Es ist alles noch da

Vorhin, in den letzten Schwingungen des Spontankontaktes mit der Therapeutin, die wir gedenken “unsere Therapeutin” zu nennen, fiel mir auf, wie üblich es jetzt weiter geht.
Mit NakNak* rausgehen – nur entspannter. Abendessenszutaten einkaufen – nur entspannter. Bloggen – nur ohne den Beigeschmack etwas Verbotenes zu tun. Ins Bett gehen und schlafen – nur ohne vorher einen Wecker zu stellen.

Alles ist noch da. Alles funktioniert noch.
Voll krass.

Weil, eigentlich müsste doch alles in Scherben sein. Schließlich hat man uns aufgegeben und weggeworfen. Schließlich ist man in der Klinik zu der Erkenntnis gekommen, dass man mit uns kein Arbeitsbündnis geschafft hat (und dadurch offensichtlich automatisch zu dem Schluss, dass sich das auch niemals je ever überhaupt je hätte eventuell vielleicht mal noch entwickeln können, wenn man uns und unserer Entwicklung Zeit gibt – weil Zeit ist Geld und Geld gibts ja von den Krankenkassen nie genug und darum kämpfen mag man nicht mehr,weil aus Gründen und Selfcare. Muss man ja auch verstehen – ) und uns entlassen hat.

Tatsächlich sind wir nicht in Scherben. Aber es ist ein bisschen was kaputt gegangen, das weniger mit uns, als mit dem zu tun hat, was wir so tun und weshalb wir es tun.
Unsere Loyalität gegenüber dieser Klinik und manch ihrer Akteur_innen hat einen weiteren derben Spalt in sich und bringt uns in tiefer greifende Zweifel und Konflikte über unsere Haltung, die wir nach außen vertreten.
Etwa dann, wenn mal wieder eine Email kommt, welche Klinik es ist und welche anderen wir empfehlen können. Oder dann, wenn es um Behandlungsansätze und unsere Erfahrungen damit geht. Oder dann, wenn jemand ähnlich verletzt, gekränkt und Teilen angebrochen, wie wir aus dieser Klinik herauskommt und hofft mit uns jetzt doch mal so richtig über “diese bescheuerten Therapeut_innen” oder “diese scheiß Klinik” herzuziehen.

Wir sind nicht so. Und wir waren auch nie so.
Obwohl wir von einem Therapeuten sexuell misshandelt wurden, in Kinder- und Jugendpsychiatrien fehl- bis miss_be_handelt wurden, von Dutzenden Therapeut_innen und Kliniksystemen verachtet, dressiert und verkorkst wurden, waren wir nie die Person, die anfängt gewaltvoll auf diese Personen zu reagieren oder gegen sie zu agieren.
Wir haben nie jemanden angezeigt. Wir haben uns nie gewehrt. Wir haben nie Schmerzensgelder oder Entschädigungen aufgrund von Falschbehandlungen oder Falschdiagnosen verlangt. Obwohl wir schwere Schäden davon getragen haben und diese bis heute nachwirken.

Wir haben nur immer wieder aufs Neue gehofft, man würde sehen, wie groß ist, was wir Behandler_innen in die Hände legen, wenn wir sie um die Hilfe bitten, die sie anbieten bzw. als von ihnen als leistbar anbieten
Immer ein bisschen weniger, aber doch: in Hoffnung

Es ist eines dieser großen Geheimnisse und Rätsel für uns, wonach Menschen bemessen, wann was wie genau für sie ist. Wie genau Menschen eigentlich abzirkeln, ob und wenn ja, was genau sie eigentlich von dem erfassen, begreifen und verstanden sein lassen, was sie wahrnehmen.
Manche Menschen nehmen diese Rätselhaftigkeit für uns ernst und öffnen sich für uns. Sie machen sich für uns ein bisschen leichter lesbar. Ein bisschen einfacher für uns. Sie machen sich barrierefreier für uns.
Manche, weil sie genau das als Teil ihrer Arbeit inkludieren und fachlich kompetent genug sind, zu wissen und begriffen zu haben, dass gerade komplex traumatisierte Menschen (gut lesbare und dadurch) abschätzbare und verlässliche Gegenüber brauchen, um in Kontakt gehen zu können, der eine konstruktive Arbeitsbeziehung zur Folge haben soll. Manche, weil sie uns irgendwie sympathisch finden und wollen, dass wir sie auch sympathisch finden. Manche, weil sie uns etwas schenken wollen. Manche, weil sie merken, wie sehr wir uns daran aufrauchen sie zu verstehen und Mitleid haben.

Und manche nehmen diese Rätselhaftigkeit nicht ernst. Verstehen das Problem nicht. Stehen vor ihrer kognitiven Dissonanz und kriegen unser Auftreten nicht zusammen mit dem rabenschwarzen Loch der Not, die sich logischerweise aus solchen Rätselhaftigkeiten ergeben. Für manche Menschen wirken wir vielleicht (sehr wahrscheinlich) nicht glaubhaft oder aufrichtig in diesem, so fühlt es sich jedenfalls für mich an: Geständnis von Rätseln, Unwissen, Unsicherheit, Angst und Not daran.

Und manche Menschen sind einfach ignorant. Nicht bei uns, sondern hauptsächlich bei sich und dem Oben und Unten, das sie davon befreit, sich damit zu befassen, wie problematisch ihre Ignoranz ist.
Der Begleitermensch nannte das “Therapeutendünkel” und ich nenne es das logische Ergebnis aus wer weiß wie vielen Kämpfen mit kranken Kassen, Gutachterbullshit, fachlichen Querelen und dieser einen Prise Überheblichkeit, die mit Deutungsmacht einhergeht. Wer sich nicht stellen muss, weil es auch anders geht, tut es nicht. Wer hunderte Patient_innengesichter und –geschichten an sich vorüberziehen sieht, ohne sich je für mehr als diese eine Episode ihres Lebens mit_verantwortlich fühlen zu müssen oder zu sollen, der kann fallen lassen, was verwirrt, irritiert, weh tut, stört.

Wir hätten allen Grund wütend zu sein oder aggressiv aus Gefühlen von Verletzung.
Tatsächlich aber haben wir gerade den Impuls, Mitleid mit den Menschen in diesem Klinikapparat zu haben.

Mitleid ist eine Form der Gewalt. Vielleicht eine der schlimmsten.
Denn auch sie entwürdigt, entmündigt, entmachtet. Negiert jede Form des eigenen Willens und Wollens, löscht jede Idee von eigenen Fähig- und Fertigkeiten eines Individuums aus.
Wer Mitleid hat, sagt, dass eine Person keine andere Wahl hat. Nicht anders kann (hier: “kann” als Fähigkeit gedacht) und das ganz sicher schlimm für diese Person ist. So schlimm, dass sie leidet.

Mitleid gilt häufig noch als etwas, das wichtig ist, weil es mit Mitempfinden oder Verständnis verwechselt wird.
Wir haben aber weder Verständnis dafür, wie die Entscheidung “der Klinik™” zustande gekommen ist, noch können wir irgendetwas mehr erfühlen als die Idee einer ängstlich vermeidenden Haltung uns gegenüber bzw. dessen, was wir repräsentieren (was auch immer das wohl sein mag)

Wir ermahnen uns, uns die gewaltvolle Struktur “Klinik” als Teil verschiedener gewaltvoller Strukturen (wie “Psychopathologie”und “Gesundheitssystem”) innerhalb der allgemein bestehenden Gewaltkultur unserer Gesellschaft, nicht als die gleiche unveränderbare und unkritisierbare Grundlage anzunehmen, wie diese Menschen, sondern ihnen die Verantwortung über die Stützung und das eigene Profitieren an diesen Strukturen zu überlassen. Denn da wurden Entscheidungen getroffen. Da wurde und wird etwas getragen, das, neben vielen eher positiven Eigenschaften, auch als toxisch, gewaltvoll und menschenverachtend anzuerkennen nicht schwer ist, wenn man sich damit so brachial kritisch auseinandersetzt wie es die aufrichtige Auseinandersetzung mit jedem Aspekt des menschlichen Seins und Wirkens erfordert.

Ja, wir intellektualisieren. So sind wir. Wir tun das nicht, weil uns das so schön aus Schmerz, Verletzung, Trauer und Not bringt und uns in irgendeiner Form ermächtigt. Wir tun das, weil wir das tun. Ganz schnörkellos und ohne tiefere Bedeutung, als die, die es für uns hat: Kontext (für unseren Schmerz, unsere Verletzung, Trauer und Not).

An unsere Schnörkellosigkeit muss man sich gewöhnen. Dafür braucht man Zeit, Kraft, Mut zum Irrtum und den Wunsch zu verstehen.
Das geht in jedem Rahmen und egal, wie gut oder schlecht wir uns in diesen Rahmen hineinoperieren können.

Was unser Arbeitsbündnis nicht hat zustande kommen lassen, war ein einziges grundfestes Missverständnis, das man nicht glauben will.
Weil so viele tausend erdeutete Ideen und Fehlannahmen über uns als Person und unser Re_Agieren so viel besser gepasst haben, um uns und unsere Behandlung zu vermeiden.

Als Patient_in kann man nicht beides leisten: sich selbst und seine Behandler_innen davon überzeugen, dass es sich wirklich lohnt.
Dass diese Doppelbelastung nun ein Ende hat, darum sind wir froh.

Was bleibt sind vermehrte Zweifel, ob wir unsere Engagements für komplex traumatisierte Menschen überhaupt noch jemals unter Einbeziehung von behandelnden Menschen fortführen wollen. Offensichtlich wäre vieles einfacher gewesen, wären wir nicht der Mensch hinter “Hannah C. Rosenblatt”.
Andererseits denke ich, dass unsere nervig irritierende Schnörkelosigkeit ist, was dieser eingeschworenen Traumabubble hier und da fehlt.

Wer weiß.
Erstmal einfach weiter im Text.

Podcast schneiden, Nachwachshausumfrage bewerben, die 321 Emails aus der Klinikzeit lesen und beantworten, eine gute Sonnencreme finden und die erste Miniradtour vor der Großen planen.

Es ist alles noch da.

betroffene Profis #2

Wenn es einen Satz gibt, der uns seit 13 Jahren begegnet und exakt nichts sagt, weil er in  dem Kontext, in dem er uns immer wieder begegnet dumm ist, dann ist es “Sie sind der Profi für ihr eigenes (Er_)Leben”.

Immer sind es Kliniken, Behandlungspraxen, Beratungsstellen, Betreuungsbüros, in denen dieser eine Satz wie ein Zierdeckchen auf meine Problemberge draufgelegt wird, um mir zu signalisieren: “So und nun gucken sie mal, wie sie klarkommen. Behalten Sie dieses Deckchen immer im Blick, denn niemand kann Ihnen das abnehmen, was Sie tun müssen, um sich besser zu fühlen. Sie allein sind es, die das kann. Sie sind so [hier wird eingefügt, was von zur Mehrheit der Menschen erklärten Masse als positiv ermutigend und stärkend gilt – also so etwas wie “mutig”, “stark”, “klug”, “eloquent”, “kämpferisch”, “resilient”, “kraftvoll”] – es gibt Hoffnung für Sie – Sie müssen nur wollen und machen.”

Vielleicht geht nichts anderes. Vielleicht sind die Bedingungen unter denen Menschen heute anderen Menschen helfen wollen, können, müssen, sollen, so beschissen, dass nur noch das geht. Das “Sie sind der Profi- Zierdeckchen” klöppeln in der Verhaltenstherapie, in Mandalaform zum Ausmalen hingeben in der Kunsttherapie, in regelmäßigen Trommelschlägen in Bongos tippen in der Musiktherapie – in Myriaden von Worten verpacken in der Gesprächstherapie.
Ja, vielleicht geht nicht mehr. Ja, vielleicht ist der Ansatz bewährt. Ja, vielleicht macht so ein Satz sogar, dass man als Patient_in irgendwann sogar tatsächlich einen professionellen, kompetenten Umgang mit sich und seinem Erleben findet, der Leidensdruck und äußere Kontexte mit einem Flickenteppich aus immer komplexeren Zierdeckchen bedeckt bis es zur zweiten Haut wird.
Und ist.

Und dann? Dann ist man tatsächlich ein_e kompetent_e Patient_in.
Ach du Scheiße.

Dann gibt es keine großen Halleluja-Momente der Aufklärung über diverse Faktoren der eigenen Diagnose und auch die Idee davon nicht verrückt und unzurechnungsfähig zu sein, ist bei weitem keine mehr über die man einen roten Kopf bekommt und sich so erleichtert fühlt, dass man über einen Stein am Gürtel nachdenkt.

Nachdem fast unser halbes Leben aus einer Therapie besteht, die uns vor allem den Umstand unserer Zurechnungsfähigkeit, unserer Resilienzfaktoren und der Existenz der Berechtigung von Respekt, der uns entgegen gebracht werden soll, obwohl wir wir sind, in den Kopf pflanzt und dafür sorgt, dass wir das nicht vergessen, weil Inhalte aus der anderen Hälfte unseres Lebens immer wieder diese Pflänzchen kaputt zutreten versucht, geht es für uns nicht mehr darum von einer gesellschaftlich und kulturell über uns stehenden Instanz über das Vorhandensein dieser Inhalte als für uns und unsere Zustandsverbesserung als relevant und in Ordnung aufgeklärt zu werden.

Es geht darum diese zu sichern und genau so weit erstarken zu lassen wie bei anderen Menschen ohne unsere Erfahrungen.

Doch haben wir das vielleicht nicht genug bedacht, denn nun stehen wir erneut an einem Punkt an dem wir merken: Ja, jetzt sind wir so weit, dass es für uns kein fast g’ttgleiches Geschenk mehr ist, wenn uns jemand glaubt, dass es uns gibt. Dass wir sind. Dass wir leben, lieben, leiden.
Sondern, dass wir wissen: Therapie ist ein Arbeitsverhältnis. Therapie ist Arbeit an und Auseinandersetzung mit sich, wie der ganzen Welt. Auch dann, wenn sich “die Welt” durch den kleinen Einpersonenhaushalt mit Haustier und Ehrenamt auszeichnet, so ist es ein Kosmos, der eine Wandlung mit macht.

Wir wissen, es muss grundlegende Regeln geben. Wissen, dass diese Regeln auch Bereiche berühren können, die privater sind, als bei einem Arbeitsverhältnis bei dem es um die Errichtung eines Gartenzauns geht. Doch selbst in so einem Arbeitsverhältnis wird miteinander geredet. Ist man miteinander, weil man weiß, wie sehr man von einander abhängig sein kann.
Psychotherapie funktioniert nicht so. Therapieverhältnisse sind Abhängigkeits- und damit auch Gewaltverhältnisse. Nicht zuletzt auch deshalb, weil nur eine von beiden Professionalitäten als echt und wahrhaft auf ihrem gesicherten, etablieren Raum bestehen darf – obwohl die eine ohne die andere weder gebraucht noch produziert werden kann.

So nehme ich uns derzeit wahr wie Frankensteins Monster.
Wir waren eine Art tote Masse, die erst durch das Handwerk idealistischer, kompetenter und hoffungsvoller Menschen zu etwas kommen konnte, das man Leben nennen kann. Man feiert unsere Erfolge, freut sich mit uns über das eigene Wachstum, doch dann: [Schlaglicht und eine bizarre Musik im Hintergrund] haben wir eine Forderung. Wir wollen als das anerkannt sein, was man uns immer vermittelte und wollen einen entsprechenden Umgang mit uns.

Wir wollen respektvoll angehört werden, wenn es in einem Gespräch um uns als Person geht. Wir wollen die Möglichkeit unser Arbeitsverhältnis mitzugestalten. Wir wollen nicht weiter ausschließlich als in Schöpfung betrachtet werden, sondern auch als in Bestand.

Ich habe natürlich einen persönlichen und aktuellen Anlass das Thema aufzugreifen – zu anderen Zeiten aber habe ich diesen Anlass ebenfalls.
Auch zu anderen Zeiten gibt es Bereiche, in denen kompetente Patient_innen unter die Räder von Sozialpolitik und Professionsgeklüngel geraten und exakt keine Mitspracherechte bzw. exakt keine Gewichtung ihrer Mitsprache in Bezug auf ihre eigene medizinische, psychiatrische, psychologische und sonstige Behandlung, Versorgung, Pflege und unter Umständen auch juristische Genugtuung  erhalten.

Zu keinem Zeitpunkt seit unserer ersten F – Diagnose gab es je keinen Anlass sich mal zu fragen, ob sich denn niemand darüber wundert, was für ein seltsamer Weg beschritten wird um Leiden zu begegnen und zu lindern. Zu keinem einzigen Zeitpunkt in unserer gesamten Behandlungszeit gab es so ein Moment nicht.

Und lange dachten wir, dass wir uns darüber wundern und das in Frage zu stellen hätte etwas mit unserer Kaputtheit, unserem Leidensdruck, der beschissenen Lebensrealität mit der wir jeden Tag umgehen zu tun.
Nicht damit, dass da tatsächlich Kackscheiße passiert.

Und daneben die Frage, warum werden “wir Patient_innen” (und: “Wir, die wir Opfer von Gewalt wurden”) denn bitte so sehr gestärkt und in unseren Rechten auf Selbstbestimmung, Unversehrtheit und bestmögliche Versorgung im Sinne von Umgang und Begegnung versichert, wenn wir diesen nicht gleichermaßen auch von denen einfordern dürfen, die uns beigebracht haben, dass wir ein Recht darauf haben?

In den letzten Jahren haben wir so viel über die Sollbruchstellen des Antistigmatisierungsaktivismus gelernt. Haben so viel über die tiefgreifenden Wurzeln von Selbststigmatisierung im Zusammenhang von Konsumgesellschaft und patriarchaler Gesellschaft gelernt, dass wir vor uns selbst nicht umhinkommen, durch die Straßen und jeden einzelnen Tag zu laufen und merken, was hier eigentlich passiert. Obwohl und trotzdem so viele Menschen glauben, vieles (alles) ginge auch ganz anders als jetzt.

Nämlich: auch ohne Gewalt