PLURV im Spiegelmagazin

„Im Wahn der Therapeuten“ war schon eine problematische Überschrift, als Felix Kuballa seinen gleichnamigen Film veröffentlichte. Das war 2003.
Nun, Anfang 2023 die gleiche Suppe also noch einmal. In einem Spiegelartikel mit dem gleichen Titel für die Onlineversion und der gleichen Strickart:
Eine Person, die behauptet, eine Psychotherapeutin hätte ihr eingeredet, sie sei Opfer Ritueller Gewalt geworden, sei in Lebensgefahr, wie ihr Kind auch.
Neu ist, dass das Jugendamt hinzukommt. Auch eine Gefährdung erkennt. Eine Richterin entscheidet: Ja, hier ist Gefahr für das Kind in Verzug. Das Kind wird woanders untergebracht.
Ebenfalls neu: Der direkte Angriff auf Michaela Huber und Brigitte Bosse, dargestellt als Hauptvertreterinnen eines verschwörungsgläubigen Therapeutennetzwerkes, mit der Mission möglichst vielen Psychotherapeut_innen einzureden, dass es Rituelle Gewalt gibt.
Nicht neu: False Memory Deutschland e. V. hats durchschaut. Weiß zu verbreiten, dass psychische Krankheit und Autosuggestion zu falschen Erinnerungen führen.
Außerdem wie üblich in solchen Artikeln: Die Polizei hätte nie irgendwas gefunden. Es gäbe noch mehr Patient_innen als Malin Weber, die Soldaten und echten Folteropfern die begrenzten Traumatherapieressourcen von Deutschland wegnehmen. Die dissoziative Identitätsstörung sei eine Glaubensfrage.

Ein ermüdend schlecht recherchierter Text, der dennoch zieht. Natürlich. Er bietet Grusel durch die Illustration und Gewaltbeispiele, man fühlt sich informiert durch die Zahlen und Expert_innenkommentare, ein bisschen traurig für die Patientin und ein bisschen empört über das Geld, das das Familienministerium verteilt hat für Forschung, die laut Text möglicherweise Unsinn als Prämisse hat. Textarchitektonisch ist das Umami. Journalistisch richtig schlecht.

So meldete sich Brigitte Bosse am Montag mit Anmerkungen zu dem Artikel. Stellt klar, dass der Journalist ein Seminar zum Umgang mit DIS besucht habe, um diesen Artikel zu schreiben und sie dazu interviewt hat. Nichts davon im Text.
Ebenfalls nicht im Text: der lange Arbeitsweg zu einer fachlichen Definition des Begriffs „organisierte Rituelle Gewalt“. Allein im „Infoportal Rituelle Gewalt“ sind 19 Definitionen aufgelistet. Die erste von 1991, die letzte von 2019. So wird nicht klar, wonach das Autor_innen-Duo eigentlich gesucht hat. Was seine Prämisse ist. Was die Prämisse von False Memory Deutschland e. V. ist, wenn der Verein sich dazu äußert. Oder die Polizei. Es erwähnt die amerikanische „satanic panic“, die es in Deutschland so nie gegeben hat, wirft ein Buch aus den Achtzigern mit rein und rührt Alison Miller, eine kanadische Psychotherapeutin dazu. Dann eine Prise von der Skandalisierung des Themas in der Schweiz, die ebenfalls journalistisch bemerkenswert schlecht bearbeitet, aber populistisch maximal wirksam ist.

Und mehr sollte dieser Text vermutlich nicht sein. Populismus.
Bisschen Stimmung gegen Psychotherapie, bevor hier alle glauben, sie hätten ein Trauma. Oder könnten sich an Psychotherapeut_innen wenden, wenn sie doch eins haben.
Ein Mal mehr am Vertrauen in die Aufrichtigkeit und Kompetenz des Familienministeriums und damit den Staat sägen. Zeile für Zeile dafür sorgen, dass man glaubt, alles sei eine Glaubensfrage – selbst die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Gewalt und letztlich auch die Hilfen für Gewaltüberlebende. Nebenbei noch ein paar unliebsame und seit Jahren hart arbeitende Therapeutinnen schreddern. Wenn man schon dabei ist.

Der Text hätte ohne Konsequenzen bleiben können, wäre es in den letzten 20 Jahren gelungen, den wissenschaftlichen, fachlichen Diskurs um organisierte Rituelle Gewalt transparenter und für die breite Masse verständlich zu kommunizieren. Dann würde das Bistum Münster beispielsweise nicht behaupten können, es gäbe keine Beweise für diese Form der Gewalt und eine Kontroverse, die sich um die Realität der Gewalt dreht, um die Beratungsstelle für Opfer von organisierter und Ritueller Gewalt zu schließen. Das Bistum hätte sein, für die katholische Kirche nun wirklich nicht mehr überraschendes, Desinteresse an der Hilfe für Gewaltopfer auf andere Art begründen müssen. Schade, das wird jetzt wieder einmal verdeckt. Von dem Medienzirkus, den Leute machen, die sich vorgeblich für die Opfer, die Wahrheit, die wirklich nötige Hilfe einsetzen. Was doch bemerkenswert ist.

Der Spiegel präsentiert sich derweil als „aufdeckend“. Was aufdeckend? Das bleibt mehr oder weniger im Dunkeln, denn es gibt ja nichts weiter aufzudecken als eine Erzählung, die der breiten Öffentlichkeit als moderne Gruselgeschichte des christlich fundamentalistischen US-Amerikas bekannt ist. Und zwar so bekannt, dass sie ein Meme ist. Ein Witz. Ein Theme.
Perfekt, um Gewalt lächerlich zu machen. Religiosität jeder Art, mit Dummheit, Wissenschaftsfeindlichkeit und Machtwillen, wo beides nicht zutrifft, zu erklären.

Und ebenfalls ganz fantastisch dazu geeignet, Gewaltdarstellung zu verkaufen. Weil – bisschen gruselig ist die Vorstellung ja schon. Kickt halt doch irgendwie. Und wer daran interessiert ist, möglichst lange, möglichst viel, möglichst immer brutaleres Material zu produzieren, kommt, seit es das Internet für alle, große Speicherkapazitäten und easy Access für wenig Geld fast überall auf der Welt gibt, kaum um die Inszenierung der Taten herum. Das – diese „systematische Anwendung schwerer körperlicher, psychischer und sexueller Gewalt in Gruppierungen mit einer (schein-)ideologischen oder religiös geprägten Sinngebung oder Rechtfertigung für ihr kriminelles Handeln.“ (Definition der Aufarbeitungskommission) – ist, womit sich seit Jahrzehnten befasst wird, um den Überlebenden zu helfen. Dafür gibt es Beispiele, die auch in den ganz normalen Medien behandelt wurden und zu mehr oder weniger Anteilnahme geführt haben. Stichwort „Colonia Dignidad“ (Spiegelartikel), „die Sektenkinder“ (YouTube-Upload) aus dieser 37° Sendung, Lebensrealitäten in (Neo) Nazi-Familien siehe „kleine Germanen“ (Webseite zum Film).
Fachlich, wissenschaftlich fundiert, redet kein Mensch, der sich mit organisierter Ritueller Gewalt befasst, von satanistischen Großkulten, die die Gesellschaft infiltrieren und es ist unfassbar, wie immer wieder versucht wird, das zu unterstellen. Offenbar ausschließlich, um Gewalt(folgen)forschung und Einzelpersonen zu delegitimieren.

Wäre die Thematik eine andere, würde der Spiegelartikel als desinformierend überdeutlich sichtbar.
Es ist alles da: Pseudoexperten, Logikfehler, unerfüllbare Erwartungen, Rosinenpickerei, Verschwörungsmythen. „Im Wahn der Therapeuten“/„Im Teufelskreis“ ist ein PLURV -Text.
Und so sollte auch die Reaktion darauf sein.

Damit möchte ich jetzt alle ansprechen, die sich von dem ganzen Geschehen verunsichert fühlen.
Lest euch das Handbuch „Widerlegen, aber richtig“ (dt. Übersetzung des australischen „debunking handbook“ 2020) durch, bevor ihr aufklärende Texte schreibt oder in Gespräche mit Menschen geht, die Desinformationen verbreiten oder glauben.
Prüft euch und eure Argumentation darauf, ob ihr selbst in die „PLURV-Falle“ tappt, weil euch das Thema so wichtig ist oder es euch sogar selbst betrifft. In dieser Grafik von klimafakten.de könnt ihr euch anschauen, wie die „Desinformationsmaschine“ arbeitet. Auf der Webseite „sceptical science“ findet ihr noch mehr Taktiken, auf die ihr achten könnt.

Wir leben im Jahr 2023. Es gibt Fakten, es gibt Daten, es gibt eine Öffentlichkeit, die weiß, dass Kinder schwer ausgebeutet und misshandelt werden – und von der man erwarten kann, dass sie versteht, dass aus Kindern irgendwann Erwachsene werden. Gewalt ist kein gruseliges Schauertabu mehr und doch ist es offenbar noch sehr nötig, aktiv daran zu arbeiten, damit das so bleibt.
Der Spiegelartikel soll verunsichern. Er soll verwirren. Er soll ablenken.

Aber es gibt Wichtigeres zu tun.

13 thoughts on “PLURV im Spiegelmagazin

  1. Danke dass habt Ihr sehr gut gekontert und widerlegt. Es fällt nicht leicht bei diesen wiederholten Angriffen so ruhig zu bleiben, aber eigentlich können wir das, wir sind weiter als die…

    1. Vielen dank. Schade, dass artikel und veröffentlichungsmedium so eine Reichweite haben. Bin sprachlos von Duktus und Inhalt.

  2. „Textarchitektonisch ist das Umami. Journalistisch richtig schlecht.“ so treffsicher und gut geschrieben!

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