Kartoffeln gibts heute.
Wir wollen ab jetzt einmal in der Woche richtig echt kochen. Nicht “essen machen” und damit Glutamatsuppe oder andere gesundheitsschädliche Dinge meinen.
Mal sehen, wie lange das klappt.

Heute hatten wir PMS- Wonderwomenstiefel an.
Morgen arbeiten wir an unseren Projekten weiter.

I wanna cry and I wanna love
but all my tears have been used up
On another love, another love,
All my tears have been used up

“Wir sind Viele” ~ Teil 10 ~

TröpfchenaufBlüte “Ein Körper mit System” wurde gezeigt.
Ein Film von den Nickis, der ihre Lebensrealität beschreibt und versucht das Viele sein begreifbar zu machen.

Im Hinblick auf den Akt der Selbstermächtigung und der Kraft, die der Erstellung eines Filmes (Buches, Blogs oder anderen Medien) zu Grunde liegen, kann man so einen Film nur feiern. Kein Roman, kein “Profi” der über jemanden mit DIS spricht, sondern der Mensch selbst gewährt Eindrücke, die ihm wichtig erscheinen.

Für uns war der Film in Sachen “Hoffnung auf Zukunft” eine Katastrophe.
Ich weiß nicht, ob es daran lag, dass wir einfach furchtbar übermüdet waren. Ob es an den von mir aufgenommenen Mechanismen im Workshop lag, die mich ganz subtil getriggert haben oder, ob mir in dem Moment klar wurde, dass dort gerade viele Menschen sitzen und hören, dass Viele sein ein Zustand für immer ist.

Es kommt ganz am Ende und sie sagen sinngemäß: “Ich kannte eine, die hat sich integriert und kam in die Geschlossene.”. Und die gefilmte Therapeutin sagt in etwa: “Ja klar, denn sie wurden Viele, weil eine allein, die Gewalt nicht ertragen hätte.”.

Wir hielten noch etwas aus. Hofften, dass sich der Abstand zu der Lebensrealität dieser Überlebenden wieder vergrößerte und gingen in den von Licht gefluteten Park, als die Tränen fast schon aus dem Kopf fielen.

Da waren sie wieder die Jugendlichen, die vor BetreuerInnen, Krankenschwestern, ÄrztInnen stehen und hören: “Du wirst die geschlossene Psychiatrie nie verlassen.”, die fixiert in einem leeren Raum liegen, während ein Pfleger um sie herum geht und ihnen sagt, wie unheilbar krank sie sind.
Da stand Sie und fragte sich, ob sie gerade sich selbst in 10 Jahren gesehen hatte und, ob es sich überhaupt lohnt in Therapie zu gehen, wenn sie “diese Missbrauchssache” nicht einmal wirklich richtig spürt, wenn “das mit den Anderen” doch nie “weggeht”.
Da war Frau Wüterich und schwenkte ihre Fäuste asynchron zum Kopfschütteln “soneveralteteKackscheißeverdammtkanndochnichseindassdiesowashierzeigenverfickterDreckskack…
GegengenausowasschreibenwiranverdammteScheiße… ORRRRRRRR”
Und mittendrin ein Kinderinnen, das seine Kugel aus Hoffnung in der Hand hielt und den dicken Sprung auf der Oberfläche betrachtete.

Wir hatten schon lange nicht mehr so einen Moment, in dem wir darüber zerfielen, was noch aus uns werden könnte.
Zum Team “ich bin Viele und das ist total okay für mich” gehören wir nicht.
Zum Einen, weil wir es immer wieder unfassbar bereichernd wahrnehmen, wenn eine Integration oder auch vorher schon mehr Nähe untereinander passiert und zum Anderen, weil wir diesen Schaden einfach nicht akzeptieren wollen.

Wir haben massive Gewalt ertragen und nicht nur in Abgründe sehen, sondern haben in ihnen leben müssen. Andere Menschen haben unseren Körper, unsere Seele und auch noch unser Denken an sich gerissen, manipuliert und ausgenutzt. Wir sind ein Mensch, der sich so oft von sich und seiner Umgebung abtrennen musste, dass er sein Selbst und Dasein bis heute als fremd wahrnimmt.
Ich fühle mich nie willkommen und okay. Nirgends, nie und bei niemandem. Nicht einmal in mir selbst. Nichts, aber auch gar nichts in meinem Leben ist einfach oder leicht. Jeder Aspekt meines Alltags wird in Definitionsdebatten zwischen früher und heute, an Wertmaßstäben jeder Couleur überprüft und in Frage gestellt. 24 Stunden am Tag und das schon seit Jahren. Was ich bin, ist ein Flickwerk, das mir mindestens einmal am Tag zusammenkracht, wieder aufgebaut wird, um dann vor Angst vor dem nächsten Krachen zu zittern.

Mein Leben ist nicht schön. Es ist zum Kotzen. Es besteht aus Angst vor der Angst, permanenten Todeserwartungen und Belastungssymptomen, die so tiefgreifend an den Kräften fressen, dass bloßes Dasein an manchen Tagen schon zu viel ist.
Mein Leben ist: Blümchen pflanzen, wo 21 Jahre lang Brandrodung betrieben wurde.
Ich lebe es, weil es das Einzige ist, das mir geschenkt wurde, ohne, dass ich darum gebeten habe.
Meine Existenz ist es, an der Raubbau betrieben wurde. Rücksichtslos, gierig, aus Lust am Sadismus. Sie haben mir das einzige Geschenk, das ich jemals einfach so haben durfte zerstört, verschoben und verknotet.
Und wenn es die Chance gibt, nämlich die Therapie, nämlich sich jedem Riss, jeder Delle, jedem abgeplatzten Fetzen zu widmen und ihn so, wie es sich für mich/uns allein gut anfühlt, zusammenzufügen, dann ist es das, was wir machen.

Auch wenn das heißt, dass wir vielleicht nie passen werden. Vielleicht nie in eine Arbeit kommen, die von der Gesellschaft akzeptiert wird. Vielleicht nie die Art der Familienplanung, die wir uns wünschen, machen können. Vielleicht heißt es, dass wir uns immer in Grauzonen bewegen müssen, die in den existierenden Strukturen unsichtbar sind.

Aber wir werden unser Leben bzw. die Arbeit daran, die wir tun können, nicht beenden, bevor es sich nicht wenigstens ein einziges Mal okay und zusammengehörig angefühlt hat.

“Das ist nicht mein Leben in dem Film”. Ich schüttelte meinen Kopf so sehr, wie ich konnte und strich mit der Fingerspitze über die Rinde eines Baumes neben mir. “Ich bin noch keine 30, wir haben endlich eine gute Therapeutin gefunden, haben Menschen um uns herum, die sich ehrlich an unseren Erfolgen und unserem Zusammenwachsen innen erfreuen. Das da ist nicht mein Leben gewesen. Ich will nicht Viele bleiben, also werde ich das nicht.”.
Ich atmete ein, schmirgelte die verlaufene Wimperntusche von der Haut unter den Augen ab und ging zurück in Richtung Tagung.

Mit jedem Schritt das Kraftmantra:
Ich will das
Ich kann das
Ich mach das

Dem Kinderinnen dabei zuschauend, wie es mit meiner Energie den Riss in seiner Hoffnung kittete.

“Wir sind Viele” ~ Teil 8 ~

GänseblümchenSchlossWaldthausen Wir mussten los. Schnell, denn um 22 Uhr würde niemand mehr in der Jugendherberge sein, unseren Koffer freigeben und uns den Schlüssel zum anderen Zimmer, dem Mehrbettzimmer, geben.

Wir stiegen in das beheizte Taxi, hörten “diamonds are a girls best friend” nach Musik zum französischen Heimatfilm, der Sonnenschein und kleine Dörfer zeigt, als wir durch die Kulissen dazu hindurchglitten. Mitten in der Nacht.

Ich ging in das Zimmer hinein und legte die Sachen ab. Obwohl es im Gebäude brummte und summte, war es seltsam still und ein hohes Fiepsen irrte in meinem Hören umher, wie eine Ratte im Labyrinth.

“Wir brauchen ein Minilaptop – eins von diesen ganz winzigen Dingern- ich muss schreiben- ich muss das loswerden- ich will das nicht in mir drin behalten, da krieg ich Verstopfung und blärg. Mir ist jetzt schon so schlecht ihgitt ba ich muss gleich kotzen, alter the fuck- wieso siehts hier aus wie bei Hempels unnerm Sofa verdammter Dreckskack- ich will- gib her ich muss schreiben- ich will- muss das- ich muss das aufschreiben the fuck verdammter Scheiß raus damit” sie wühlte den Koffer durch, kramte im Rucksack und versuchte zu schreiben, statt den Stift zu zerstören.
Wenn sie so in Fahrt ist, muss ich an eine Szene in die Schöne und das Biest denken, in der das Biest sein Gesicht im Suppenteller versenkt, während Belle einen klitzekleinen Löffel in ihrer klitzekleinen Mädchenhand hält. Dann stimme ich ihr zu. Mit weniger Konzentration auf die Mechanik des Schreibens Assoziationen, Erinnerungen, Gedanken und Gefühle aus sich heraus zu holen und woanders als in sich zu stapeln, ist in solchen Momenten genauso erlösend, wie ein Finger im Hals oder eine Ohnmacht in Panik.

Sie krickelte drauf los und endete frustriert. Die Hand kam nicht mit ihrem Tempo mit. Die Mine des Stifts brach, die Erschöpfung des Tages riss alles in seinen Abgrund. Sie legte die Sachen beiseite.
“Es ist Shabbat…” wisperte es von irgendwo und schon standen die Teelichter angezündet auf dem Tisch.
Durchatmen, sich dem Licht widmen, sich in der Schöpfung, dem Sein zentrieren, auch das in dem Moment eine Er- vielleicht auch Loslösung.
Eine Pause auf dieser rasanten Fahrt durch Gedanken, Lebensrealitäten, Meinungen und Weltbilder, Erinnerungen und Trauer, die unter Gefühlen aller Art zu ersticken drohte.

Gerade hatten wir die Kerzen gelöscht und Besinnung (und Sinne) in uns verteilt, öffnete eine Mitschläferin die Tür zum Zimmer.
Eine Stunde später, trat die zweite fremde Person hinein.

Wir versuchten bis halb 3 Uhr morgens unseren Angstpuls an den Schnarchrhythmus eines der Menschen im Zimmer anzupassen. Dann ging die mit dem Charme eines mittleren Eisenbahnunglücks vor die Haustür und fragte die dort lautstark trinkenden Jugendlichen, ob sie noch alle Latten am Zaun hätten.
Wir versuchten uns irgendwie in der Waage zu halten und wenigstens körperlich etwas zu ruhen.

“Alter, das machn wir nie wieder, damit das klar is- ich will son Minilaptopdings zum ordentlich schreiben und ich will entweder auch was zu trinken oder n Zimmer alleine verdammte Scheiße und jetzt hier Fresse maaaaan ich will schlafen- krieg dich ein mal jetzt hier is bald Aufstehzeit verfickter Kackscheißdreck verdammter- kanndochwohlnichwahrseinverdammtnochmal … “

Frisch wie der junge Morgen, flanierten wir wenige Stunden später auf dem Gelände des Schloss Waldthausen herum.
Natürlich.

“Wir sind Viele” ~ Teil 2 ~

Die Reise begann und noch während sie sich in ihrem Platz einrichtete, beugten wir uns über die Architektur der folgenden Tage.

Im letzten Jahr haben wir viele Reisen unternommen und trotz vieler kleiner Inseln, in denen wir Kraft tanken konnten, gemögte Menschen besuchten und unsere Sinne wie Saugnäpfe an die Umgebungen hefteten, gab es immer die klare Linie: Hingehen, machen, wieder weggehen.
Wir riskieren keine Lücken, wenn wir wissen, dass wir zu arbeiten haben oder Arbeitsrelevantes tun. Freizeit ist die Fahrtzeit. Das Stück zwischen: “Ist es wirklich der richtige Zug, aus der richtigen Stadt, in der richtigen Zeit?” und “Komme ich zur richtigen Zeit, in der richtigen Stadt an?”.

Donnerstag, heute, würden wir unsere erste Lücke leben. Einen Nachmittag nur für uns allein. Ohne hundische Assistenz, dafür ohne Druck von außen.

Sie saß dort und dachte ihre Gedanken, die keine sind.
Wir schauten aus dem Fenster und lenkten uns von der Angst vor Menschen ab.
Ich liebe die Zugstrecke zwischen Koblenz und Mainz.
Wie sich der Fluss in den Schoß der Weinberge schmiegt und die Schiffe auf sich trägt.
Wie kurz vor kitschig, die kleinen Häuser am Ufer stehen, wenn die Sonne auf sie scheint. Und immer wieder die Frage, ob es schlossartige Gutshäuser oder guthausartige Schlösser sind, die dort, wie von einem riesenhaften Kind auf die Berge geklebt, erscheinen.

Mainzzug
Ich nahm so viel dieser ruhigen Idylle in mir auf, wie ich tragen konnte und steckte sie in kleine Säckchen, als emotionale Wegzehrung bis wir am Samstag Abend wieder hier entlang fahren würden.

In Mainz angekommen, wartete die erste Anforderung an unsere, sich vorsichtshalber unterm Tisch versteckende, Alltagskompetenz: “Finde den richtigen Bus, der dich zur richtigen Jugendherberge bringt und kaufe dafür das richtige Ticket.”
Vielleicht ist jetzt ein guter Moment einmal zu beschreiben, was genau NakNak* in solchen Momenten für uns tut, wenn sie bei uns ist.
Gleich zuerst einmal drückt sie sich ins Geschirr hinein und spannt die Leine. So spüren wir sie und uns gleichzeitig und das Wissen einen Körper zu haben, wird eine feste Konstante. Wer einen menschlichen Körper hat, der hat meistens zwei Beine mit Füßen dran, die auf einem festen Boden in einem Hier und Jetzt stehen.
An Orten wie Bahnhöfen oder offenen Plätzen, läuft sie in kleinen Ausschlägen vor uns her oder wenn wir gerade stehen, steht oder sitzt sie neben uns und achtet darauf, dass Menschen einen Abstand zu uns halten. Sie hilft uns also, unsere Individualdistanz zu wahren bzw. gewahrt zu wissen.
Hunde sind beliebte Haustiere und viele Menschen wissen nicht, dass es so etwas wie Assistenzhunde auch für Menschen, die gut sehen können gibt. “Ach ist der aber süß”, war schon sehr oft ein hilfreicher Gesprächsstart für uns. Sowohl um Hilfen zu erbitten, als auch um nicht zu vergessen, dass NakNak* manchmal auch auf unseren Schutz angewiesen ist. Meistens jedoch ist NakNak* aber die beste erste Hilfe, wenn wir menschliche Unterstützung brauchen und zu gefangen in Gefühlen sind, um sofort darum zu bitten.
Zum Beispiel wenn jemand von uns überfordert und verwirrt an einem Fahrkartenautomaten steht. 

In Mainz sind die Menschen aber irgendwie “auf”. Zumindest, der Mensch, der die Verwirrung in unserem Gesicht sah und uns bei der Auswahl half, ohne, dass wir darum bitten mussten und der Mensch, der uns die Buslinienkarte erklärte, als sich die Stirn erneut unter Fragezeichen kräuselte.
Dort wo wir wohnen, schauen die Menschen oft erst einmal eine Weile zu und überlegen, ob sie ihre Unterstützung anbieten sollen oder nicht. Deshalb ist NakNak* dort oft so ein Gewinn für uns.

So landeten wir also in der Jugendherberge. Die Sonne schien und jede Pflanze wisperte uns den Frühling ins Ohr.
Von Gepäck befreit, gingen wir im Volkspark und im Rosengarten spazieren.

StiefmütterchenMainz

 

BlütenHimmelMainz

Von Weitem sahen wir dort schon den Rhein.
Keine Frage- egal, was es noch alles Schönes in dieser Stadt geben könnte- das Wasser… oh bitte bitte endlich ein bisschen mehr fließendes Gewässer als Bäche und modrige Mückentümpel… endlich…

Wir kommen aus dem Norden.
Dort, wo das “da” ein winziger Punkt auf der haarfeinen Linie des Horizonts ist; wo der Blick frei ist, ohne an Bergen und Wäldern abzuprallen, wie eine Stubenfliege an der Scheibe, waren wir seit Jahren nicht. Oft ist es kein Thema, wie groß das Meerweh ist. Heimweh folgt dem nur allzu oft auf dem Fuße und mit ihm die Gedanken an die Zeit, in der wir weggingen und so viel mehr als Gewalt und Todesnähe verließen.

Wir liefen auf das Ufer zu und durchquerten dabei die hübsche Altstadt von Mainz, in der wir einem Saxophonisten, einem Klarinettisten und einer Cellistin, die von einer Querflötenspielerin begleitet wurde, lauschten und mit etwas Kleingeld beglückten.
Nebenher ein Schnappschuss vom Dom

domdings 

Und dann endlich standen wir am Rhein.
Typischer Wasserwind, Möwen, Enten, Schwäne, Kähne, Kutter und Schiffe. Dazu eine Aussicht, die so nah an das, was wir nicht mehr Heimat zu nennen wagen, kam, dass es über meine Kraft ging, die Tränen aufzuhalten.
Es ist so ein großes Opfer gewesen wegzugehen und wir hatten nie den Raum, die Zeit und vielleicht auch nie das echte “Okay” dafür, genau diesen Schritt zu betrauern und zu integrieren. Zu groß war die Last als Jugendliche hinter einer Entscheidung zu stehen, die blind getroffen wurde und in aller Konsequenz zu leben war. Und später war es der (oft unausgesprochene) Anspruch, doch froh zu sein, von DORT und von DEM weg zu sein.
Als hätte das Meer und seine Weite uns misshandelt, nicht Menschen, die dort leben.
Geblieben sind kleine Herzen, die in Trauer sind und ihre Tränen, wie Steine zum Gedenken ans Ufer eines Flusses fallen ließen. Ich wiegte sie auf meinem Rücken und fütterte sie aus meinem Säckchen voll Idylle.

Andere machten Fotos. (einige werden wir in unserem Fotoblog “einfach mal angucken” veröffentlichen)
rheinufer

 

RheinMain

Am Abend wollten wir uns mit einer Bekannten treffen. Ein bisschen Reden, zu Abend essen, die Stadt näher betrachten.
Da wir leider zu spät für einen Besuch des Gutenbergmuseums dran waren, setzten wir uns auf von der Abendsonne beschienene Bänke davor und ließen die Umgebung auf uns wirken. Neben uns saßen zwei Künstler und zeichneten den Dom mit Tinte.
“Ich glaub, das ist einer der Dialekte, der T’s, K’s und Endungen frisst… “runnäfalle” hahahaha Lass des ma nisch runnäfalle Schädse”, hörte ich von weiter vorn. Die Frontgänger wieder mit ihrem “Sprachknall”.

GutenbergmuseumAbendsonne

Mit der Bekannten haben wir “durcheinandrige Pommes” gegessen und Tee getrunken, wie noch nie zuvor. Twitterfazit dazu: “und es ist nur mittelseltsam”.
Tee kannten wir nur in Beutelform und Pommes als “zu teuer”, “ungesund”, “gerade geschnitten”. “Curly Fries” haben den gleichen Status wie “Früchte, die komisch gucken”.
Vielleicht erscheint es irrelevant- es ist eine Mahlzeit und ein Getränk- “Kriegt euch ein Rosenblätter- man kann es auch übertreiben…”. Für uns ist es Freiheitspraxis und immer wieder ein Reiz, der mit nicht vielen anderen Situationen abgeglichen werden kann. Solche Dinge sind es, die uns klar machen, wie begrenzt unsere Lebenserfahrung ist und wie facettenreich das ist, was die Menschen “Norm” nennen.
“Eure Welt ist so reich und ihr zuckt mit den Schultern…”, sie schaute die Menschen um uns herum an und beobachtete sehr genau, wie das Sieb im Teeglas die losen Teeblätter vom Wasser trennte.
Mittelseltsam, denn immerhin: Angst hatte sie keine. Wir haben das Sitzen in Cafés und Restaurants schon oft geübt.

Am Ende des Tages fanden wir uns in dem Jugendherbergszimmer wieder und telefonierten in Ruhe mit den Sommers.
Beruhigende Abendroutine inmitten eines Tages, der ziemlich weit neben “Routine” passierte.

Später fiel auf, dass wir unser Schlafnilpferd vergessen hatten.
Wir streichelten und summten, verfütterten ein weiteres Säckchen voll Idyll.
Bis irgendwann die letzte Träne geweint war und der Schlaf seine Decke über uns ausbreitete.

~ Fortsetzung folgt ~

„Wir sind Viele“ ~ Teil 1 ~

kleineBlütenweiss Die Idee sich selbst im Spiegel zu betrachten und zu sehen, was es zu sehen gibt, geistert noch immer in ihr herum und arbeitet sich von Knospe zu Blüte.
Ich schaue ihr zu, wenn sie das Glas mit einem Finger berührt und darüber nachdenkt, wie es überhaupt möglich sein soll, sich zu sehen.
Ist es doch nur Glas, das Licht reflektiert
und sie… ein Dunkel, ein Leer, ein Da.

Am Morgen des 26.3. 2014 hob sie den Kopf und starrte in die Pupille hinein.
“Ich will das.
Ich kann das.
Ich mach das.”

und glaubte es wirklich.

Wir sind nach Mainz zu der 2. interdisziplinären Trauma- Fachtagung “Wir sind Viele” gefahren.

Wieder eine fremde Stadt. Zum ersten Mal ganz allein.
Als Fremde unter Fremden, fern aller Netze.
Eigenverantwortlich, erwachsen, autonom.
Das erste Mal.

Ich strich ihr über den Kopf.

“Wir, mein Herz…
wir machen das.”


~ Fortsetzung folgt ~

… und beleuchte die Dunkelheit

Gestern Abend hatte ich es mal wieder in der Hand
“… und besiege die Finsternis” von Marie Balter, geboren 1930.
Psychiatriepatientin. 20 Jahre lang.
In den Anstalten der 50 er Jahre.
Zu Zeiten der massenhaften Medikalisierung. E- Eis- Insulinschock- Folter im Namen der medizinischen Hilfe.
Das ist keine leichte Kost. Aber ich mochte das Buch.

Sie hat überlebt, wurde Ärztin und sprach dann für die Betroffenen. Sie ist 1999 verstorben.

Das letzte Kapitel des Buches heißt “Eine Stimme für die psychisch Kranken”.
Damals, als ich das Buch zum ersten Mal las, verbrachte ich die meiste Zeit des Lesens getriggert und mich und mein Leiden kleinredend.
Das letzte Kapitel erschien mir so wohltuend in all dem, was dort steht.
Sie schreibt von ihren Vorträgen, den Reaktionen der ZuhörerInnen, aufbauschenden, oberflächlichen JournalistInnen, ihrer Angst abzustumpfen, ihren Gebeten, den Menschen, denen sie bei der Verfilmung ihres Lebens begegnete.
Und: “Anderen Menschen Hoffnung zu bringen, heißt ihnen die Macht geben zu ändern, was sie bedrückt. Wir, die wir Möglichkeit haben, müssen sie nutzen. Doch das darf nicht so weit gehen, dass andere nicht mehr eigenständig handeln können.”

Vor 2 Wochen habe ich das Exposé für mein Buch bei einer Literaturagentur landen lassen. Als Leseprobe ist ein Artikel dabei, der meine Zeit in einer der vielen Kinder- und Jugendpsychiatrien aufnimmt. Ich glaube nicht, dass ich damit Hoffnung verbreite.

Mir fiel aber auch auf, dass ich denke: “Ja haaaa ICH muss anderen Menschen Hoffnung geben, denn ich habe ja überlebt. ICH muss den Menschen ja sagen, dass man das alles überleben kann. Und das dann alles besser ist…”. Ich merke, dass ich mir schon wieder ein Kostüm in einem Schrank anschaue, das mir weder passt noch gefällt. Das ich mir aber natürlich trotzdem anziehen würde, weil … darum.
Während bei vielen Vielen das Thema “Überlebensschuld” kreiselt, kreiselt bei mir “Überlebensverpflichtungen”. Immer wieder der Komplex: “Ich habe überlebt und jetzt? Was gebe ich jetzt zurück und wie stelle ich das an?”.

Ich glaube nicht, dass ich heute keine Psychiatriepatientin mehr bin (oder auch die Gewalt überlebte, die mich dort hinbrachte), weil meine Seele so besonders stark ist, oder weil in mir irgendein Schalter umgelegt wurde, der mich zu neuer Hoffnung und Kraft brachte. Ich glaube auch nicht, dass ich überlebt habe, weil an oder in mir irgendetwas ist, dass mich durch die Momente der Todesnähe trug und etwas zu erhalten vermochte, als scheinbar nichts (und niemand) mehr in mir war.
Ich weiß, dass ich keine Schuld an meinem Überleben trage, weil niemand Schuld an seinem Sterben trägt.

Aber ich merke, dass ich nicht nur etwas überlebt habe, sondern auch von etwas zeuge. Meine Schäden sind ein Er-Zeugnis der Gewalt. Wenn ich beschreibe, was ich sah und erlebte, dann ist es eine Art Zeugnis ablegen von dem, was für andere- die Verschonten, die Ungeschlagen, wie C. Emcke sie so treffend nennt, unsichtbar, unerlebt- und un- über-lebt ist.

Das Überleben ist mir einfach so passiert. Ich habe weder darum gebeten, noch dafür gekämpft.
Die Lebensrealität in der ich und die Zerstörung an mir unsichtbar sind, und sogar gehalten werden, hingegen, betrachte ich als unbedingt zu verändern. Denn es ist eben genau die Unsichtbarkeit, in der Gewalt geboren und genährt wird. Es ist immer wieder genau das Moment, in dem man Gewalt nicht Gewalt nennt, auch das Moment, in dem Gewalt triumphiert und sich weitere Opfer einverleibt.

Ich stelle mir nicht die Frage “Warum ist mir das passiert?” oder “Warum habe ich überlebt, aber dieser und jener Mensch nicht?”.
Ich habe meine Antworten dazu und daraus eben auch die Anforderung an mich, zu verhindern, dass es anderen Menschen auch so ergeht. Dieser Überlebenskult, diese Mystifizierung des Überlebens und dessen, was es abverlangt, ist in meinen Augen eine zwar nachvollziehbare menschliche Eigenschaft, doch nicht hilfreich, wenn es darum geht, einen Weg zu gehen, der ohne Gewalten auskommt und so immer wieder Menschen zum Überleben zwingt.

Es kann nicht sein, dass wir in einer Gesellschaft leben, der es einerseits völlig egal sein kann und darf, was in Psychiatrie, Heim, Gefängnis, Misshandlungsfamilie passiert, die Überlebenden dann aber in eine Position bringen darf, in der besonders wertvolle Eigenschaften impliziert sind, die sich zeigten, als es dieses Umfeld und die ihm inne liegende Gewalt, abverlangte!

Marie Balter hatte zu ihrer Zeit immer wieder betont, dass es nicht reicht, die Menschen rauszuholen. Sie war eine der ersten, die darauf zeigte, wie unterschiedlich die Welten “Psychiatrie” und “draußen” sind. Was es für einen krassen Bruch bedeutet von der Rechtlosigkeit in die Stigmatisierung; aus dem Klima eines menschenverachtenden Nihilismus in ein Klima des Anspruchs dem (noch bzw. nicht immer sofort) zu entsprechen ist, zu gehen.
Sie sagte immer wieder, wie wichtig es ist, dass entlassene Menschen aufgefangen werden und Orientierungshilfen bekommen.
Heute gibt es Peer to Peer- Hilfen, ambulante Betreuungen, ein bis heute ausbaufähiges obgleich immer weiter zusammengespartes und so dauermarodes System von Hilfen, die Menschen über den Bruch helfen und in ein Leben in Eigenständigkeit hinein begleiten soll.

Aber Gewalt taucht in all dem als Begriff nicht auf.
Hilfe darf nicht auch Gewalt genannt werden, obwohl hier und da schon Verknüpfungen bekannt sind, beobachtet werden und Überlegungen angestellt werden, wie sie zu verhindern sein könnten. Alles natürlich systemimmanent und orientiert am Status Quo, den zu hinterfragen komplex und unbequem ist.

Ich habe das Buch weggetauscht und werde es auf die Reise schicken.
Gestern dachte ich noch, dass ich in der Geschichte so viel Schönes gelesen habe und nicht noch einmal groß darüber nachdenken möchte. Heute ist mir klar, dass ich diesen Absatz “Anderen Menschen Hoffnung zu bringen, heißt ihnen die Macht geben zu ändern, was sie bedrückt. Wir, die wir Möglichkeit haben, müssen sie nutzen.” in meinem Denken umändern muss.

Vielleicht in “Anderen Menschen von der Dunkelheit erzählen, heißt ihnen Macht zu geben Licht zu verbreiten. Wir, die wir beides kennen und die Möglichkeiten haben, müssen sie nutzen.”.

hölzerner Schatz

P1010092“Sehe ich festlich aus?”, fragt sie und schraubt sich die Hände vom Bauch weg.
Sie schaut sie an und lächelt. “Ja, sehr festlich. So könnt ihr gehen, das ist hübsch.”. Sie wird rot, streicht mit den Handflächen über den glatten Stoff über ihrer Haut.

Ein Festtagskleid zu Purim.
Dem Freudentag.

Dem Tag, an dem sie rückwärts, wie vorwärts denkt.
Von Familie° umgeben ist.
Religion lebt.

Tausende Zeichen wollen hier stehen. Von Gemeinschaft, Dankbarkeit, Demut, Erfüllung und Wahrhaftigkeit.
Zeichen, die von Gefühlen kunden. Von Menschlichkeit, Verletzlichkeit, Leben und Tod.

Doch ich bewahre sie.
Vor Blicken, Bewertungen, Fremdwahrnehmung, Definitionsmacht, Neugier.

Ein hölzerner Schatz.
Doch einer, der das Kleid, die Feier, die Gebete, die Worte zum Tag noch wertvoller erscheinen lässt.

~ Teil 2 ~ gemochten Menschen zuhören

Gemögtetext Es dauert nicht mehr lange, dann bin ich eine “Seelenfrau”, wie die Blättchen unter den Rosenblättern es so schön nennen.
Dann werde ich von Berufswegen her Menschen zuhören und hoffentlich auch hilfreich zur Seite stehen können.

Wir haben uns in einer Zeit kennengelernt, als das Zuhören für mich noch ein reines Werkzeug war und ich mein Labor verlassen hatte, um Psychologie zu studieren und dann Psychotherapeutin zu werden. Von Haus aus bin ich Naturwissenschaftlerin und einen linearen Verlauf von Ursache und Wirkung gewohnt.
Und hätte ich die Rosenblatts nicht kennengelernt, hätte mir mein Studium vermittelt, dass dies auch auf die Psyche von Menschen übertragbar ist.

Ich kenne den “Einsmenschen” C. Rosenblatt schon seit fast 6 Jahren, während ich in ihrer inneren Zeitrechnung erst seit 4 Jahren ein Bestandteil ihres Kosmos bin.
Spannend, nicht wahr?
Während ich aus Interesse an der Quantenphysik in Vorlesungen neben meinen Veranstaltungen saß, trieb es Rosenblätterinnens dorthin, um sich satt zu machen. Und das war auch mein erster Eindruck von ihnen: getrieben, aufmerksam, erst durch die geäußerten Worte auffällig. Sie stellten Fragen, die simpel und gleichzeitig Schwachstellen enttarnend waren, um dann schwuppdiwupp- spurlos aus der Vorlesung zu verschwinden.
So vergingen fast 2 Jahre, bis wir uns mal außerhalb dieses Kontextes trafen und mir auffiel, dass sie im Kontakt herumschwamm und versuchte mich einzuordnen.
Ich hatte “die Frontfrau” getroffen und damit die Rosenblattsche Zeitrechnung mit mir begonnen, ohne es zu merken.

Es begann ein halbes Jahr, in dem vor allem sie mir, 2 Mal in der Woche zwischen zwei Veranstaltungen in der Mensa sitzend, zuhörten und selbst verschlossen blieben. Ich wusste praktisch nichts von ihr (und von Ihnen schon gleich gar nichts) und hatte es nicht ein Mal bemerkt. Ob mir das heute noch einmal passieren würde?

Ich hielt mich für aufmerksam und offen. Ich hatte das Gefühl, wir wären einander nah und legitimierte so viele Aussagen und Geschichten von mir, die ich an sie herantrug. Ohne darüber nachzudenken, setzte ich voraus, dass sie Studentin wären, vielleicht bei den Eltern oder allein in einer kleinen Wohnung wohnten; Freunde hätten und vielleicht noch arbeiteten neben dem Studium.
Als ihre Hündin dann das erste Mal stubenrein war und sie es mit fast mütterlichem Stolz erzählten, fiel es mir auf. Wie- was – ein Hund? Wo kam der denn jetzt plötzlich her?
“Jetzt wohnen wir ja nicht mehr in der Stadt, da kann sie sich endlich richtig entspannen…”- Ich fiel aus allen Wolken.

Sie war umgezogen? Wir? Mit wem wohnte sie denn zusammen? Hatte sie einen Freund?
Hatte ich nicht richtig zugehört?

Ich fragte nach. Rückblickend würde ich das genau so nie wieder tun. Von der freudigen Erregung und den blitzenden Augen blieb nach der dritten Nachfrage nichts mehr übrig. Sie bekam Kopfschmerzen und verschwand bis das Semester zu Ende war.
Mich hatte es beschäftigt. Einerseits natürlich, weil ich beleidigt war und andererseits, weil mir ihr Wegbleiben aufzeigte, dass ich nicht einmal ihre Telefonnummer hatte, wusste, wo sie wohnte, wie sie mit Nachnamen hieß. Sogar, dass sie offenbar keine Studentin war. Da hatte ich schon mal einen “Unigeist” getroffen und nicht einmal ordentlich zugehört!

Dass da also “irgendwas im Busche” war, war damit für mich offiziell.
Als das neue Semester begann, trafen wir wieder aufeinander und tauschten die Rollen. Sie klopften ab, wie viel ich über Traumafolgestörungen wusste und wie meine Haltung zu “Kranken” und “Verrückten” war und vieles mehr, das ich gar nicht mehr benennen kann. Sie prüften mich!
Wieder war ich beleidigt. Wir waren doch befreundet!
Erst so nach und nach wurde mir klar, dass das, was ich über (post)traumatischen Stress und die Anpassungsleistungen zu denen Menschen fähig sind, gelernt hatte, erbärmlich wenig war. Und auch, dass ihre eingehende Prüfung meiner Haltung sinnvoll war, denn Schrittchen für Schrittchen erklärten sie mir dort gerade eine Diagnose, die eigentlich nicht umstritten wird, aber als umstritten bezeichnet wird: die “dissoziative Identitätsstörung” oder auch die “multiple Persönlichkeitsstörung”.

Ich hatte in den 90ern “Aufschrei” von Truddi Chase gelesen, aber hängengeblieben war nur “Missbrauch ist schlimm”. Mein Laborantinnenleben war mit Zahlen voll und auch sonst hatte ich keine Berührung mit dem Thema.
Und dann saß mir so jemand gegenüber.

Bei mir klickerte es natürlich langsam und ich verstand Dinge, über die ich vorher nicht einmal wirklich bewusst nachgedacht hatte.

Doch vom Begreifen, war ich noch entfernt.
Wenn ich eins gelernt habe, dann, dass ich die Rosenblätter schnell verstehen kann, aber immer nur einzelne Sichten, vielleicht auch einzelne Lebensauffassungen und Lebenswelten, wirklich begreife und deshalb noch lange nicht erfasst habe, was “das große Ganze” ist.

Es hat etwas mit meiner Übung im Erfassen von Linien zu tun. Da ist A, also erscheint B. So ähnlich “funktionieren” die Rosenblatts, doch es ist ein Mensch, der dort funktioniert. Es sind Handlungs- und Empfindungsabläufe, die dort Mensch geworden sind und autark auftreten können, völlig am Auslöser oder äußeren Umständen vorbei oder mittenhindurch, um am Ende sofort wieder zu verschwinden.

Ich habe gelernt (und: ich lerne immer noch!), dass ich vieles “sein lassen” muss, was von ihnen kommt und als Teil oder Anteil eines Seins anerkennen muss. Nur, weil ein Rosenblatt sich über Kaffee und Kuchen freut, heißt das (leider leider) nicht, dass sie das alle mögen und sich immer über eine Einladung dazu freuen oder auch überhaupt die Legitimation dazu verspüren oder dies mit ihrer Essstörung vereinen können oder auch überhaupt wissen, “wie man das macht”.
Immer wieder gibt es diese kleinen Fallen und immer wieder muss ich zuhören.
Nicht nur die Worte, sondern auch die Töne und Zwischentöne, die Körpersprache und den Kontext. Alles das redet auch mit mir, wenn sie mit mir reden.

Sie selbst reden nicht einfach so los und worüber sie reden, folgt in der Regel keinem “von A nach B”- Weg. Es ist wie ein Muster aus Mosaiksteinen, das mit etwas (zeitlichem) Abstand ein Muster ergibt und deshalb vom Wahn zu unterscheiden ist.
Wenn sie reden, nehme ich mich inzwischen als eine Zuhörerin wahr, die Steinchen in die Hände gelegt bekommt.

Will ich einem Musterweg von mir aus folgen, muss ich damit rechnen, genau diesem Muster lange nichts hinzugefügt zu bekommen- aber, ohne es zu merken, zig Steinchen um diesen Weg herum. So ist es für mich auch manchmal, als würde ich mich in einem Fotonegativ bewegen und etwas durch Abwesenheit des Subjekts eines Themas verstehen können.

In der Regel bewegen wir uns in der Gegenwart.
Die Rosenblätter haben diesen “Drang nach Leben und Dasein”, wie es eines von ihnen mal ausdrückte. Sie vermeiden ihre Geschichte und reden von sich aus maximal “drüber hinweg”. Manchmal bin ich ihnen dafür dankbar und manchmal frage ich mich, ob das vielleicht anders sein sollte.
Wenn es ihnen sehr schlecht geht, darf ich bei ihnen schlafen oder ihnen nahe sein. Ja, Sie haben richtig gelesen: Ich darf.
Das ist etwas von mir Erkämpftes und nachwievor hart Umstrittenes unter den Blättern.

Wenn sie Albträume haben, Flashbacks sie überrollen, Innens auftauchen, “deren Lebenszeit sich über die Gegenwart schiebt” (das Innen ist nicht orientiert und handelt ganz genau so, als wäre noch “früher”) oder auch sehr junge Innens mit rein vorsprachlichem  Interaktionsmuster, dann nehme ich natürlich ihre Todesangst oder auch die feste Überzeugung in dem Moment sterben zu müssen oder Ähnliches, wahr.
Ich weiß dann nie, ob sie mich als mich (ihre positiv zugewandte Gemögte) wahrnehmen oder als (potenzielle) Täterin. Auch diesen Innens muss ich sehr genau zuhören und versuchen mich in sie hineinzuversetzen, um nicht dafür zu sorgen, dass sie auf einer emotionalen Ebene tatsächlich ein Gefühl des Sterbens (wieder)erleben.

Der Kern des Kampfes um das “dann da sein dürfen” ist nicht nur, dass sie dann etwas von mir fordern (und damit rechnen müssen, dass ich nicht kann oder auch nicht möchte) und sich damit eine Schwäche oder den Wunsch danach eingestehen müssen, sondern auch, dass meine Anwesenheit und auch mein Handeln manchmal sehr hilfreich und auch heilsam ist; manchmal hingegen aber auch nur falsch oder nicht gut wahrgenommen wird.

Mein Leben hielt ganz andere Lebenserfahrungen bereit als die ihren. Ich weiß nicht, wie es sich anfühlt von Menschen auf allen Ebenen gleichzeitig bedroht zu werden und dem ausgeliefert zu sein. Ich kann es nur Bruchstücken verstehen und nur aus ihren Reaktionen in diesen Momenten ableiten, ob mein Handeln oder da sein okay ist oder, ob ich etwas verändern muss.
Manche Dinge tue ich unwillkürlich richtig, zum Beispiel das Stehen schräg neben ihnen oder auch das Vermeiden von direktem Augenkontakt und an manches werde ich durch ihre Reaktionen erinnert. Zum Beispiel zu viele Füllwörter zu benutzen oder “inhaltliche Schleifen zu fahren” (zu viele Beispiele um ein und denselben Vorgang zu illustrieren) oder auch die Optionalität von Körperkontakt zu unterstreichen (als optional- weder zwingend noch “von der Norm legitimiert” etwa beim Hände schütteln oder Umarmen bei Begrüßungen). Es gibt so viele kleine, für mich überhaupt nicht bewusste, Dinge und Aktionsmuster, die sie in einen Stresszustand bringen, in dem sie dissoziieren (müssen), um sich anzupassen.

Anfangs dachte ich noch, dass manche Innens oft da sind, weil sie mich mögen oder das, worüber wir sprachen, das ist, wofür sie “zuständig sind”. Bis wir beide/ alle bemerkten, dass es viel öfter eine reaktive Anpassung ist.

Mein Zuhören basiert auf positivem Gefühlen den Rosenblättern gegenüber und bereits ihrer Reaktion darauf, muss ich immer wieder genau zuhören.
Ist es ein Moment in dem das in Ordnung ist oder dreht jemand in ihnen gerade wieder an der Tonspule derer, die an ihnen zum Täter wurden und verunsichert sie? Ist es eine Zeit in der “normal spielen” dran ist (weil ich gerade durch die Brille von Misstrauen und grundfester Angst, vielleicht aber auch Scham betrachtet werde) oder eine Zeit, in der ich einfach da bin und die Mensch gewordene Schweiz darstelle (weil in ihnen gerade der “Krieg der inneren unvereinigten Staaten” tobt)? Ist es ein Innen, das sich vorsichtig vortastet und für das ich, in dem Moment der Gradmesser für den Rest der ganzen Welt bin?

Der Großteil unserer Gespräche dient der gegenseitigen Ver- Ab- und Zusicherung unserer Positionen und Intensionen in Bezug aufeinander. Nur ein kleiner Teil ist das, was die Rosenblätter so passend “Leben essen” nennen. So sind unsere Treffen und Unternehmungen immer wieder die Eroberung von sicherem Grund und dessen Erkundung.
Ich sehe, wie sie das Leben ohne Gewalt und Überlebensnotwendigkeit in einer scheinbar nie endenden Expedition mit allen Sinnen und immer wieder neu erkunden und mich (und sie fleißigen LeserInnen!) daran teilhaben, ja, mich sogar zu einem Teil dieser Expedition werden lassen.
Sie brauchen mich als aufmerksame Zuhörerin, weil jeder Weg, den man zusammen geht, eine gute Kommunikation erfordert.

Sie haben mich noch nie dazu aufgefordert für sie da zu sein oder genau diese Anstrengungen, die es mich mitunter doch auch kostet, auf mich zu nehmen. Einmal fragte mich mein Mitbewohner, ob mein Mitleid für sie als Opfer von, mir so unfassbar grauenhaft erscheinender, Gewalt, eine Rolle spielen würde. Einige Male unterstellten mir die “FrontgängerInnen” ein “Mamiding” ihnen gegenüber. Ja, sogar ich gehe oft mit mir ins Gericht, ob mein “neben Ihnen her laufen” nur von Mitgefühl und anderen Emotionen getragen ist, die in ihrem früheren Ausgeliefert sein begründet sind.
Natürlich hat es etwas damit zu tun.
Es tut mir leid, dass ihnen so lange niemand zugehört hat.
Es tut mir leid, dass sie heute so leben müssen, wie sie es tun.
Es tut mir leid, dass die TäterInnen bis heute ungeschoren da draußen herumlaufen und weiterhin wehr- und schutzlose Menschen quälen können.
Es tut mir leid, dass ihnen das passiert ist.

Das ist aber nicht alles. “Ich mach das, weil ich das kann!” ist so ein Spruch eines Rosenblättchens und inzwischen ist dies auch mein Antwortspruch. Ich höre zu, weil ich das möchte und, weil ich das Zuhören können lernen möchte. Ich höre Ihnen nicht auch zuletzt zu, weil ich vom Verstehen ins Begreifen kommen möchte.
Deshalb verließ ich meinen früheren Beruf: Ich konnte alle Vorgänge, alle Messwerte verstehen- doch begriffen habe ich nie, was ich dort tue. So will ich nicht durchs Leben gehen. Das Leben ist zu kostbar, um nur zu verstehen und sich etwas anzueignen, das einem vielleicht nicht einmal gehört.

Es ist zum Leben da und die “Gemögschaft” mit den Rosenblättern ist es, die mich darin bestärkt, genau das näher zu erforschen.
Als Gemögte und Begleiterin, die vorsichtshalber noch immer keine Freundin ist.

 

Ende

an einem Morgen

wachsenundwerdenMorgenfrisch, wie es nur im Fernsehen üblich ist, hopst sie die Treppen zu unserer Wohnung hoch. Strahlt wie Tschernobyl mitten in mein verquollenes Samstagsmorgen”gesicht” und hebt die Brötchentüte hoch.

Wenn ich erst früh morgens eingeschlafen bin, verspüre ich an mir eine gewisse geistige Nähe zu Affen, wenn es dann nur 3 Stunden später unverhofft an meiner Tür klingelt. Also lächle ich auch und starre sie an.
“Tss- ihr habt unser Frühstücksdate vergessen! Nicht schlimm- ich decke, ihr macht euer Morgending und dann gehts los. Husch Husch Husch!”.

So zum Huhn erklärt, evolutionieren wir uns in Richtung Mensch.

In der Küche klappert und rumpelt es.
“Ihr habt ja gar nichts da.” sagt sie, als ich, inzwischen im Stadium “Zombie”, in Richtung Kaffeemaschine wanke.
“Meinst du “Ihr habt ja ganz viel Nichts da” oder “nichts nichts”? Was willst du denn?”, frage ich zurück und schaue in den Kühlschrank. “Na das Übliche”, setzt sie an. “Butter, Aufschnitt, Marmelade…”. 

Langsam fällt mir ein, wieso ich das Date “vergessen” habe. Ich drücke ihr den Rest Butter vom Kekse backen in die Hand und stelle die Honigreste von Rosh Hashana auf den Tisch. Lege schweren Herzens noch die Käsescheiben für NakNak* dazu. Mein Affenlächeln wiegt jetzt doch schwer auf dem, was Gesicht zu sein versucht.
”Na? Das ist doch was. Schlachtplatte ist heute leider aus.”.

Sie setzt sich auf die Küchenbank und legt los.
Ich streichle NakNak* in den Schlaf und versuche mich daran zu erinnern, ob ich die Kaffeemaschine schon mal entkalkt habe oder nicht. Eigentlich finde ich dieses Röcheln ja gemütlich.
“Willst du NICHTS?!” sie nickt mit dem Kinn in Richtung Königinnenmahl.
“Ich bin noch nicht mal Mensch!”, grunze ich und verdünne meine Kaffeemilch.

Zum Glück ist seit unserem letzten Treffen viel passiert. Wir sprechen über die letzte Phönix-AG und unsere Reise nach Göttingen dazu. Sind uns einig, dass es viel über Privilegien und Frauenverständnis sagt, wenn es ein Kussverbot für Mädchenstatuen gibt.
Voller Stolz wird die Jugendherbergsbuchung für
die Tagung “Wir sind Viele” in Mainz gezeigt. Das haben wir wirklich noch nie gemacht. Irgendwo zwei Nächte fremdschlafen und schon gar nicht selbst bezahlt zu so einer Tagung gehen.

Ich merke, wie gut es tut, diese ganzen Erwachsenensachen auch Erwachsenensachen zu nennen und als Akt gewürdigt zu sehen. Als genau der Entwicklungsschritt, der es ist- parallel zu allem, was sowohl in der Therapiezeit selbst, als auch danach alles kreuz und quer schießt und genauso zehrend ist. Sie gratuliert dem Innen zu seiner Heldinnentat und versichert, dass ihr auch schon solche Fehler dabei unterlaufen sind.

“Das ist viel Emanzipatorisches” murmelt sie mit einer Hamsterbacke voll Käsebrötchen.
“Ja haaa, auf der Ebene irgendwie schon. Es macht mich wahnsinnig, dass ich das nicht auch auf andere Bereiche übertragen kann. Ich meine, hallo! fremde Stadt, alleine, schwere Themen und ich bin ganz sicher, dass wir das packen werden. Aber dann in der Therapie sitzen, einmal kurz in eine andere Richtung denken und puff bin ich weghoudinisiert und
BÄM BÄM BÄM für den Rest der Woche als Dauerschleife aus der Drecksecke und Mimimibabyblablaschmauchätzscheiß in der anderen. Geilo. Nicht.”.

Sie nickt und füttert NakNak* mit runtergefallenen Nusskernen.
“Ihr seid Viele.”, sie atmet ein, streckt sich, verteilt ihre ganze Pracht auf unserer Küchenbank und seufzt.

“Das ist eine Erklärung, ja. Aber nichts, was mir da jetzt grad hilft. Ich muss das aushalten, dran lang wachsen und ach keine Ahnung.”. Ich versenke meine Ungeduldslaute im dritten Kaffee. Merke, wie ich es leid bin, nicht darüber auszurasten. Denke zum x-ten Mal den Gedanken, die ganze Therapie zu lassen und einfach nur meine Sachen zu Ende zu bringen und dann erst wieder irgendwas zu fühlen oder anders zu denken als sonst.

Wir schwenken auf das Thema “NakNak* ist läufig”. Lästern auf Hundewiesenniveau. Auch sehr erwachsen.

Als wir uns von Mensch zu Mensch verabschieden, denke ich, dass ich froh bin, dass meine Gemögte mich auch ungeduldig und Hufe scharrend diesem Therapiezeug gegenüber annimmt. Dass sie nicht noch großartig aufs Essen drängelte, die ganzen Ausläufer der inneren Zeitverschiebungen in unserer Wohnung unkommentiert ließ und von ihrem Erwachsenwerden erzählte.  Damals ™ .
So sehr ich das auch hasse, wenn sie von sich sagt, dass sie sich uns gegenüber manchmal wie eine soziale Mutter fühlt- manchmal, so wie heute morgen, ist es so. Und dann ist es auch okay.
Nicht nur für mich, sondern auch für andere Innens, die das so noch nie erfahren haben und von der biologischen Mutterfrau auch nie erfahren werden.

Vielleicht gehört das irgendwie auch mit dazu.
Zu diesem beschissenen “aus Kackscheiß rauswachsen” und Werden.

Aufwachen und frei sein…

Zwischendrin war ich aus etwas wach geworden, das ich Mischtraum nenne.
Hatte Angst gehabt und war verwirrt, bis die Gemögte vom Bett nebenan gefragt hat, ob sie etwas tun soll.
Da hatte es dann aber schon zu klickern angefangen.
Auch und obwohl der Angstmotor etwas später noch einmal hustend loszustottern Anlauf nahm, als laute Stimmen von im Hotel ankommenden GästInnen vom Flur her schallten.
Aber sie war ja da. Nicht allein ist gut.

Es ist kurz nach 8 Uhr morgens, als wir beide richtig aufwachen und beschließen doch zum Frühstück runterzugehen.
Das ist schon wieder so außenstrukturiertes Essen und im Innen äugt es misstrauisch, ob irgendwelcher Essenspläne und Klinikmarker.
Ich finds toll. Es ist ein Buffet und die Menschen, die im Hotel arbeiten, fragen, was wir trinken möchten.
Ich kann meinen ganzen Platz vollmüllen und jemand anders räumt es weg. Ich kann vieles durcheinander essen und einfach irgendwie testerisch wirken (nicht etwa so, als wenn ich mich in den Wünschen von innen nicht einschränke). Also gibt es Brötchen mit Honig und Schweizer Käse, Schokocornflakes, Kaffee und Saft gleichzeitig. Sonntagsfrühstück, wie im Fernsehen finde ich. Ich wollte schon immer mal Frühstücksfernsehen leben. Zack!

Dann drehen wir eine Runde durch Brugg bei Tageslicht und machen viele Fotos, die nun in unserem Fotoblog „Einfach mal angucken“ zu finden sind.

Wir laufen und reden. Zeigen einander Dinge. Lachen.
Es ist irgendwie nah mit Abstand ohne Markierung.
Sie fragt, was es heißt: „Sie weiß ja nicht, was sie tut.“.
Ob sie die Metapher vom fröhlich in die laufende Kreissäge hopsenden Hoppelhäschen verstanden hat, weiß ich nicht. Ich will sie nicht draufstoßen. Denke kurz, es könnte ein Moment sein, in dem ich es könnte.
Zeigen könnte, was ich meine; die Worte dazu, die ich in den 4 Jahren, die wir uns kennen, wie Steine immer wieder in meinem Mund hin- und her bewege, hervorhole.
Und dann bleibt es doch eingewolkt, wenn auch vielleicht etwas klarer in der Luft hängen.

Jetzt- ausgerechnet jetzt- so deutlich zu werden, dass sich bei ihr Platz für Angst und Bewusstsein über mich und mein Innenleben, ausbreiten könnten, wäre, wenn nicht ein Schuss ins eigene Knie, so doch einer ins eigene Fleisch. Von innen beruhigt es mich, sagt mir ihre Worte vom Nichtmüssen nochmal.

P1010262Gegen Mittag kommt unser Mensch und lädt uns zum Kaffee ein, nachdem wir Touristenschokolade gekauft haben.
Ich habe am Frühstückskaffee gemerkt, dass der Kaffee in der Schweiz nichts mit dem zu tun hat, was ich mir zu Hause literweise in den Bauch schütte. Also trinke ich eine Schokolade mit X. Eine Xocolate oder so ähnlich. Sie ist großartig. Einerseits, weil es halt Schokolade oder „Schoggi“, wie es hier heißt, ist und andererseits, weil dieses Getränk genauso intensiv schmeckt, wie das Koffeeinkonzentrat, das sie Kaffee nennen. Es ist wirklich flüssige Schokolade.
Ach, dieses Café ist schön.
Es heißt Café „Frei“, ich sitze hier und mache Freiheitspraxis, neben uns sitzen zwei kleine Kinder, deren Schweizer Dialekt so klingt, wie der Dialekt, den alle Kinder in dem Alter haben und für einen Moment ist es einfach nur gut.

Dann gehen wir in Richtung Hotel, wo wir auch schon die beiden Filmer treffen und uns zum zweiten Teil richten.
An meinem Schal wird ein Mikrophon mit Puschel befestigt und an der Rocktasche ein Funkdingsi.
Diesmal steht das Reden aber nicht so im Vordergrund.
Erst einmal sollen meine Gemögte und ich nebeneinander hergehen. Gässchen rauf und runter, Treppen rauf und runter, von links nach rechts, stehenbleiben, gehen.
Sie findets toll. Sagt, sie geht jetzt zum Film, weil es ihr Spaß macht.
Ich schnappe mir den Fotoapparat und filme sie alle für 30 Sekunden. Ha!

Die Fotos von der Stunde im Park sind, die Schönsten, die wir je gemacht haben, finde ich. Es sind lauter Detailaufnahmen in der Natur. „Nach und nach werde ich sie im Fotoblog veröffentlichen“, verspreche ich dem Innen, das schweigend fotografiert, während Aufnahmen ohne uns gemacht werden.

Worüber wir dann sprechen ist schwieriger.
An den Bereich tasten wir uns gerade selbst erst heran und haben noch nicht die ganz genau passenden Worte gefunden. Wissen noch nicht genau, was wichtig ist, wo das Gewicht liegt und was helfen könnte.
Die Kälte, das aufgelockerte Miteinander, das Sitzen hier unterm Himmel in auch räumlicher Freiheit ist gut.
Ich glaube, drinnen ginge das nicht. All die Innens, die mich beim Reden stützen und mit mir auf Signale der BÄÄÄMs achten; meine Gemögte und das Fünkchen G’tt, das ich um Anwesenheit gebeten habe- wir hätten doch gar nicht alle in den Raum gepasst, wo wir gestern gedreht haben!

Dann sind wir fertig.
Bereit alle zusammen noch etwas Warmes zu uns zu nehmen, bevor meine Gemögte und ich die Heimreise antreten.
Wir gehen in ein italienisches Restaurant, wo es Stoffservietten und Toilettenbeschriftungen mit „Uomo“ und „Donna“ gibt. „Uomo“ bedeutet „Männer“- ich hab das mal für euch erkundet.

Die Filmmenschen schenken uns Berge auf einer DVD  und unser Mensch ein geheimnisvolles Geschenk, worüber ich mich freue
Wirklich schade, dass das Wetter so war, wie es war. Richtige Berge haben wir nicht gesehen. Aber „Hügel“, wie unser Mensch und meine Gemögte die kleinen Bergli’s, die wir sehen konnten nennen, waren das jetzt auch nicht.

Als wir beide im Zug in Richtung Zürich sitzen und so langsam alles von uns abfällt, denke ich immer noch an den Namen des Cafés.
Was wir heute gemacht haben ging alles nur, weil wir frei sind.

P1010183Weil uns niemand mehr abpasst, anspricht und mit Versprechungen in gewaltvolle Situationen bringt.
Weil wir nicht mehr so funktionieren, wie früher.
Weil wir nicht mehr allein sind.

Fortsetzung folgt