decisions

Zu dick, zu komisch geformt, falsch, falsch, falsch hielt ich im Laden inne. Vor mir ein rosa Pulli mit dem Schriftzug „made from good decisions“ drauf.
In mir noch immer Geheule. Kampf um Kontrolle. Wut. Ohnmacht. Das Gefühl nur noch ein letztes diffuses Stückchen Hoffnung berühren zu können. Obwohl die Therapiestunde über eine Stunde her war. Und die Entscheidung schon klar. Nicht mehr dran denken. Nicht wichtig. Weg damit. Tür zu, Augen zu, Kopf zu. Tot, weg, nichts mehr da. Weiße Fläche wird durchsichtig und löst sich auf.

„Ja, ‚good decisions’“, dachte ich. „Was ich hier gemacht hab, war keine gute decision. Warum stehe ich in diesem kack Laden. Bin eh zu dick für alles das hier. Ja, ich hätte online bestellen sollen. Was denke ich eigentlich immer, was außerhalb meines Wohn- und Hunderundenraumes auch für mich wäre. Wie blöd kann man eigentlich sein.“ Wieder werde ich direkt von jemandem angeguckt. „Ja, ihr dämlichen Arschlöcher, ich trage eine dieser kackscheißemistigen Drecksmasken. Verpisst euch mit eurer keimigen Virusausatmung. Unsere Leben kriegt ihr nicht.“

Wieder knackt etwas in meinem Rücken. Als ich danach greife, überschwemmt mich der Loslassschmerz meiner Faust. „Ja, ist ja auch egal“, denke ich und verlasse das Geschäft.
Draußen bin ich Hannah im Wunderland. Alles und alle wirken übermäßig groß. Unvorhersehbar. Chaotisch.
No good decisions.
Zonk!
Eins, zwei oder drei, letzte Chance schon längst vorbei.

„Man könnte sagen, dir ist ein Unfall passiert, ja. Das ist einfach passiert, du hast es gesehen und du musst das jetzt irgendwie verknusen.“
Ich habe Bubis warmen Bauch am Bauch, streiche über sein raues Fell. Der Partner spricht mit mir die verquer gelaufene Therapiestunde weiter. Drei vier Schichten hinter mir totale Durchdrehung. Schwammig brockiges, wirres, diffuses Fühlen. So heiß, dass es kalt ist. So konkret, dass es keine Bedeutung hat. So bedürftig, dass nichts aushaltbar ist. 
Ich freue mich auf meine Nachtmedikation. Das Leer vorm endgültigen Einschlafen, das lange Leer nach dem Aufwachen.
Blödeste Kackdecision seit Jahren, damit wieder anzufangen.
Best decision possible at the moment.

Lesung aus „Worum es geht – Autismus, Trauma und Gewalt“ in Bielefeld

Wir laden herzlich zur Lesung aus unserem zweiten Buch „Worum es geht – Autismus, Trauma und Gewalt“ ein.

Die Lesung findet am 18. Mai, um 15 Uhr im Filmhaus Bielefeld statt.
Die Anmeldung und alle Informationen zur Örtlichkeit findest du auf der Veranstaltungswebseite.

Zur Veranstaltungswebseite hier klicken

Wir freuen uns auf euch!

Entschuldigungen

Mou haben uns nach unserem ersten Interview zu „Worum es geht“ einen Kommentar geschrieben. Darin fragen sie unter anderem: „Es betrifft das Ende des Buches, S. 130, „das, was ich noch sagen will“. Warum schreibt ihr jemandem, der_die nach Lektüre des Buches verstanden hat, dass er_sie euch Gewalt angetan hat „Bitte entschuldige dich nicht bei mir. […] Weder du noch ich brauchen eine Entschuldigung.“?
Wie ist euer Konzept von Schuldgefühl und Entschuldigung (in einer strukturell gewaltvollen Gesellschaft)?“

Hier ist meine Antwort darauf.

In einer Gesellschaft wie unserer gibt es kein Leben in Unschuld.
Da wir einander stets und ständig in gewaltvoller Interaktion und Kommunikation begegnen, unsere Werte gewaltvoll definieren und ausleben, prägen und weitervermitteln, ist es für Menschen ab einem gewissen Alter und Interaktionsradius einfach unmöglich, in Gänze unschuldig zu sein – richtiger: als unschuldig gedacht und behandelt zu werden. Denn auch Unschuld schafft es nur durch Interaktion überhaupt von der Idee zur Funktion für die Gesellschaft.
Entsprechend halte ich Unschuld für eine Idee bzw. ein Konzept, das, ähnlich wie das Konzept der Heilung, eine Illusion ist. Eine Erlösungsphantasie, die von niemandem gelebt werden kann, aber existiert, damit Menschen bestimmte Werte und Haltungen nicht hinterfragen und verändern oder ablegen. In dieser Hinsicht handelt es sich also auch um ein Werkzeug der Vermeidung. In diesem Fall der Vermeidung der Erkenntnis (und ihr folgender Lebenspraxis), dass alle Menschen gleich verschieden am Leben sind, um am Leben zu sein (und weiter nix).

Ich weiß, dass viele Menschen, die Gewalt erfahren haben, auf Entschuldigungen der Täter_innen warten oder fordern oder brauchen, um zu verarbeiten, was ihnen passiert ist. Dabei geht es oft auch um den Versuch, erneut eine Bindung herzustellen, die auf andere Art gestaltet ist, um ein gewisses Gleichgewicht, eine gewisse Gleichheit, (wieder) herzustellen. Das kann funktionieren – jedoch nur unter Gleichen, die lediglich der Akt, der später entschuldigt werden kann, trennt. Und auch nur dann, wenn es mehr als eine Entschuldigung nicht braucht, um die ursprüngliche Gleichheit wieder herzustellen.

In meinem Fall bezogen auf die Gewalterfahrungen, die ich gemacht habe, braucht es erheblich viel mehr als Entschuldigungen und eine neue ausgewogene Ver_Bindung zu Menschen, die an mir zu Täter_innen wurden, um in diese Gleichheit zu kommen. Meine Devianz auf vielen Ebenen macht viel dieser Gleichheit unerreichbar. Andererseits ist es aber die Gewaltgesellschaft, die meine natürliche Devianz ausnutzt und mich damit auf vielen Ebenen ungleich macht und hält.
Um meine Gewalterfahrungen also irgendwie „auszugleichen“ oder „wiedergutzumachen“ braucht es auch eine Gesellschaft, die ihre Vielfalt pflegt, liebt, fördert, schützt und verteidigt. Die Opfer wie mich anerkennt, entschädigt, und Reparation leistet. Und zwar, weil sie erkennt, was es für ein Gewaltakt an allen Menschen in der Gesellschaft ist, es nicht zu tun und sich aktiv dafür entscheidet, ihn nicht zu vollziehen.
Eine Gesellschaft, die aus gemeinschaftlicher Vermeidungstradition, Pflichtgefühl oder moralischem Imperativ heraus Buße tut Entschuldigungen vortanzt, um das unangenehme Gefühl von Schuld nicht mehr zu fühlen, rahmt diesen Akt in der Regel als unangenehme Belastung. Als Arbeit ohne mehr Lohn als „das gute Gefühl“. Damit verliert sie für mich noch mehr an Wert und Bedeutung. Denn für das, was ich möchte im Kontakt mit anderen Menschen, brauche und will ich sie nicht erniedrigt oder belastet.

Ich will leben, und zwar einfach so. Ich will mich fühlen, mich verstehen, ich will mich selbst in Verbindung mit anderen Menschen fühlen, verstehen und auch er_leben. Dazu gehört, dass ich verstehe, was mir passiert ist. Nicht nur so, wie ich es mir in der Traumatherapie zusammenüberlegen kann – ständig an der Krücke der Interpretation meiner eigenen von Dissoziation und altersbedingter Hirnreife fragmentierten Erinnerungen hängend und den Zweifel stets mit im Gepäck. Sondern so, wie es sich üblicherweise ergibt, wenn man Dinge mit anderen Menschen erlebt hat: Eine teilbare Geschichte, die rund und voll und ganz wird durch die verschiedenen Perspektiven ihrer Beteiligten und so ein Abbild unser aller Lebendigkeit. Daher brauche, wünsche, fordere ich, dass ich von Menschen, die an mir zu Täter_innen wurden, höre: „Ich habe damals das und das gedacht. Ich hab mich so und so gefühlt. Ich glaube an das und das – deshalb versuchte ich dies und das. Ich finde dieses und jenes schön/schlimm/ängstigend/problematisch/*, also habe ich das und das getan.“ Denn das haben sie alle – egal ob sie mich geschlagen und vergewaltigt oder missachtet und ausgeliefert haben – nie (aufrichtig, in Gänze und Gleichheit) mit mir geteilt. Gleichzeitig konnte ich den meisten von ihnen nie (aufrichtig, in Gänze und Gleichheit) mit.teilen, wie die Situation.en für mich war.en.

Schuld ist in unserer Gesellschaft eine Waffe, die wir alle mit uns tragen. Wer schuldig ist, wird automatisch Schuldner und damit anders. Es entsteht Schamgefühl und daraus der Drang zur Auflösung der Schuld durch Entschuldigung. Wir haben alle gelernt, dass sich zu entschuldigen wichtig ist, aber nicht, wie wir damit umgehen, wenn das nicht funktioniert. Es steht völlig außer Frage, ob man nicht vielleicht auch gut mit Schuld leben kann, wenn man sie akzeptiert und als Teil des Lebens unter anderen Menschen begreift. So nach dem Motto: „Jetzt bin ich schuld am kaputten Teller, morgen ist jemand anderes schuld am Tod eines Menschen, übermorgen sind wir alle schuld am Klimawandel.“ Schuld an sich ist nicht das Problem, das ich mit meinen Gewalterfahrungen bzw. den Täter_innen in diesen Situationen habe. Es ist der Umstand, dass ich über meine Opferschaft in dem Moment beschämt bin und werde, weil sie der Grund für die meisten Benachteiligungen, Krankheiten und Hilfebedarfe ist, während die Täter_innen komplett unberührt davon leben können. Es gibt kein „Heute ich, morgen du, übermorgen wir alle, mal gucken, wie wir damit zurande kommen, vielleicht fällt uns ja zusammen was ein.“ Die Gewalt hat uns getrennt – die Schuld und unsere gewaltgesellschaftlichen Konventionen darum halten uns getrennt.

Ich will mein Leben nicht so gestalten. Ich will nicht getrennt sein von anderen Menschen. Auch nicht von denen, die an mir zu Täter_innen wurden.
Deshalb habe ich das so aufgeschrieben.

Eventuell mache ich damit die Hürde zur Kontaktaufnahme niedriger, das muss ich erfragen, wenn sich jemand melden sollte. Wahrscheinlicher aber ist, dass sich einfach niemand meldet. Zum einen, weil die wenigsten das Buch lesen werden – zum anderen, weil das, was ich da möchte, unfassbar anstrengend, vielleicht schmerzhaft und für die meisten von ihnen ohne Lohn oder erstrebenswertes Ziel ist. Die wenigsten derer, die an mir zu Täter_innen wurden, haben mich als Menschen wahrgenommen. Vielen wurde ich durch ein bürokratisches System vorgesetzt und also gewissermaßen aufgezwungen. Diese Menschen würden sich vielleicht wegen dieser uns verbindenden Gewalt melden – also, weil sie selbst sich mir gegenüber als Opfer sichtbar machen wollen, die gar nichts dafür konnten, dass sie Gewalt an mir ausgeübt haben. Aber da ich sage, dass ich keine Entschuldigung hören will, entfällt diese Möglichkeit der Gleichmachung.

Das Kapitel ist also wirklich nur das, was ich noch sagen wollte.
Ich habe das aufgeschrieben, damit ich es gesagt habe. Damit es ein Wissen, um diese Möglichkeit gibt. Im unwahrscheinlichen Fall, dass …

Umstellung #Coronatagebuch

Die Fahrt ins Krankenhaus war merkwürdig. Der Himmel blau, die Sonne so warm, als würde sie etwas mit dem Boden vorhaben.
Mein Partner fragte, ob er sich ein Taxi rufen sollte. Ich sagte nein. Und als ich ihn kurze Zeit später fragte, in welchem Krankenhaus er liegt, sagte er, er könne auch mit dem Taxi kommen. Da war ich schon über die Hälfte der Strecke gefahren, hatte meinen zweiten Weinüberfall des Tages kompensiert und war damit beschäftigt, nach meinen Freudengefühlen über seine Entlassung zu suchen.

Schwer atmend blinzelte er in die Sonne. Über sich das Dach des Krankenhauseingangs wirkte er klein und verschrumpelt. Der Weg zum Auto fiel ihm schwer, der Frust, die Angst der letzten beiden Wochen quollen Vorfall für Vorfall aus ihm heraus. Meine Annahme, dass ihn der Mangel töten würde, war richtig. Wäre er kein mittelalter, sondern ein alter Mann gewesen, wäre er gestorben. Wie unser Nachbar Ende letzte Woche. Ebenfalls Covid-19. Ebenfalls beidseitige Lungenentzündung.
Dass mein Partner die zusätzlich zu seinen Lungenembolien hatte, erfuhren wir erst durch den Bericht zur Entlassung. Denn es gab einfach keinen Informationsfluss. Niemand hatte einen umfassenden Überblick. Niemand hat die Verantwortung für das Leben meines wundervollen Partners übernommen. Alle haben sie nur für den eigenen kleinen Bereich funktioniert.

5 Rezepte mit der Aufschrift „Entlassungsmanagement“ an Bord fuhr ich zur Apotheke. Eine Strecke, die ich noch nie hin und zurück gefahren bin und erst herausfinden musste. Zeitweise war das, als wäre ich durch die Windowslandschaft gefahren. Völlig irre.
„Das ist jetzt sicher viel für Sie beide, hm? Eine große Umstellung.“ sagte die Apothekerin hinter dem Berg an Medikamenten und Gerätschaften hervor. Der Partner hat einen Covid-19bedingten Diabetes entwickelt.
Ja, das ist eine Umstellung. Eine, in der ich meine Rolle noch nicht kenne. Eine, aus der mich mein Partner raushalten will, wie er mich aus all seinen Krankheitssachen raushalten will. Eine, die mich einer ähnlichen psychischen Belastung aussetzt, wie in der Woche vor seiner Einweisung ins Klinikum. Sehen, hören, riechen, fühlen, wissen, dass da etwas nicht stimmt – aber Abstand halten. Nichts fühlen, nichts denken, not my monkeys, not my business.

Ich bin unserem Alltagsleben manchmal sehr nützlich, weil ich ein gutes Gehör habe. Ich höre seinem Atem an, ob es ein feuchter oder ein angestrengter Tag ist. Ob er schon inhaliert hat oder nicht. Als er in seine zweite Covid-Woche ging, war er schon längst zu schlapp und mental nicht mehr in der Lage, diesen Anlass meiner Todesangst um ihn zu verstehen. Und es war meine Unfähigkeit, der Arzthelferin in der Hausarztpraxis klarzumachen, dass hier etwas absolut nicht „typisch Covid“ läuft, die ihm nicht schon früher einen Arzt ans Bett gebracht hat.
Als er dann selbst um einen Arzt bat, habe ich in mir eine Tür zugemacht. In meiner Welt kam das viel zu spät. Ich war darauf eingestellt, dass er stirbt. Meine Umstellung in dieser Situation ist also eine ganz andere. Auch in mir selbst. Denn natürlich haben nicht alle wie ich gefühlt und gedacht. Aber was wissen die denn von meinem Alltag hier und heute? Und wie kohärent wissen sie das?

Die Apothekerin erklärte mir, was im Umgang mit den Lanzetten, den Pens, den Sticks zu beachten ist. Schrieb die Dosierung auf jede Schachtel und steckte sie in einen Stoffbeutel. Um mich herum einige andere Menschen.
Ich der einzige mit Maske auf.
Den Umgang damit werde ich weiter irgendwie allein hinkriegen müssen.

und dann die Wahrheit

Es ist eine erwartbare Entwicklung.
Rot-schwarze Kuttenmänner und übergeschnappte Therapeutinnen im Spiegel, unachtsam und übereifrig reagierende Strukturen in Münster, Empörung folgt Verzweiflung von Betroffenen – und dann gehts um die Wahrheit in der Zeit. Erinnerungen sind trügerisch. Wahrheit ist rein. In ihrem strahlenden Licht: Elizabeth Loftus, amerikanische Gedächtnisforscherin, erfolgreiche Derailingstrategie in jedem strittigen Prozess mit dem Thema „sexualisierter Gewalt“ vor einem US-Gericht.

Ich bin noch gar nicht so alt, wie ich mich fühle, in diesem schon zigfach durchgekauten Zyklus. Das schon ein Mal vorweg.
Dieser Text wird kein Pro- und Kontra- Kann man Erinnerungen glauben oder nicht. Das Ross ist mir einfach zu hoch und ich sehe keinen Zweck darin, der allen dienlich ist.
Aber es wird ein Text, der die Strategie beleuchten will. Und wie schwierig es ist, hier von einer Strategie zu sprechen, ohne als verschwörungsgläubig oder befangen in einer eigenen (möglicherweise sogar falschen) Betroffenheit gedacht zu werden. Und entsprechend nicht ernst genommen zu werden. Angehört zu werden. Als aktiver, gleichberechtigter Part mit gleichen Intentionen an dieser Diskussion behandelt zu werden.

Denn auch wenn in keinem der letzten Berichte zu (organisierter (Ritueller)) sexualisierter Gewalt mit zweifelndem Unterton steht: „Die Leute, die hier als Opfer auftreten, sind nur Opfer von sich selbst (nachdem sie Opfer von Therapeut_innen waren)“, sie sagen es aus und instrumentalisieren Opferschaft als Status ziemlich ganz genau so, wie es die Instanzen tun, die in Fällen (juristisch) anerkannter Opferschaft über Opfer sprechen. Und das ist relevant.
Es zeigt, dass Opferschaft als ein vorteilhaft nutzbarer Status gilt, während das für die Täter_innenschaft nicht gilt. Deshalb ist allein der Zweifel das wichtigste Werkzeug für jemanden wie Loftus, False Memory Deutschland e. V. und andere Persönlichkeiten, deren Handeln zum Ziel (bzw. zur Folge) hat, die Anerkennung von Täter_innenschaft zu verhindern. Denn die juristische Rechtsprechung gilt im Zweifel immer für die_n Angeklagten.

Ein oft ignoriertes Problem: Opferschaft und Täter_innenschaft sind keine an den juristischen Kontext gebundenen Status.
Die Bindung an diese staatliche Autorität erfolgt ausschließlich dann, wenn es ein Interesse der Allgemeinheit an einem richterlichen Urteil (sowie einer Strafe) gibt und wenn es überhaupt ein Gesetz gibt, das die Tat zu einem illegalen Akt macht. Es ist die richterliche Instanz, welche die Wahrheit zu erfahren einfordern muss, um zu einem dem Recht Genüge tuendem Urteil zu kommen. Nicht: der Wahrheit Genüge tuend. Und auch nicht: Den Angeklagten oder den Anklagenden Genüge tuend. Dem Recht. Deswegen heißen Opfer und Täter_in vor Gericht auch nicht „Opfer“ oder „Täter_in“, sondern Beschuldigte_r/Beklagte_r bzw. Geschädigte_r/Antragsteller_in/Anzeigeerstatter_in.

In unserer Gesellschaft ist Wahrheit singulär gedacht. Als Wahrheit gilt, was als wahr annehmbar gedacht und erlebt werden kann, weil wir Menschen nur so Sinn und Bedeutung für uns herstellen können. Wir halten schwebende Äpfel für unwahr, weil wir jeden Tag Gravitation erleben. Eine Gewaltgeschichte, in der schwebende Äpfel vorkommen, ist entsprechend schnell bezweifelt. Denn so funktionieren wir Menschen eben auch: Wir picken uns raus, was uns am eindeutigsten für oder gegen etwas argumentieren lässt.
Das ist normal, das ist gut, das ist im Leben jedes Menschen eine sehr wichtige Sache. Diese Eigenschaft haben wir als Menschheit immer gebraucht, um zu überleben. Wir müssen wissen, wann uns jemand anlügt oder wir vergiftet sind und unserer Wahr.nehmung nicht mehr trauen können. Wir müssen aber auch wissen, wem wir wann, warum, was glauben. Und hier bewegt sich der Konflikt.

Wer glaubt, von Opferschaft hätte man Vorteile, die man als Täter_in nicht hat, ist versucht anzunehmen, dass dies ein erstrebenswerter Status sei – ein Grund zu lügen.
In den USA, wo es Prozesse um Schadensersatzforderungen in Millionenhöhe gehen kann, ist es nicht sonderlich weit hergeholt, diese Annahme zu haben. Nimmt man hinzu, dass es dort kein Sozialsystem wie hier gibt, ergibt es noch mehr Sinn. Aber auch – und vor allem dann, wenn viel Geld im Spiel ist – ist es genauso legitim anzunehmen, dass es in solchen Prozessen nicht um die Wahrheit geht, sondern um Geld. Und damit um Macht und daran geknüpft einen Status, der tatsächlich erstrebenswert ist.
Hier gibt es solche Prozesse nicht. Vermutlich hat Deutschland deshalb so viele Wahrheitsexpert_innen im Dunstkreis von GWUP, FSM, oder dem Kopp Verlag.

„Opfer“ ist in Deutschland ein Schimpfwort. Opfer werden hier nie als benachteiligte Individuen verhandelt, sondern immer als Token benutzt. Also sehr wohl in ihrer Benachteiligung gesehen (und unter Umständen sogar juristisch zu Genüge beurteilt), jedoch ebenfalls immer eingesetzt, um Gewalt (und in der Folge Täter_innenschaft) zu definieren, statt sie zu beenden oder zu verhindern.
Entsprechend logisch ist das Vorgehen, Opferschaft extrem präzise zu definieren – das ist einfach enorm viel weniger anstrengend in seinen Auswirkungen. Würde immer als Opfer anerkannt werden, wer sich benachteiligt oder geschädigt nennt, müsste auch anerkannt werden, dass es sehr viel Gewalt und Täter_innenschaft gibt. Mit unserem derzeit institutionell etablierten Verständnis von Strafe und Wieder.gutmachung, von Recht und Recht haben, kämen wir als Gesellschaft schnell an Grenzen. Privilegien würden allgemein sichtbar und würden in Zweifel, ob ihrer Legitimität gezogen werden. Alle Normen und Werte unserer Gesellschaft kämen auf den Prüfstand. Alle, die sich für normal halten, wären mit dem Zweifel konfrontiert, der jetzt an der wahrhaftigen Legitimität benachteiligter, versehrter, unterdrückter, unnormalisierter Personengruppen gepflegt (und normalisiert) wird.

Mit einer ganz klaren, extrem engen Vorstellung von Opferschaft, werden viele Aspekte ihrer Natur beschnitten. So auch die Natur von Traumafolgen im Rahmen von Opferschaftserfahrung. Diese ist in sich schon schwer zu vermitteln, weil wir Menschen einander nun einmal lediglich ineinander hineinversetzen können – jedoch nie als die andere Person erleben.
Eine Person, deren Normalität, also ihrem Grundbaustein für ihre Entwicklung von Wahrheitskennzeichen, nie die gezielte, absichtsvoll hergestellte Verquerung der Realität enthielt, wird es niemals schaffen zu begreifen, was das für die Schilderung von Gewalterfahrungen für eine so umfassend getäuschte Person bedeutet. Für das Weltbild, für die inneren Konflikte, geschweige denn für die Interessen, die solch eine Person verfolgt, wenn sie dieser Täuschung gewahr wird. Es bleibt eine Annäherung, das zu verstehen. Es bleibt eine Idee, basierend auf den eigenen Erfahrungen, den eigenen in sich verankerten Konzepten von Wahrheit. Das macht den Richter_innenspruch nicht mangelhaft und auch das Suchen nach einer objektiven Wahrheit nicht obsolet, aber nicht zum Garant der Wahrheit an sich. Ein Richter_innenspruch ist kein Echtheitszertifikat, sondern ein Urteil, das sich aus den normalisierten und institutionalisierten Werten, Haltungen und Überzeugungen unserer mehrheitlich privilegierten Gesellschaft ergibt.

Natürlich beziehe ich mich hier auf Opferschaft nach sehr umfassender Gewalt, weil ich meine Argumentation daran sehr eindeutig machen kann und nicht in die Unschärfen von weniger weit entfernten Er_Lebensrealitäten einsteigen muss. Das würde den Rahmen und meine Kapazitäten sprengen, will ich mich doch vor allem auf die Strategie des Derailings als Teil von gesellschaftlichem Vermeidungsverhalten in Bezug auf (organisierte (Rituelle)) sexualisierte Gewalt beziehen.
Es ist meiner Ansicht nach aber wichtig, sich sehr sehr deutlich klarzumachen, dass Kinder, die unter Umständen von Geburt an, gezielt, absichtsvoll, organisiert und wie auch immer begründet, verletzt und ausgebeutet werden, in vielen Fälle keine Erwachsenen werden(.) – die der normalisierten Mehrheit unserer Gesellschaft angehören können/sollen/dürfen. Diese Personengruppe ist zum großen Anteil nicht normalisiert in ihrem Er_Leben, ihren Möglichkeiten zur Interaktion und Kommunikation und dazu oft auch eher mehrfach diskriminiert denn privilegiert. In der Folge ist der gesamtgesellschaftliche Schaden sehr viel geringer, wenn man diesen Personen glaubt, als wenn man privilegierteren Menschen, die als Täter_innen benannt werden, glaubt.

Ein Beispiel dafür ist meiner Meinung nach der Fonds sexueller Missbrauch, der keine Prüfung der Schilderungen vorgenommen, sondern die in Deutschlands Bürokratie üblichen Wartezeiten und Nützlichkeitsprüfungen als Hürde aufgestellt hat. Wurde der in 2 Wochen leergesaugt? Nein. Wurde deutlich, dass ein großer Teil der Antragssteller_innen von dem Geld daraus Leistungen bezahlen, die ihnen ohnehin zustehen, aber nicht gewährt werden, weil das Krankenkassen- und Sozialsystem Menschen wie sie diskriminiert? Ja.

Wer Opferschaft an die Bedingungen einer normalisierten Mehrheitsgesellschaft knüpft, knüpft entsprechend ebenfalls ganz automatisch Bedürftigkeit benachteiligter Personen mit daran. Die Idee von Opfern, die aufgrund ihres Opferstatus (nicht allgemein legitimierte) Bedarfe erfüllt bekommen müssen, ist also komplett aus sich selbst heraus produziert und dient in der Folge als Argument für weitere Diskriminierung.

Um davon abzulenken, wird also von Wahrheit gesprochen. Davon, dass man denen eigenen Erinnerungen nicht glauben darf. Vor allem nicht, wenn irgendwas mit Missbrauch darin vorkommt. Rein zufällig, nachdem eine Kampagne nach der nächsten gegen die wenigen privilegierten und in Solidarität organisierten Institutionen und Fürsprecher_innen gefahren wird.

Es wird überstrahlt, dass es bereits Richtlinien dafür gibt, wie Psychotherapeut_innen Patient_innen, die Unbeweisbares schildern, begegnen müssen und sollen, um ihnen bestmöglich zu helfen. Es wird diffus vermischt, welches Faktenwissen worüber bereits gibt. Was die Gesellschaft den Menschen, die zu Opfern wurden eigentlich schuldet und so viel mehr, das ich in früheren Artikeln bereits benannte.

Und das alles nur, weil sich Gewalt und ihren Folgen anders als abwehrend zu widmen, einer privilegierten Personengruppe die Grundlage ihrer Macht entziehen und so viel mehr Auseinandersetzung erfordern würde.
Das muss sich einfach ändern, wenn man demokratische Grundwerte wenigstens in ihrer Basis ernst nimmt und umgesetzt leben will.

wennschon, dennschon #Coronatagebuch

Die Situation ist stabil. Das sage ich mir in jedes Angstloch hinein, das sich in den Nischen meiner Geschäftigkeit auftut.
Der Partner ist weiterhin positiv und kann deshalb nicht verlegt werden. Es ist schlimm und ja, um zwei, drei Ecken geht es auch um Leben und Tod, aber eben nicht so. Es ist viel mehr das „um Leben und Tod“, das in unserem gemeinsamen Leben einen eigenen Anteil hat. Schon längst überall eingewebt, mitgedacht und eingeplant, wie Wandfarbe und Bodenbelag, Luft und Wasser, Himmel und Erde. Kein Grund zur Panik. Kein Anlass zu Dramadramahopplahopp-Aktivismus, der 5 Hebel gleichzeitig zu bedienen erfordert.

Dass ich zwischendurch Angst habe, hat viel mehr mit der Neuheit der Situation zu tun, als mit der Situation selbst. Und damit, dass ich noch nicht fit genug bin, um mir so gutzutun, wie es mir sonst immer guttut. Ich kann noch nicht wieder schwimmen gehen. Kann den Garten noch nicht bearbeiten. Habe noch keine_n Hundesitter_in gefunden, damit ich zur Therapie fahren und meine Anspannung loslassen kann.
Im Moment kann ich nur arbeiten. Womit ich überwiegend Anfangsschwierigkeiten habe. Und Dranbleibeschwierigkeiten. Neben den üblichen Selbstorganisationsschwierigkeiten.

Aber ich bin nicht ungesehen darin. Das macht viel aus. Alle, mit denen ich spreche, trösten mich, bedauern den Partner und wünschen uns beiden, dass bald wieder alles gut wird. Mir gefällt das. Vor allem, weil wir so spürbar als Teil eines Ganzen, unseres gemeinsamen Ganzen gesehen werden. Es ist nicht nur der Wunsch, dass er wieder gesund wird, weil das einfach besser ist als krank zu sein, sondern auch, damit wir bald wieder zusammen sind. Als würden wir so richtig und wirklich zusammengehören und nicht nur in meinem Wünschen und Wollen.

Der Gedanke an eine Richtigkeit wie diese gibt mir gerade viel Ruhe und Kraft.
Ich habe ganz stark das Gefühl, dass er nicht sterben wird. Nicht nur, weil die Situation gerade stabil ist, sondern einfach so. Vielleicht ist das eine Selbstschutzverarschung. Kann sein. Aber sie fühlt sich richtig an und das hilft gerade auch. Wenn ich schon Tag für Tag klarkommen muss, dann doch gerne so.

Mangel entgegenbeten #Coronatagebuch

Der erste Anruf war um 3 Uhr morgens herum. Mein Telefon: still. Ich: Im ersten leeren Schlaf seit Wochen.
Am Tag zuvor hatte er noch gesagt, es ginge ihm besser. Seine Gesichtsfarbe war von Mehlkreide zu Camembert gewechselt, der Husten seltener. Mir ging es schlecht, sobald es mir nicht mehr gut ging. Jeder Moment der Ruhe ist ein Dorn, der Erinnerungsblasen zum Platzen bringt. Meine körperliche Schwäche weiter keine Hilfe beim Umgang damit.

Kurz vor 8 schaffte er es die Hunde zu wecken, die mich dann aus meiner weichweißen Betäubung rissen.
Er bat mich, ihm eine Tasche zu packen. Fürs Krankenhaus. Das Sprechen undeutlich, angestrengt und umständlich aus dem Oberkörper gepresst.
Ich sammelte seine Sachen zusammen, fütterte die Hunde, begann das Gespräch mit der Rettungsstelle zu üben. Dachte kurz darüber nach, ob ich ihn gewissermaßen umgebracht habe, weil ich ihn nicht früher gehört habe. Schob sein Telefon in den Rucksack und fand mich daran erinnert, dass ich nicht der einzige erreichbare Mensch in dieser Nacht gewesen war.

Der Anruf bei der Rettungsstelle klappte gut. Es lief sehr anders als vor 20 Jahren, heute wird man die Wichtig-Ws konkret abgefragt. Das ist eine gute Hilfestellung.
Der Rest wie im Film. Zwei Rettungsmenschen in Maske und Papierleibchen, ein piependes Fingerdingsi, ein anstrengendes Gespräch zur Vermittlung der Grunderkrankung und der aktuellen Situation mit Covid zusätzlich. Davor der Akt, in dem sich der Partner frische Sachen anzog, spürbar an der Grenze dessen, was ihm möglich ist.
Sie steigen ein, er hinterher. Sie testen ihn und suchen ein freies Bett. Ich denke grimmig, dass er mit einem freien Bett nichts anfangen kann. Er braucht kein Bett, er braucht Versorgung und Pflege. Ein Bett hat er. Hier. Bei mir. Wo wir beide wohnen und uns über Witze totlachen und über Nazis erheben und einen Maulwurf haben und Kinder großziehen werden.

Der Rettungsmensch ruft mir zu, wo sie fündig wurden, dann fahren sie los. Ich schließe die Tür und denke: „So, jetzt wird hier endlich mal aufgeräumt.“ Tatsächlich aber schreibe ich Messengernachrichten und trinke Kaffee. Streichle Bubi, der mir seinen ganzen Körper gegen das Bein drückt. Spreche mit der Nachbarin, die den Krankenwagen gesehen hat und ihre Hilfe anbietet. Bis ich nicht mehr sprechen kann, weil ich keine Wörter mehr denke.

Ich spiele Sims 4, gehe mit den Hunden raus. Lasse mein Gesicht von den frühlingswarmen Böen streicheln, die sich kräftig über die zartgrünen Felder schieben.

Wir sind in einem AG-Treffen der Initiative Phoenix als der Partner anruft. Er hat eine Lungenembolie. Sollte erst in eine andere Klinik verlegt werden, dort ist aber kein Platz frei. Er bleibt in der Klinik, wo das CT ausgefallen ist, während er in einem untersucht werden soll. Jemand weint an mir vorbei, ich hake eine weitere erfüllte Befürchtung ab. Weiß, dass ich das in der nächsten Zeit nirgendwo sagen kann, weil das Gesundbeten unserer Zeit erfordert, immer positiv über solche Dinge zu denken. Aber: Es wird nicht seine Krankheit sein, die ihn umbringt. Es wird Scheiß wie dieser sein. Die Ärzt_innen, die seltene Krankheiten nicht kennen und keine Zeit für fundierte individuell nötige Zusammenarbeit haben. Die Pfleger_innen, die einfach nicht arbeiten können, wie sie wollen und sollen. Technisches Gerät, das es nur ein Mal pro Haus mit hunderten Anwendungsfällen gibt. Es wird Mangel sein, der ihn tötet. Mangel in einem der reichsten Länder auf der Welt. Egal, wie positiv ich jetzt denke. Wie sehr ich hoffe und wünsche, dass alles gut geht. Das kann ich machen, um mich selbst besser zu fühlen. Aber die Realität ist eine andere und die kann ich im Moment nur bezeugen.

In der Abenddämmerung fahre ich zum Krötenzaun. Sammle Erd- und Kreuzkröten ein, als meine Betreuerin anruft. Sie ist als Bevollmächtigte eingetragen in der Patientenverfügung des Partners und schon lange mit ihm befreundet. Ihre Stimme wackelt und ich höre ihr dabei zu, wie sie sie mit positiven Annahmen stützt.
Eine letzte Kröte im Eimer verabschiede ich mich von ihr. „Verfügungsvollmacht und Patientenverfügung scannen und mailen, nicht vergessen. Verfügungsvollmacht und Patientenverfügung.“ Ich wiederhole es im Kopf, bis es keinen Sinn mehr ergibt. Fahre im großen Bogen wieder nach Hause, fotografiere einen Regenbogen.

Zu Hause scanne die Dokumente ein und lese nach, was er sich wünscht. Bin ihm dankbar dafür, dass ich nicht entscheiden soll, sondern seine Freundin. Freue mich für ihn, dass er nicht nur mich in seinem Leben hat.

Später im Einschlafen denke ich mir aus, wie er wieder nach Hause kommt. Wie der Garten dann aussieht. Wie aufgeräumt und sauber seine Wohnung ist. Wie wir wieder draußen sitzen und uns die Bäuche hart lachen.

Rekonvaleszenz #Coronatagebuch

Wie kleine Sterne leuchten die Narzissen auf der dunkelgrünen Wiese. Weicher Wind streift mich. Doch das wohlige Räkeln in den Frühling hinein fällt mir schwer. Zu viele Baustellen im Garten, im Haus, bei der Arbeit, in mir selbst. Gleichzeitig ist es still um mich herum. So wie ich hier stehe, ist von diesen Baustellen keine wirklich wichtig. Alles ist irgendwie zu lösen und auszuhalten. Es dauert einfach. Das ist schon alles.

Aus dem Schlafzimmer des Partners höre ich das angestrengte Atmen, das noch angestrengtere Husten. Ihm geht es immer noch sehr schlecht. Die Frage, ob wir einen Not_Arzt kommen lassen sollen, verneint er weiter.
Wenn ich ihm deshalb nicht böse bin oder mich mit der Angst verrückt mache, dass ich verpassen könnte, dass er stirbt, frage ich mich, ob etwas in ihm wie seine Autoimmunerkrankung funktioniert. Nämlich gleichzeitig für und gegen sich selbst.
Er hat Angst vor der Intensivstation, deshalb vermeidet er eine Behandlung. Auch jetzt, am 9. Tag seiner Covid19-Erkrankung. Mit Schleimblubberlunge, dickem Hals und Druck im Kopf.
Was sagt es über unser Verhältnis zur medizinischen Versorgung, wenn es zum nötigen Selbstschutz chronisch kranker Patient_innen gehört, sich nicht behandeln zu lassen? Nichts Gutes, das kann man wohl festhalten.

Ich selbst konnte nach wenigen Tagen schon wieder umschalten. Aus dem Traumasumpf in den Kampf um Arbeitsfähigkeit, Kontrolle und Überblick. Aus der Ohnmacht in die Traumareaktion. Mir gehts gut. Alles fein. Außer, wenn ich merke, dass mein Puls unnötig schnell geht, ich meine Müdigkeit zu spüren zulasse, ich kurz fühle, dass die Situation gerade ganz und gar nicht okay ist.
Ich muss eigentlich in die Schwimmhalle. In die Bewegung. Meine Routinen. Meine übersichtlichen Aufgaben. Meine Ablaufpläne und Ordnungen. Dieses passive Rekonvaleszieren tut mir nicht gut. Macht mir Angst. Triggert allen möglichen Kram hoch, den ich nicht in Aktivität ersticken beruhigen kann.

Deshalb konzentriere ich mich gerade auf alle Aktivität, die ich schaffe.
Eine kleine Krötenschicht am Tag. Eine moderate Hunderunde. Kochen. Sims 4 spielen. Unauffällige Checks auf Lebenszeichen beim Partner. Elaborierte Baupläne für das Grundstück des Nachwachshauses bis in den Schlaf. Und immer wieder die Erinnerung: Langsamkeit ist etwas anderes als Stillstand.

PLURV im Spiegelmagazin

„Im Wahn der Therapeuten“ war schon eine problematische Überschrift, als Felix Kuballa seinen gleichnamigen Film veröffentlichte. Das war 2003.
Nun, Anfang 2023 die gleiche Suppe also noch einmal. In einem Spiegelartikel mit dem gleichen Titel für die Onlineversion und der gleichen Strickart:
Eine Person, die behauptet, eine Psychotherapeutin hätte ihr eingeredet, sie sei Opfer Ritueller Gewalt geworden, sei in Lebensgefahr, wie ihr Kind auch.
Neu ist, dass das Jugendamt hinzukommt. Auch eine Gefährdung erkennt. Eine Richterin entscheidet: Ja, hier ist Gefahr für das Kind in Verzug. Das Kind wird woanders untergebracht.
Ebenfalls neu: Der direkte Angriff auf Michaela Huber und Brigitte Bosse, dargestellt als Hauptvertreterinnen eines verschwörungsgläubigen Therapeutennetzwerkes, mit der Mission möglichst vielen Psychotherapeut_innen einzureden, dass es Rituelle Gewalt gibt.
Nicht neu: False Memory Deutschland e. V. hats durchschaut. Weiß zu verbreiten, dass psychische Krankheit und Autosuggestion zu falschen Erinnerungen führen.
Außerdem wie üblich in solchen Artikeln: Die Polizei hätte nie irgendwas gefunden. Es gäbe noch mehr Patient_innen als Malin Weber, die Soldaten und echten Folteropfern die begrenzten Traumatherapieressourcen von Deutschland wegnehmen. Die dissoziative Identitätsstörung sei eine Glaubensfrage.

Ein ermüdend schlecht recherchierter Text, der dennoch zieht. Natürlich. Er bietet Grusel durch die Illustration und Gewaltbeispiele, man fühlt sich informiert durch die Zahlen und Expert_innenkommentare, ein bisschen traurig für die Patientin und ein bisschen empört über das Geld, das das Familienministerium verteilt hat für Forschung, die laut Text möglicherweise Unsinn als Prämisse hat. Textarchitektonisch ist das Umami. Journalistisch richtig schlecht.

So meldete sich Brigitte Bosse am Montag mit Anmerkungen zu dem Artikel. Stellt klar, dass der Journalist ein Seminar zum Umgang mit DIS besucht habe, um diesen Artikel zu schreiben und sie dazu interviewt hat. Nichts davon im Text.
Ebenfalls nicht im Text: der lange Arbeitsweg zu einer fachlichen Definition des Begriffs „organisierte Rituelle Gewalt“. Allein im „Infoportal Rituelle Gewalt“ sind 19 Definitionen aufgelistet. Die erste von 1991, die letzte von 2019. So wird nicht klar, wonach das Autor_innen-Duo eigentlich gesucht hat. Was seine Prämisse ist. Was die Prämisse von False Memory Deutschland e. V. ist, wenn der Verein sich dazu äußert. Oder die Polizei. Es erwähnt die amerikanische „satanic panic“, die es in Deutschland so nie gegeben hat, wirft ein Buch aus den Achtzigern mit rein und rührt Alison Miller, eine kanadische Psychotherapeutin dazu. Dann eine Prise von der Skandalisierung des Themas in der Schweiz, die ebenfalls journalistisch bemerkenswert schlecht bearbeitet, aber populistisch maximal wirksam ist.

Und mehr sollte dieser Text vermutlich nicht sein. Populismus.
Bisschen Stimmung gegen Psychotherapie, bevor hier alle glauben, sie hätten ein Trauma. Oder könnten sich an Psychotherapeut_innen wenden, wenn sie doch eins haben.
Ein Mal mehr am Vertrauen in die Aufrichtigkeit und Kompetenz des Familienministeriums und damit den Staat sägen. Zeile für Zeile dafür sorgen, dass man glaubt, alles sei eine Glaubensfrage – selbst die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Gewalt und letztlich auch die Hilfen für Gewaltüberlebende. Nebenbei noch ein paar unliebsame und seit Jahren hart arbeitende Therapeutinnen schreddern. Wenn man schon dabei ist.

Der Text hätte ohne Konsequenzen bleiben können, wäre es in den letzten 20 Jahren gelungen, den wissenschaftlichen, fachlichen Diskurs um organisierte Rituelle Gewalt transparenter und für die breite Masse verständlich zu kommunizieren. Dann würde das Bistum Münster beispielsweise nicht behaupten können, es gäbe keine Beweise für diese Form der Gewalt und eine Kontroverse, die sich um die Realität der Gewalt dreht, um die Beratungsstelle für Opfer von organisierter und Ritueller Gewalt zu schließen. Das Bistum hätte sein, für die katholische Kirche nun wirklich nicht mehr überraschendes, Desinteresse an der Hilfe für Gewaltopfer auf andere Art begründen müssen. Schade, das wird jetzt wieder einmal verdeckt. Von dem Medienzirkus, den Leute machen, die sich vorgeblich für die Opfer, die Wahrheit, die wirklich nötige Hilfe einsetzen. Was doch bemerkenswert ist.

Der Spiegel präsentiert sich derweil als „aufdeckend“. Was aufdeckend? Das bleibt mehr oder weniger im Dunkeln, denn es gibt ja nichts weiter aufzudecken als eine Erzählung, die der breiten Öffentlichkeit als moderne Gruselgeschichte des christlich fundamentalistischen US-Amerikas bekannt ist. Und zwar so bekannt, dass sie ein Meme ist. Ein Witz. Ein Theme.
Perfekt, um Gewalt lächerlich zu machen. Religiosität jeder Art, mit Dummheit, Wissenschaftsfeindlichkeit und Machtwillen, wo beides nicht zutrifft, zu erklären.

Und ebenfalls ganz fantastisch dazu geeignet, Gewaltdarstellung zu verkaufen. Weil – bisschen gruselig ist die Vorstellung ja schon. Kickt halt doch irgendwie. Und wer daran interessiert ist, möglichst lange, möglichst viel, möglichst immer brutaleres Material zu produzieren, kommt, seit es das Internet für alle, große Speicherkapazitäten und easy Access für wenig Geld fast überall auf der Welt gibt, kaum um die Inszenierung der Taten herum. Das – diese „systematische Anwendung schwerer körperlicher, psychischer und sexueller Gewalt in Gruppierungen mit einer (schein-)ideologischen oder religiös geprägten Sinngebung oder Rechtfertigung für ihr kriminelles Handeln.“ (Definition der Aufarbeitungskommission) – ist, womit sich seit Jahrzehnten befasst wird, um den Überlebenden zu helfen. Dafür gibt es Beispiele, die auch in den ganz normalen Medien behandelt wurden und zu mehr oder weniger Anteilnahme geführt haben. Stichwort „Colonia Dignidad“ (Spiegelartikel), „die Sektenkinder“ (YouTube-Upload) aus dieser 37° Sendung, Lebensrealitäten in (Neo) Nazi-Familien siehe „kleine Germanen“ (Webseite zum Film).
Fachlich, wissenschaftlich fundiert, redet kein Mensch, der sich mit organisierter Ritueller Gewalt befasst, von satanistischen Großkulten, die die Gesellschaft infiltrieren und es ist unfassbar, wie immer wieder versucht wird, das zu unterstellen. Offenbar ausschließlich, um Gewalt(folgen)forschung und Einzelpersonen zu delegitimieren.

Wäre die Thematik eine andere, würde der Spiegelartikel als desinformierend überdeutlich sichtbar.
Es ist alles da: Pseudoexperten, Logikfehler, unerfüllbare Erwartungen, Rosinenpickerei, Verschwörungsmythen. „Im Wahn der Therapeuten“/„Im Teufelskreis“ ist ein PLURV -Text.
Und so sollte auch die Reaktion darauf sein.

Damit möchte ich jetzt alle ansprechen, die sich von dem ganzen Geschehen verunsichert fühlen.
Lest euch das Handbuch „Widerlegen, aber richtig“ (dt. Übersetzung des australischen „debunking handbook“ 2020) durch, bevor ihr aufklärende Texte schreibt oder in Gespräche mit Menschen geht, die Desinformationen verbreiten oder glauben.
Prüft euch und eure Argumentation darauf, ob ihr selbst in die „PLURV-Falle“ tappt, weil euch das Thema so wichtig ist oder es euch sogar selbst betrifft. In dieser Grafik von klimafakten.de könnt ihr euch anschauen, wie die „Desinformationsmaschine“ arbeitet. Auf der Webseite „sceptical science“ findet ihr noch mehr Taktiken, auf die ihr achten könnt.

Wir leben im Jahr 2023. Es gibt Fakten, es gibt Daten, es gibt eine Öffentlichkeit, die weiß, dass Kinder schwer ausgebeutet und misshandelt werden – und von der man erwarten kann, dass sie versteht, dass aus Kindern irgendwann Erwachsene werden. Gewalt ist kein gruseliges Schauertabu mehr und doch ist es offenbar noch sehr nötig, aktiv daran zu arbeiten, damit das so bleibt.
Der Spiegelartikel soll verunsichern. Er soll verwirren. Er soll ablenken.

Aber es gibt Wichtigeres zu tun.

Extrameilen

„So ist das also, wenn man so einen Anruf bekommt“, dachte ich.
Am Freitagabend hatte ich mir noch vorgestellt, wie das wohl ist, wenn am nächsten Morgen die Polizei anruft oder an unserer Tür steht.
„Guten Tag, sind sie Frau M.?“
– „Nein, Herr M. und ich sind nicht-ehelich verpartnert.“
„Oh, dann dürfen wir ihnen keine Auskunft geben.“
Und ich müsste umständlich über meine Betreuerin erstreiten zu erfahren, dass er im Schneetreiben von der Fahrbahn ab und in eine Leitplanke reingekommen ist. Und dabei schwer verletzt oder getötet wurde. Wie würde es mir dann gehen? Was würde ich dann machen? Was müsste ich dann machen? Mit einem Blick über die Zettellage von der Lebenssortage des Partners dachte ich, dass ich mir wenigstens darüber keine Sorgen machen müsste. Testament, Beerdigung, Versicherungen und bliblablö, das ist alles in trockenen Tüchern, die ich im Fall des Falls vollweinen dürfte.
Aber wie würde es mir dann gehen? Würde ich reagieren wie er, als er hörte, dass sein Vater gestorben ist? Nickend weinen, mich zusammenziehen und in Tränen auseinanderfallen? Würde ich überhaupt verstehen? Was, wenn ich, wie damals vor knapp 20 Jahren, dauerhaft nicht sprechen kann? Was, wenn ich nur Angst fühle, weil ich Trauer noch nicht gelernt habe?

Dann saß ich gestern bei meiner Freundin im Büro, besprach die populistische Kackesuppe im Spiegel und die Shitshow, die ihr folgt. Fühlte ab und an nach, ob die Stelle, wo keine Stunde vorher die harten Wundnahtfäden waren, noch blutete. Und mein Partner rief an, um mir zu sagen, was ich nie hören wollte: „Ich hab Covid.“

Seit drei Jahren haben wir das in unseren Alltag eingebettet. Das Wissen, dass es ihn nicht erwischen darf, weil er eine Autoimmunerkrankung hat, die unter anderem seine Lunge betrifft. Eine Autoimmunerkrankung, die es selten gibt und noch seltener in der Form, die er hat. Wir haben immer alles gemacht, um uns nicht anzustecken. Immer, immer, immer. Ich habe nie die Abkürzung genommen – „Ach komm, schnell mal die Maske lupfen, um was zu trinken/zu essen/für alle gut hörbar im Raum zu sprechen.“, die Maske vorne anfassen, die Maske mehrfach verwenden, mich von Blicken, Sprüchen, Pseudowissen und Halbwahrheiten schuckig machen lassen und gar nicht erst eine aufsetzen.
Ich habe meine Kollektivis in den vergangenen drei Jahren fünf oder sechs Mal getroffen. Im Hochsommer. Draußen. Getestet. Mit Maske, wenn Zweifel waren.
Jeder Außentermin, jede Reise war sehr gut vorbereitet. Immer getestet, immer maskiert, wo es nötig war. Immer sind wir diese teure, und vor allem im letzten halben Jahr oft auch herablassend belächelte Extrameile gelaufen.

„Ist es jetzt also soweit?“, dachte ich abends im Bett, die Hunde wie eine Flauschbastion an meinem Körper entlang liegend. „Ist das jetzt der Anfang vom Ende? Sollte ich mich anstecken, damit ich wenigstens ohne Tüddelüt bei ihm sein kann, wenn es ihm nicht gut geht? Was, wenn er nicht aushalten kann, dass ich mich um ihn kümmere? Kann ich das verpacken? Was, wenn er über Nacht erstickt und ich finde ihn? Was, wenn wir die letzten drei Jahre mit diesem ganzen Extrashit verbracht haben, aber uns eigentlich hätten noch mehr lieben müssen? Noch mehr ineinander verflechten, miteinander verwachsen müssen?“
NakNak*, deren Demenz nun nicht mehr zu übersehen ist, hob zum tausendsten Mal an dem Abend den Kopf, um ins Leere zu starren und den Versuch zu machen, ihren arthritischen Körper aufzurichten. Die nächste Konfrontation mit Sterblichkeit. Die nächste Erinnerung daran, dass es keine Extrameile um den Tod herum gibt.

Eine lange schwierige Nacht später bin ich auch positiv.
Meine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung kann ich in der Praxis abholen. Die ist 14 km von hier. Ich habe Fieber und dicht unter der Oberfläche brodelnde Kinderinnens, wegen des triggernden Druckgefühls in der Brust und der Lage im Mund-Rachenbereich. Einen Scheiß werde ich irgendwo, irgendwas abholen.
Ich habe gerade ganz andere Extrameilen vor mir.