Zahlenkrieg

Respekt und Miteinander.

Diese Begriffe umschwirren mein Denken zur Zeit wie ein Schwarm Schmetterlinge. Lange hingen sie von den Verästelungen meiner Nervenenden herab. In kleinen Puppen herumschwappend- weder Raupe von Schmetterling. Reine Ursuppe mitten im Prozess.537400_web_R_by_Dirk Röttgen_pixelio.de

Nun sind sie frei und stoßen an das Innere meiner Schädeldecke. Einen Ausgang suchend um ihre Flügel auszubreiten.
Wenn ich den Mund öffne, meine Zunge zu einer Startrampe werden lasse, dann ist es, als würden sie sich überlegen, ob sie nun abspringen oder sie nicht vielleicht doch lieber erst mal die Puppenreste rauswerfen. So ist es vielleicht kein Kommunizieren dieser Begriffe… doch in jedem Fall das, was sie umgab und schützte. Es ist ein Versuch.

Wir waren bei einem den Beruf des Mediziners ausübenden Menschen und es war furchtbar.
Nicht, weil es da um etwas Intimes ging oder um das Ausmaß unserer Zerstörung, sondern weil wir verloren hätten, egal ob und wie verletzt und zerstört wir sind.

Es ist nichts Besonderes. Ja. Für Frauen die einmal im Jahr dahin gehen oder sogar noch öfter, weil sie chemisch verhüten, ist es das auch nicht. Sie lassen sich mehr oder weniger regelmäßig ausmessen, etikettieren, anfassen, begucken und irgendwie ungreifbar auch bewerten.
Ob sie noch normal sind.
Ob DA auch noch alles in Ordnung ist.

Ich habe das mal recherchiert- im Schnitt geht ein biologisch weiblicher Mensch mit 16 Jahren das erste Mal dorthin.
Frage: Was verdammt noch mal hat so eine Fehleranfälligkeit, dass es mit 16 Jahren schon kaputt sein kann? Und wie oft liegt tatsächlich eine so krasse Veränderung vor, dass die mehr oder weniger schallende Dauererinnerung an alle biologisch weiblichen Teenager gerichtet, “dann langsam mal da hin zu gehen”, gerechtfertigt ist? Seid wann geht man zu einem Heiler, wenn alles heil ist und nicht wenn etwas zum Heilmachen da ist? Und was ist das für eine Auffassung, in der Normalität- Gesundheit- ein potenzielles Verfallsdatum hat? Und wieso gilt das Gleiche nicht für biologisch männliche Teenager?

Als ich da so im Wartezimmer saß und mir ab und an die kalten Tropfen von der Oberlippe wischte, dachte ich, dass ich eigentlich tatsächlich an einem Ort sitze, der einfach insgesamt irgendwie schief ist.
Neben mir saß ein weiblicher Mensch, deren Fötus sich im Bauch bewegte.
Ich mag sowas. Man sieht es nicht bei allen schwangeren Menschen so gut, deshalb nahm ich es als Geschenk auf. Eine Art Lichtblick.

Und dann hörte ich dem Menschenpaar zu. Zahlen, Werte, Normen, Ängste, Sorgen, Anspannung.
Genau wie ich.
Meine Anzahl weißer Blutkörperchen war zu hoch, so ziemlich alle Werte in meinem Blut  sind einfach  schief. In meinem Körper tobt eine Entzündung und das schon eine ganze Weile.
Da ist Krieg in mir. Biologisch und seelisch gleichzeitig.
Ich bin nur hier, weil dabei eventuell etwas zerstört wird, was mir den Bauch auch so füllen könnte. Irgendwann. Vielleicht.

Dr Mensch neben mir hatte auch Krieg.
Obwohl er doch gerade eigentlich mit etwas Besserem beschäftigt sein könnte. Den ganzen Tag diesem Wackeln zugucken zum Beispiel. Sich schön finden so kugelig. Dafür zu sorgen, dass es ihm gut geht. Dass man sich gut fühlt.
Statt dessen saß er da und dachte über die Zahlen nach.

Wenn wir zu einem den Beruf des Mediziners ausübenden Menschen gehen, ist das Erste das uns abschmiert die Sprache.
Das ist ein klassisches Merkmal von Panik.
Unser Gehirn hat gelernt trotzdem einigermaßen zu funktionieren. So ist es dann nicht so, dass wir noch der Ratio oder der Fähigkeit zur Bewegung hinterher winken müssen. Doch es ist ein stumpfes, roboterartiges Existieren und ich kann mir nicht vorstellen, dass das aussen nicht auffällt und etwas ist, das ein gesondertes Fachwissen zur Erkennung erfordert.
Wir wissen das von uns und, weil wir mit dem Menschen, der Medizin studiert hat, zusammenarbeiten wollen- miteinander sein wollen und unsere Verantwortung am Gelingen dieser Zusammenarbeit übernehmen wollen- bereiten wir uns peinlich genau vor.
Es ist eine Bedienungsanleitung im Grunde.
Dort steht alles drauf. Von “Ich kann nicht sprechen, weil ich in einem Zustand von Panik bin” (- sie haben gerade eine Macht über mich) bis “Sagen sie mir jeden Handgriff den sie tun- zeigen sie mir jedes Instrument mit dem sie das tun” (- erschrecken sie mich nicht noch mehr und zeigen sie mir, dass sie wissen, dass sie eine Grenze berühren).
Es steht alles drauf. Mit rotem Stift. Alarmfarbe. Unterstrichen wie wichtig das ist.
Mit dicken Ausrufezeichen, dass wir Hilfe brauchen werden, um uns zu orientieren. Dass sowas ganz Basales, wie der Name- der Ort in dem wir leben, die Funktion des Menschen, für mein Gehirn Informationen sind, die es in dem Moment nicht abrufbar hat- selbst wenn die Untersuchung an sich schon längst vorbei ist.

Doch es ist Krieg.
Menschen mit Kriegen in sich gegen Menschen die nicht merken, vielleicht nicht beachten, dass sie Krieg mit Zahlen machen.
Der Mensch dort vor uns hat die Karten nicht lesen wollen. Nur den Kurzbrief aus der Ambulanz. Den Laborzettel mit den Zahlen drauf.

Viele grüne spitzzähnige Rosenblätter lagen verstreut, wie tot, da herum, stießen wie die leeren Worte an die Decke des Raumes oder verkrochen sich in den Ritzen der Fensterfüllungen.
Der Mensch hat keine unserer Grenzen wahrgenommen und geachtet.
Wir verwandelten uns in das Plastikmodell eines Intimbereichs eines weiblichen Menschen und haben seelisch überlebt.
Die Worte gehört, das Unverständnis wahrgenommen. Wir spürten die Grenzen des Menschen und dessen Zahlen, Normen und Werte sehr deutlich. Und hätten wir sprechen können, hätten wir uns entschuldigt. Und wenn wir uns im Verlauf vernünftiger hätten bewegen können, hätten wir den Menschen umarmt und gesagt, dass es nicht so schlimm ist, dass er aufhören kann zu schimpfen.

Heute, zwei Tage später, denke ich, dass wir uns damit trösten müssen, dass es daran lag, dass der Mensch die Karten nicht gelesen hat. “Alles wäre sicher anders gekommen, wenn die FRAU unsere Karten gelesen hätte. Alles wäre vielleicht anders gekommen, wenn wir der FRAU gesagt hätten, dass wir ein Opfer von Gewalt wurden und sowohl Schäden davon, als auch die Schäden die vom Innen zugefügt werden, zu sehen sein werden.”

Doch dann fällt mir auf, dass noch keine der Frauen mit denen ich über ihre Erfahrungen mit Menschen die den Beruf des Gynäkologen- oft genug auch des Mediziners einer anderen Fachrichtung- ausüben, jemals davon gesprochen hat, dass es eine Zusammenarbeit gab. Ein Miteinander.
“Ja, sie hat gemeint…”; “Und dann hat sie…gesagt” , “Er hat …gemacht”, “Er sagte, ich soll…”, “Sie warnte mich, dass….”
Dass alle Frauen dort in einer Welt landeten die von Zahlen und Werten… vielleicht dem Status des unantastbaren Heilers oder auch Retters dominiert wird. Nicht so oft von dem Menschen, die sich zum Instrument dessen macht oder sich in der Rolle des Retters gefällt. Und erst recht nicht von dem Menschen, der dort mit einem Heilungs- oder Rettungswunsch hinkommt.

Ich denke, vielleicht ist es ein Krieg wie bei Hartz4 oder beim OEG oder bei der Krankenkasse…
Zahlen gegen Menschen.
Zahlen, Normen, Richt- und Lei (d) tlinien die wir Menschen erschufen wie dereinst Frankenstein sein Monster, die sich nun gegen uns richten.

Von den meisten Menschen hingenommen, akzeptiert als Werkzeug und Gradmesser. Die Art, wie man zu ihnen kommt wird nebensächlich, denn wenn man oft genug- und früh genug draufhaut, dann tut es irgendwann nicht mehr weh. Und falls doch einer heult, dann kann man ihm ja immer noch sagen, er sei selbst schuld.
Das funktioniert ja immer bei biologisch weiblichen Menschen, deren Grenzen gerade verletzt wurden.

Denn das sind ja nur Frauen.

ich nehme nicht ab, weil ich magersüchtig bin

“Anxiety” (im klinischen Rahmen “Essstörung” genannt) wurde im August 1999 geboren. Ihr Debüt gab sie im September des selben Jahres, nachdem uns unsere Musiklehrerin zu verstehen gab, dass wir ihr zuviel waren.

Eins zur Erklärung: seit dieses Gehirn des Lesens mächtig war, fraß es sich durch Bücher und erkor Lehrer zu Göttern, welche vor der Tür zur geistigen Auswüchsigkeit mit der Hand am Knauf stehen.
Diese Lehrerin hatte uns ein Buch geliehen, in dem es um ein Mädchen ging, dass ein schreckliches Geheimnis für sich bewahren musste und sich befreite in dem es sich an einen Erwachsenen wand… ja ziemlich durchsichtig, was dieses Buch mit uns machen sollte, oder? Nun- das hat es auch gemacht- einen besseren Kanal hätte diese junge Referendarin gar nicht erwischen können. Jemand war schwer in sie verknallt, wir haben sie mehrere Male in der Woche im Musikunterricht gehabt und es war ja schon so, dass klar war: “Irgendwie ist das hier alles schlimm- vielleicht…?” [Alter –voll krass- wir haben nich mal gedacht, dass die uns helfen kann oder so- echt das war nur so: “Naja vielleicht is da ja was so.. irgendwie was nich so schlimm is und irgendwie immer so gruselig und neblig”]
Und dann waren wir und die Ahnung des schrecklichen Geheimnisses, die ihr im Vertrauen gesagt wurde, zuviel. Und plötzlich war alles zu viel. Die Ahnung, sie als Person und ihre Ablehnung und deshalb- ganz logisch [nicht wahr Anxiety?]- der Körper.

Dass man selbigen strikt ausmessen und einkategorisieren kann und ihn getrennt vom Inhalt behandeln kann, war ja schon klar. Und als dann im September noch zum ersten Mal für ein Ballettkostüm die Oberweite ausgemessen werden musste und wir allein deshalb ein Erwachsenenkostüm bekommen sollten, klinkte es komplett aus.
Flashlight! Vorhang auf die Königin der irrationalst möglichen Pseudokontrolle und Möchtegernregulation.
Konfektionsgröße 40 bei 1,63m- alle anderen Mädchen hatten 34-40 bei max 1,65m “Auch!” grunzt Anxiety- kleiner sein, weniger Umfang haben… weniger Raum einnehmen
Das Gewicht lag bei 67kg… die anderen schwankten alle so zwischen 50 (!) bis 70kg- Anxiety achtet nicht auf Proportionen, Altersunterschiede, Muskelmasse, Funktionsfähigkeit. Sie sieht nur die Zahl und grummelt “Auch” dem kleinstmöglichen entgegen.
Dann die Kalorien, der tägliche Verbrauch, der tägliche Umsatz, alles soll weniger sein- egal wie. Egal was das bedeutet.

„Anxiety“ ist keine Essstörung in dem Sinne, dass sie das Essen stört.
Es stört das normale Denken, den normalen Blick auf die Zahlen die einen umgeben. Und diese Störung schafft es einen so zu verwirren, dass man dem unterliegt. Es ist eine so unlogische Logik, die aber immer unwiderlegbar erscheint. Die Lehrerin sagt “Also das ist mir zuviel”- total logisch muss das an dem Körperumfang liegen- nicht etwa an dem ausgesprochenen Verdacht der monströs großen Gewalt, die für diese junge Frau einfach nicht fassbar war. Man hatte keine Freunde, keine Verbündeten- gibt ja gar keine andere Erklärung als Konfektionsgröße 40!
Man war seltsam und machte dauernd und überall Probleme und war ungenehm- völlig klar- das kann nur an einer allgemeinen Übermäßigkeit liegen.
Was aber an sich sogar noch fast das Schlimmste war (also jetzt aus heutiger Sicht): als das Gewicht runter ging und man wirklich total knochig (aber im Kinderkostüm- was hatte man sich gefreut!) über die Bühne schwebte, gab es plötzlich Mädchen die Kontakt suchten! Plötzlich kamen die Menschen auf einen zu! Aber da hatte man ja schon seine Pseudofreundin-und man könnte ja alles verlieren, wenn man sie im Stich ließe…

Nunja- die ganzen Hochs und Tiefs will ich jetzt nicht ausbreiten, aber unterm Strich hatte man sich mit “Anxiety” eine Logik angelacht, die jederzeit eine Pseudowelt basteln konnte. Pseudosicherheit, Pseudokontrolle,Pseudoruhe, Pseudokontakte… alles da und jederzeit reproduzierbar.
Auf Kosten des Körpers den man eh nicht mag, der eh nie macht was er soll und der eh allen gehört- nur nicht dem der drinnen steckt. Also… ph!
Wir haben es inzwischen geschafft diese Pseudowelt für uns zu integrieren und als Selbstregulationsmittel zu betrachten. Madame hat ihr Machtgebiet und das ist die Besprechung des Körpers. Ihre Kommentare dazu sind immer da und sie werden wohl nie wieder verschwinden. Egal ob Kleiderkauf, Körperpflege, Krankheit oder gar körperlich gelebte Liebe- zu allem weiß sie etwas zu sagen und wir lassen sie. Wir wissen, was passiert, wenn man sie füttert, also achten wir darauf, das nicht zu tun.

Wovon sich “Anxiety” ernährt? Na- von allem was uns zuviel sein lässt- das so als Grundlage. Die Beilage sind Bemerkungen über die Körperlichkeit- eh total klar- also egal ob mir einer sagt, ich sei dünn oder dick: “Anxiety” hockt in meinem Kopf rülpst herzlich dazu. Was sie auch gerne mal nimmt- so als Snack oder Nachtisch, sind klar dürre Models und Geschichten von anderen Magersüchtigen.

Als wir dieses Jahr erst durch ein Beziehungsende, dann durch das “sich selbst sehen” beim Bürgerdialog im Fernsehen, dann durch den Ex-Vermieter und dann zur Krönung noch obendrauf von der zu dem Zeitpunkt möglicherweise- Therapeutin, die erst soooo offen und nett zu uns war, mit Spitzen in Richtung eines allgemeinen “zu viel seins” konfroniert wurden, hatte “Anxiety” schon Ausmaße eines kleinen Wals und quetsche auch noch das letzte bisschen Ratio zusammen.
Nun ist es ein Kunststück bei einem Gewicht von über 100kg schnell viel abzunehmen und schlanker auszusehen. Hey- ich fands selber voll geil endlich nicht mehr bei den Übergrößen gucken zu müssen.

Und dann kam der letzte Schritt in die Freiheit und die Ära der BÄÄÄMs begann.
Schon trainiert von “Anxiety” (die schon wieder erschlankt war- es war ja keiner da, der sie fütterte) ging es nun richtig los. Die BÄÄÄMs sind Meister der Selbst- s- Zerstörung- sie haben ja auch beim Meister gelernt
[ha wie Doppeldeutig haha]
Man hatte den letzten Schritt in die Freiheit gemacht- böse schlecht verboten- da muss sofort etwas getan werden! BadaBÄÄÄM! Schritt für Schritt wuchsen die Verbote aus dem Boden.
[oh was jetzt- wohin jetzt? Was darf- was nicht- was macht man mal lieber in Vorarbeit, um sich zu gewöhnen- man weiß ja was kommt- nicht mehr essen oder nicht mehr schlafen- such aus- mach- lauf lauf lauf- friere- hab es unbequem- lieber keine Privilegien- man weiß ja nie- vielleicht kommt ja doch…- es gelten die Regeln von…]
und so geht es seit inzwischen 4 Monaten in meinem Kopf zu. Die Arena ist der Körper.
Die Logik ist extrem griffig- sie ist krasser, klarer, sehr viel absoluter, als die der im Vergleich tatsächlich weichgespülten “Anxiety”. Und: im Gegensatz zu “Anxiety”- die ein reines Gedankenkonstrukt ist- langen die BÄÄÄMs im Zweifelsfall einfach selbst zu. Komplett autark, ob ich es will oder nicht, denn sie sind ein Teil meiner Persönlichkeit und können, so wie ich den Körper verwenden.

Ich sitze jetzt hier und habe den Bauch voller Honig, weil ich weiß, dass er nicht erbrechbar ist. Zucker und Energie ist aber nicht erlaubt, weil ich gerade auch endlich (nach, wie ich inzwischen weiß 72 Stunden ohne richtigen Schlaf) mal ein bisschen hatte. Was der Preis für noch bitte etwas mehr Entspannung und Erholung sein wird? Die BÄÄÄMs allein haben den Katalog in sich.
Alles was wir wollen und machen kostet. Und in letzter Instanz kostet es eben Lebenskraft, Blut und Haut. Integrität. Selbstachtung.
Und warum?
Weil wir keinen Zugang zu dieser Logik kriegen.
Weil es keinen Kontakt gibt.
Weil wir Angst haben.
Was ja auch wieder schräg ist: Wir haben Angst vor Innens, die aus lauter Angst in der Arena stehen und um Vergebung für unsere Freiheit kämpfen.

Nein- ich habe keine 45 Kilogramm in 5einhalb Monaten verloren, weil ich magersüchtig bin.
Sondern weil ich eine Scheißangst habe.
Eine Scheißangst die verdammte Hacke so gefühlt berechtigt und real ist, dass, wie es scheint, kein Blatt dazwischen passt.
Aber wie wir ja wissen, sind Scheißängste oft nur genau das:

Angst
Anxiety
und die haben wir ja schon einmal an die Hand nehmen können…