schwanger gehen

Ich denke darüber nach, einen Brief zu schreiben.
Dann sitze ich an meinem Tisch. Neben mir steht mein Kaffee. Und alles verschwimmt.

Ich spiele Runde um Runde Candy Crush. Trinke einen Schluck. Beantworte Emails. Recherchiere für einen anderen Text. Stunden später möchte der Hund raus. Wir gehen in den Wald. Ich laufe hinter uns her und versuche jeden verlorenen Gedanken einzufangen.
Dann essen wir. Fressen wir. Überfressen wir uns bis sich der Bauch vorwölbt und die Schwangerschaft mit diesem Thema nach außen tritt. Dann weint jemand. Dann kotzt jemand. Dann sitze ich vor meinem Laptop und fische in der Kotze nach den Worten, die in meinen Brief hinein könnten.
Ich spiele Soda Saga. Spiele Candy Crush. Spiele social bei Twitter. Bearbeite Fotos. Fresse. Kotze. Heule.
Entdecke auf der Uhr die Nacht.

Ich verschließe meine Augen und warte auf den Schlaf. Denke an Sex und lache mich aus. Warte.
Denke an nichts. Verschwimme im Nichts und warte auf mein Aufwachen.

Liebe Mutti. Mami. Mama. Mam. Mutter. Frau. S.
Hallo, ich bin verrückt schon gewusst?
hello hello hello long time no see special new informations hello hello hello

“Wie sag ichs meiner Mutter?” ist so ein Satz aus der “unerwartet schwanger/HIV positiv/Erwartung enttäuscht” – Ecke.

Mein Kaffee ist kalt und ich breche in Tränen aus, weil ich aufgewacht bin, ohne es zu merken.
Der Kühlschrank brummt, die Kaffeemaschine klickt und röchelt, der Laptop summbrrrrtbrummt und das Telefon siept. Das Blut in meinen Ohren spielt weißes Rauschen und ich betrachte die Worträume in meinem Kopf.
Sie sind zu groß für das Außen. Zu viel.

Hast du zufällig schon früher gewusst, dass ich autistisch bin? Hast du zufällig deshalb

Das Zeitmädchen setzt sich neben mich und starrt mich durch seine weißen Augen an.
“Sie wird das nicht verstehen. Egal, was du schreibst.”.
Es fällt in sich zusammen. Ist wieder weg.

“Warum willst du das überhaupt aufschreiben? Am Ende steht für Außenstehende wieder nur: “Ich bin anders als andere. Ich bin besonders.”. Das hat keinen Wert für uns.”. M. schaut auf meine Finger und klopft unter ihr Kinn. Das Geräusch poltert durch das Rauschen und zieht eine Linie zwischen Wohnungslärm und Kopfkrach.

“Ich möchte ihr sagen, dass besonders sein scheiße ist. Dass es das für uns schon immer war und immernoch ist. Dass wir es Last empfinden, weil so viele Menschen mit einem Besonderssein immer und immer und immer Erwartungen an uns stellen, die wir immer und immer und immer enttäuschen. Ich möchte Leuten eine reinhauen, die sich für wertlos halten, weil sie nicht besonderisiert werden.
Und ich möchte eine Antwort auf die Frage, ob es vielleicht nie möglich war uns nicht zu miss-be-handeln. Ich muss wissen, ob wir heute wären, auch wenn sie uns nicht geschlagen, gedemütigt, ausgenutzt hätten. Ich muss wissen, ob – wenn ich schon ganz ganz früher normal gewesen wäre – vielleicht die Versuchung geringer gewesen wäre, sich an Menschen zu wenden, die davon profitieren.”, antworte ich und drücke die Worte an meine Brust.

“Du möchtest wissen, ob du etwas hättest richtig machen können.”. Seine Stimme schiebt sich unter mir her. “Herzchen – das hatten wir alles schon.  Etwas richtig machen, gabs damals nicht als Option. Nie. Wir hätten das normalste Kind der Welt sein können und das wäre noch falsch gewesen.”. Er berührt seine Lippen. Löst sich wieder auf.

“Du wirst nicht von ihr bekommen, was du brauchst. Sie kann das nicht. Niemand kann das. Wir sind jetzt allein damit und werden das für immer sein.”, sagt sie. “Wenn du dagegen ankämpfst, tut es weh.”. Sie hebt einen Flügel für mich und lässt mich in ihren Federn sitzen. “Wenn du loslässt, dann können wir uns davon entfernen. Wir nehmen Abstand davon und lassen es wo es ist. Wir können jederzeit wieder hier hin zurück. Nichts wird sich verändern.”.

Ich kann nicht loslassen.
Ich spiele. Fresse. Kotze. Wache. Warte.
Liebe Mutti. Mami. Mama. Mam. Mutter. Frau. S.

Jemand malt mich, um Abstand zu mir zu bekommen.
Mich loszulassen.
Mich zu verlassen.

Es wäre schön, wenn ich meiner Mutter eine unerwartete Schwangerschaft mitteilen könnte.
Das wäre so normal für mein Alter, mein Geschlecht, mein Das,waswäre,wenn.

wn

der “Tochter geboren Tag” meiner Mutter

Rosenwirbelvielleicht war meine Geburt doch ein bisschen wie in “Alien” – immerhin war ich 3 Tage “zu spät” und meine Mutter bekam, glaube ich, Wehenmittel, um mich abzusondern rauszuschieben auszuscheiden zu extrahieren
Vielleicht
mich zu dissoziieren?

Ich hab heute Geburtstag. Meine Mutter hat “Tochter geboren Tag”.

Es gibt diese Geschichte von der alten Frau, die inmitten ihrer Familie am Tisch sitzt und übers ganze Gesicht grinst. Auf die Frage, was sie so glücklich macht, sagt sie: “Ich dachte gerade daran, dass ihr alle irgendwie auf eine Art aus meiner Vagina gekommen seid.”.

In den letzten Wochen, seit dem Artikel über die Menstruation, seit ach seit FRAUENLEBEN as a thing of mine lerne ich, entdecke neu und fange an etwas zu spüren, das weit weit weit darüber hinaus geht, dass ich meine Familie verlassen habe – mich extrahiert und auf eine gewisse Art wieder_selbst_geboren habe.

Ich glaube nicht, dass ich diesen Weg, diese Art Bewusstsein für mich entwickelt hätte, würde ich noch im Schoß meiner Familie* leben.
Aber ich spüre gerade einmal mehr, dass da einfach auch Trauer ist. Nicht nur, dass ich jetzt hier sitze und meine Babymimosen als einzig lebenden Beweis für meine Potenz habe – die Tatsache, dass ich das so wahrnehme und auch noch “Potenz” nenne und eigentlich schon wieder davon zurückzucken will, weil niemand feminine Frauen* mit einem (ur)weiblichen Weiblichkeitsbegriff mag und lieber für abgedreht, übertrieben, unnötig, eingebildet und ach was weiß ich, hält

das macht mich traurig.

Es ist nicht nur, dass jetzt nicht die Tür aufgeht und sich meine Mutter zu mir ins Bett legt und mir von meiner Geburt und ihrem Erleben dessen erzählt.
Es ist nicht nur, dass jetzt nicht die Tür aufgeht und jemand mit einem Yestörtchen mit Kerze drin kommt und mich in den Arm nimmt.

Es ist, weil da etwas fehlt und vielleicht egal, wie mein Leben früher später irgendwann gelaufen wäre, in Bezug auf meine Mutter immer fehlen wird: Verbundenheit

Ja ja wir Menschen sind ja so autark und so tolle Egoinseln. Soziale SelbstversorgerInnen*, die Freiheit für erreicht halten, wenn sie frei von etwas sind und genau nur das haben, was sie gerne wollen.
Wir gebären nicht – das machen alles die Zellen.
Wir produzieren nicht- das machen alles die Arbeitsabläufe.

Wir schweben irgendwo im Nirgendwo und Essen, Schlafen, Ausscheiden und ein bisschen Wohlgefühl, das uns das Zittern aus den kalten Herzen treibt, das ist was uns ausmacht. Der Rest passiert einfach irgendwie so. Hupps! Kann ja alles mal passieren. Und nochmal. Und nochmal. Ist ja kein Drama. Es geht immer weiter. Wunderwerk Schöpfung. Geht irgendwie immer weiter, obwohl wir gar nix damit zu tun haben.

 

Ich hatte als 14 Jährige angefangen zu rauchen, weil meine Mutter raucht.
Die Verbundenheitsgefühle, die ich mir gewünscht hatte, stellten sich nicht ein. Ich erinnere kein einziges Mal, das wir entspannt und positiv belegt zusammen geraucht haben.

Sie hat jetzt ein Haus. Da hat sie ein Beet im Garten. Das kann man sogar bei Google Earth sehen.
Ich hab keine Ahnung, ob sie sich über die Pflanzen und ihr Gedeihen potent vorkommt oder nur denkt, sie wäre ein guter Gärtner (sigh).

Wenn ich mit ihr darüber reden würde… könnte ich es? Ich werde es vermutlich niemals.
Ob sie meine Geburt als einen Akt ihrer Potenz, ihrer Fähigkeiten als Frau wahrgenommen hat?
Ich warte seit Jahren darauf, dass ich ein bestimmtes Gefühl an meinem Geborenwordentag spüre. Eine Art Erinnerung meines Körpers, meiner Zellkerne daran, wie es war, als ich “hübsches Baby- du warst das hübscheste Baby im ganzen Krankenhaus. Du hattest so schöne Haare.” ganz neu, ganz ganz ganz ohne irgendeinen anderen Grund als den EINFACH NUR SO am Leben zu sein, diese Welt berührte.

In meiner Vorstellung ist es ein Vibrieren oder eine Art Druck, der als das Gegenstück zu einem Druck oder Vibrieren in ihrem Körper spürbar ist.
Ich meine… ja alles schief und krumm und schwer und jaaa Gewalt böse ja ja ja – aber es ist auch: ein Mensch, der aus einem anderen Menschen heraus gekommen ist, auch Mutter und Tochter auch Täterin und Opfer auch Macht und Ohnmacht auch potenzierte Kraft, die sich bis zu mir erstreckt hat- in mich hinein, in meine Zellen in mein physisches Dasein.
Ich bin nicht mehr da bei ihr, mit ihr, für sie – aber mich gibt es trotzdem. Ich bin ja trotzdem noch _da_ und hier. Ich existiere nicht kontextlos.

Wir sind trotzdem nicht verbunden.
Wir sind genau jetzt nicht verbunden, obwohl wir uns eigentlich genau jetzt verbinden könnten, um zusammen einfach mal kurz einzuatmen und unserem Dasein und unserer Kraft Raum zu geben. Sie zu würdigen. Einander Wissen, Unwissen, Fragen, Mut und Zweifel zu überreichen.
Wozu sonst sollte man eigentlich überhaupt Geburtstage feiern, wenn nicht dafür, das Wunder des Lebens in all seinen Facetten zu erspüren?

Wir sollten die Mütter an den Geburtstagen ihrer Kinder feiern und nicht am Muttertag, der sowieso by the way ursprünglich ein Tag war, an dem Mütter (Frauen*, die lebende Kinder geboren haben) dagegen demonstrierten, dass ihre Kinder und Ehemänner* in den Krieg ziehen sollten. Wir erinnern uns an die alte Frau oben im Text?

Ich lese gerade ein Buch, das die Vaporisierung – das Verschwinden der Frau aus dem kollektiven Gedächtnis aufgreift. Die Autorin nennt es “patriarchale Amnesie”.
Eine Lektüre, die mir das Gehirn nicht nur anstößt, sondern regelrecht an die Wände knallen lässt, um erlösend dran kaputt zu gehen.
Es tut weh das zu lesen, aber es heilt auch irgendwas in mir. Es macht meine Trauer um die fehlende Verbundenheit zu meiner Mutter und deren Mutter und deren Mutter und deren Mutter und deren Mutter und deren Mutter und deren Mutter und deren Mutter…. legitim und nachvollziehbar.
Es erscheint mir klarer und logischer, wieso mich Menschen fragen, ob Sexualität überhaupt so nötig ist, wie ich das wahrnehme. Oder warum Frauen, die von der großen Göttin sprechen und wissen, wie ihr Menstruationsblut schmeckt, als ganz besonders durchgeknallt und “nicht ganz in der Realität” bezeichnet und dargestellt werden “müssen”. Warum es so verdammt unsicher, schrecklich und nur abratbar ist, eine (feminine Cis)Frau* zu sein, die stolz auf ihre Biologie, ihre Leidenschaft, ihre Kraft, ihre sexuelle Potenz ist und sich weder dafür schämt, noch einen Hehl (im Sinne eines Verkaufs) für andere Menschen daraus macht.

Warum es in unserer Gesellschaft so wichtig sein kann – so existenziell hochnot nötig – die eigene Tochter nicht nur physisch auszuscheiden, sondern auch auf allen anderen Ebenen zum Frei von heits- Begriff zu erziehen.

Ich würde dieses Verstehen, dieses Erkennen und bewusst werden über diese Dinge so gern mit meiner Mutter und ihrer Mutter und deren Mutter und deren Mutter und und und
einem riesengroßen Haufen Frauen und Frauen* durchlaufen.
Ich mag es, wie sich auf politischer Ebene feministisch auseinandergesetzt wird. Wirklich.
Aber 50% Frauen im Bundestag, mehr Väter in Elternzeit und Werbung mit angezogenen Frauen, werden mich nicht mit meiner Mutter und der weiblichen Linie, deren gesamte Kraft ich in mir drin habe verbinden.
Was es erreichen kann ist, dass die Kraft, die ich weitergebe, wenn ich es denn kann und _ kann_ und im letzten Schritt auch will und _will_ einen weniger ausgedorrten Boden zur Entfaltung und Entwicklung vorfindet. Und ich werde dankbar dafür sein. Meine Kinder- unser aller Kinder werden uns dafür so dankbar sein, wie sie es können.

Ich habe heute morgen noch über die Nähe der Worte “Mode” – “Moder” – “modern” nachgedacht und jetzt tröstet es mich irgendwie einmal mehr.
Ja, da ist ein Loch, da ist keine Verbindung, da ist Moder und Rotte von etwas, was hätte sein können. Aber, wie auch die Schreiberin des Buches schreibt: nichts ist bunter als Kompost.

Vielleicht ist die Trauer auch Teil einer Art Verwesung, eine Art geistige Menstruation und ist da, weil sie da sein kann.
Jetzt.
Heute.

Endlich.
Nachdem ich mich daran erinnert hatte, dass ich eigentlich mal besser darin war, meinen Geburtstag unsichtbar zu machen.

Nachher esse ich Kuchen mit einer Gemögten.

Ich glaube, ich schenke meiner Mutter zu ihrem “Tochter geboren Tag” ein Licht an unserem Tisch.
Zum Gedenken.

Mutter Liebe Leben

BlattgerippeNeulich habe ich von meiner Mutter geträumt.
Es war einer dieser Träume, in denen man unglaublich viel rennt, ganz dringend etwas erledigen muss, aber an den Menschen abprallt wie Regen auf Lotusblüten. Ich weiß nicht mehr genau, worum es ging, aber es war ein Bild von meiner Mutter darin, das mich noch ein paar Stunden nach dem Aufwachen beschäftigte.

Dieses zusammengekrümmte Hocken, die eine Hand vor dem Bauch, nach unten atmend, die andere Hand stützt sich, ein Messer über Gemüse auf einem Schneidbrett haltend, an der Arbeitsfläche ab. Die Brauen sind zusammengezogen und von irgendwo in ihrem Brustkorb kommt ein Stöhnen.

Als ich 16 oder 17 war, habe ich ihr mal einen Brief geschrieben: “Wie kannst du nur – du solltest ihn verlassen blablablabla…” schön peinlich- sogar in Anbetracht jugendlicher Dummheit. Ich glaube, da stand sogar etwas von “Hast du mich denn je geliebt?” drin.
Ich habe natürlich nie eine Antwort auf den Brief erhalten. Auf die Frage nach ihrer Liebe für mich, gebe ich mir inzwischen selbst die Antwort: Ja klar!

Vor noch etwas längerer Zeit hatten wir darüber nachgedacht, was Liebe genau ist und, ob wir dazu fähig sind.
NakNak* wird in zwei Wochen 5 Jahre alt und ist damit unser längster sozialer Kontakt, der mit uns Dach, Bett und Futter teilt. Lieben wir sie?
Oder haben wir uns nicht doch eher freundlich zugeneigt und an ihr Dasein an unserer Seite gewöhnt? Was genau macht Liebe aus? Und was genau ist an Mutterliebe so wahnsinnig viel wichtiger, als an Vater- Tier- und Umweltliebe?

Ich stellte mir die letzte Frage, weil mir auffiel, dass ich immer wieder meine Mutter als erste Adressatin für die Frage nach Liebe für mich aussuchte. Immer wieder und bei so ziemlich allem, was ich tat. Obwohl ich noch den ganzen Rest der Familie zur Verfügung gehabt hatte.
So kam ich zu meinen Recherchen zum Mutterkult, der unter den Nazis hochgepusht wurde und bis heute seine Ausläufer hat, um Menschen, die zu Müttern werden, ein Ideal ins Leben zu donnern, das dort so überhaupt mal gar nichts zu suchen hat.

Meine Mutter war sehr jung- ist jung. Sie war sehr krank- ist noch immer krank. Sie hat sich an meinen Vater gewöhnt und nennt das Liebe. Vielleicht geht es ihm nicht anders. Wer weiß das und wen interessiert das? Geht es mich überhaupt etwas an?
Wer bin ich denn mehr, als ein Lebewesen, das aus Versehen in ihr wuchs und dann halt blieb?

Wenn ich mich in Literatur, Kunst und Film umschaue, begegnet mir Liebe immer wieder sehr umfassend. Tief bis in tiefste tiefe Fasern und immer steht ein Begehren im Vordergrund. Unwillkürlich tauchen vor meinem inneren Auge riesige Kraken auf, die einander aufzusaugen versuchen, ihre vielen Arme um einander herumwickeln und jede Zelle des Anderen in sich aufnehmen wollen. Ganz im Anderen aufzugehen- sich den Anderen ganz und gar- mit Haut und Haaren- zu nehmen; irgendwie, ja, fast anzueignen und mit einem befriedigten Schnurren in sich drin zu halten- noch während man selbst nicht mehr man selbst, sondern der Andere ist.

Im Fall der Fötenentwicklung ist das ja sogar gegeben. Die kleinen humanoiden Zellhaufen schwimmen in einem anderen humanoiden Zellhaufen herum und teilen sich mehr, als es nach der Trennung in irgendeiner Form wieder möglich sein kann. Könnte man hier von Liebe sprechen? Lasst uns mal einen Fötus fragen- oh wait!

Doch nun ein Sprung zu meinem peinlichen Brief.
Ich hatte damals noch genau diese Einstellung: Liebe kann alles schaffen und alles überwinden und Schwallablabla-Filmkitschblödsinn.
Fakt ist, das Liebe eben nicht alles schaffen kann.

Um zu verhindern was war, hätte meine Mutter mich gar nicht erst auswachsen und gebären lassen müssen. Sie hätte sich selbst den Gefahren eines Schwangerschaftsabbruchs aussetzen müssen und das war in der Zeit Schwachfug. Ich als kleiner Zellhaufen, Fötus und später Baby, Kind, erwachsener Mensch, habe ihr nicht gleichsam geschadet.

Ich glaube, dass ich eine ganze Tasche voller moralischer Empörungen über meiner Mutter ausschütten könnte, die alle mehr oder weniger zutreffend sind. Aber alle diese moralischen Überzeugungen fußen auf genau diesem Gerede davon, dass Mutterliebe und Liebe allgemein, zwingend Respekt, Schutz, Annahme, Aufmerksamkeit, Geborgenheit, Nähe, Wärme, Nährung und geistig emotionale Verbundenheit zur Folge haben müssen. Ganz besonders, wenn der eine Mensch den anderen Menschen geboren hat.

Entweder bin ich seelisch so kaputt, dass ich moralisch falsch liebe oder Liebe, die Moral hinter sich herzieht ist etwas, das ein Ideal produziert, dem nur entsprechen kann, wer bereitwillig sein Selbst in anderen Menschen auflöst und in sachtem Gegurgel verdauen lässt (um dann in kleinste Teilchen zerhäckselt ausgeschissen zu werden und schwer zu leiden).

Was ich hingegen glaube ist, dass meine Mutter mich und uns und auch sich selbst, mit mehr moralischer Festigkeit hätte besser leben lassen können.
Doch wer bin  ich, dass ich über ihre Festigkeit zu richten habe? Vielleicht tuckert in ihrem Herzen doch ein kleiner Kaffeefrachter voller Respekt vor dem Leben anderer Menschen herum, doch kann nirgends andocken, um seine Fracht abzuladen?

Ich bin ihr, der Natur, G’tt dankbar, dass ich leben kann. Dankbar- nicht von Liebe und Hingabe erfüllt, dass es mir fast übern Rand schwappt.
Ich versuche diese Werte von positiver Widmung, Achtung vor der Unantastbarkeit des Inneren anderer Menschen, Hingabe ans Leben mit all seinen Facetten zu leben und bilde mir ein, dass ich so auf diese Art ein Lieben praktiziere, das mich eben nicht dazu zwingt, mich ganz in anderen Menschen zu verlieren oder ihnen so nah zu treten, dass ich ihnen Briefe, wie den an meine Mutter schreibe.

Meine Mutter hätte nichts verhindern können, ohne sich selbst zu gefährden.
Das war zu meiner Entstehung so und das ist bis heute so.

Was wäre das für ein Totalausfall von mir, zu verlangen, dass sie sich für mich zu opfern hat?! Und warum ausgerechnet sie und nicht mein Vater, meine Geschwister, meine Großeltern- meine LehrerInnen, ErzieherInnen- die Nachbarn, die Freunde* und deren Eltern? Sie alle hätten mir damals helfen können.

Mir ist das Bild, das ich im Traum sah, nachgehangen, weil es das Einzige ist, das sie nicht stark, durchsetzungsfähig, und wandelbar zeigt. Sie wirkt nicht schwach auf mich, sondern gequält und damit in höchster Gefahr.
Das entschuldigt nicht. Aber es macht mein Bild, in dem ich mich/uns positionieren kann, klarer.

Ich muss mich heute damit abfinden, dass mein Bild von meiner Familie* wohl nie, von meiner Familie* selbst korrigiert oder berichtigt oder gar um noch mehr Facetten erweitert wird. Das ist ein Verlust für mich und darum trauere ich manchmal.
Meistens aber bin ich froh um den Abstand zwischen uns.

Bin froh, dass ich meine Dankbarkeit für mein Leben fühlen kann und von dem Früher räumlich, wie zeitlich so entfernt bin, wie heute.
Ich glaube, wir würden uns immer wieder in Gewalten wiederfinden, wenn wir Kontakt hätten.
Doch ich habe mich dagegen entschieden.

Vielleicht war mein Wunsch, dass sie ihn verlässt davon getragen:
Ich bin gegangen- geh du doch auch!
Es wäre schön, mein gewaltfreies Einsamkeitsexil ohne familiäre Bezüge mit ihr zu teilen. Eine Verbündete zu haben, die weiß was es heißt, ein weiblicher Mensch in dieser Familie* gewesen zu sein. Die mit mir zusammen erkundet, wie es ist ein weiblicher Mensch in dieser Welt zu sein. Die mir erinnern und integrieren hilft. Mit der zusammen ich wachsen könnte. Vielleicht Stärke ansammeln und Qualen abstreifen könnte.
Ja. Das wäre schön.

Aber sie hat keinen Grund zu gehen oder genau das auch schön zu finden- oder gar zu wünschen.
Sie hat aber tausend Gründe, genau das eben nicht zu tun.