Mangel entgegenbeten #Coronatagebuch

Der erste Anruf war um 3 Uhr morgens herum. Mein Telefon: still. Ich: Im ersten leeren Schlaf seit Wochen.
Am Tag zuvor hatte er noch gesagt, es ginge ihm besser. Seine Gesichtsfarbe war von Mehlkreide zu Camembert gewechselt, der Husten seltener. Mir ging es schlecht, sobald es mir nicht mehr gut ging. Jeder Moment der Ruhe ist ein Dorn, der Erinnerungsblasen zum Platzen bringt. Meine körperliche Schwäche weiter keine Hilfe beim Umgang damit.

Kurz vor 8 schaffte er es die Hunde zu wecken, die mich dann aus meiner weichweißen Betäubung rissen.
Er bat mich, ihm eine Tasche zu packen. Fürs Krankenhaus. Das Sprechen undeutlich, angestrengt und umständlich aus dem Oberkörper gepresst.
Ich sammelte seine Sachen zusammen, fütterte die Hunde, begann das Gespräch mit der Rettungsstelle zu üben. Dachte kurz darüber nach, ob ich ihn gewissermaßen umgebracht habe, weil ich ihn nicht früher gehört habe. Schob sein Telefon in den Rucksack und fand mich daran erinnert, dass ich nicht der einzige erreichbare Mensch in dieser Nacht gewesen war.

Der Anruf bei der Rettungsstelle klappte gut. Es lief sehr anders als vor 20 Jahren, heute wird man die Wichtig-Ws konkret abgefragt. Das ist eine gute Hilfestellung.
Der Rest wie im Film. Zwei Rettungsmenschen in Maske und Papierleibchen, ein piependes Fingerdingsi, ein anstrengendes Gespräch zur Vermittlung der Grunderkrankung und der aktuellen Situation mit Covid zusätzlich. Davor der Akt, in dem sich der Partner frische Sachen anzog, spürbar an der Grenze dessen, was ihm möglich ist.
Sie steigen ein, er hinterher. Sie testen ihn und suchen ein freies Bett. Ich denke grimmig, dass er mit einem freien Bett nichts anfangen kann. Er braucht kein Bett, er braucht Versorgung und Pflege. Ein Bett hat er. Hier. Bei mir. Wo wir beide wohnen und uns über Witze totlachen und über Nazis erheben und einen Maulwurf haben und Kinder großziehen werden.

Der Rettungsmensch ruft mir zu, wo sie fündig wurden, dann fahren sie los. Ich schließe die Tür und denke: „So, jetzt wird hier endlich mal aufgeräumt.“ Tatsächlich aber schreibe ich Messengernachrichten und trinke Kaffee. Streichle Bubi, der mir seinen ganzen Körper gegen das Bein drückt. Spreche mit der Nachbarin, die den Krankenwagen gesehen hat und ihre Hilfe anbietet. Bis ich nicht mehr sprechen kann, weil ich keine Wörter mehr denke.

Ich spiele Sims 4, gehe mit den Hunden raus. Lasse mein Gesicht von den frühlingswarmen Böen streicheln, die sich kräftig über die zartgrünen Felder schieben.

Wir sind in einem AG-Treffen der Initiative Phoenix als der Partner anruft. Er hat eine Lungenembolie. Sollte erst in eine andere Klinik verlegt werden, dort ist aber kein Platz frei. Er bleibt in der Klinik, wo das CT ausgefallen ist, während er in einem untersucht werden soll. Jemand weint an mir vorbei, ich hake eine weitere erfüllte Befürchtung ab. Weiß, dass ich das in der nächsten Zeit nirgendwo sagen kann, weil das Gesundbeten unserer Zeit erfordert, immer positiv über solche Dinge zu denken. Aber: Es wird nicht seine Krankheit sein, die ihn umbringt. Es wird Scheiß wie dieser sein. Die Ärzt_innen, die seltene Krankheiten nicht kennen und keine Zeit für fundierte individuell nötige Zusammenarbeit haben. Die Pfleger_innen, die einfach nicht arbeiten können, wie sie wollen und sollen. Technisches Gerät, das es nur ein Mal pro Haus mit hunderten Anwendungsfällen gibt. Es wird Mangel sein, der ihn tötet. Mangel in einem der reichsten Länder auf der Welt. Egal, wie positiv ich jetzt denke. Wie sehr ich hoffe und wünsche, dass alles gut geht. Das kann ich machen, um mich selbst besser zu fühlen. Aber die Realität ist eine andere und die kann ich im Moment nur bezeugen.

In der Abenddämmerung fahre ich zum Krötenzaun. Sammle Erd- und Kreuzkröten ein, als meine Betreuerin anruft. Sie ist als Bevollmächtigte eingetragen in der Patientenverfügung des Partners und schon lange mit ihm befreundet. Ihre Stimme wackelt und ich höre ihr dabei zu, wie sie sie mit positiven Annahmen stützt.
Eine letzte Kröte im Eimer verabschiede ich mich von ihr. „Verfügungsvollmacht und Patientenverfügung scannen und mailen, nicht vergessen. Verfügungsvollmacht und Patientenverfügung.“ Ich wiederhole es im Kopf, bis es keinen Sinn mehr ergibt. Fahre im großen Bogen wieder nach Hause, fotografiere einen Regenbogen.

Zu Hause scanne die Dokumente ein und lese nach, was er sich wünscht. Bin ihm dankbar dafür, dass ich nicht entscheiden soll, sondern seine Freundin. Freue mich für ihn, dass er nicht nur mich in seinem Leben hat.

Später im Einschlafen denke ich mir aus, wie er wieder nach Hause kommt. Wie der Garten dann aussieht. Wie aufgeräumt und sauber seine Wohnung ist. Wie wir wieder draußen sitzen und uns die Bäuche hart lachen.