der Morgen an dem ich um 9 Uhr 40 aufwachte und um 10 Uhr beim Jobcenter hätte sein sollen

„Bitte vergessen sie nicht ihre Selbsthasskappe unterm Kinn zu verschließen.
Ihr Flug „zum ersten Mal überhaupt einen Jobcentertermin, um den sie selbst gebeten haben, verschlafen“ startet nun.“.
„Ich habe noch nie verschlafen! Nie! Lassen sie mich raus“, rufe ich.
„Schnauze – Hasskappe fest und sitzen geblieben!“, antwortete der Stewart.

„Aber ich will doch was werden – ich muss doch was tun – man muss immer was tun, wenn man Hartzi ist“, schrie ich und dachte darüber nach, wie dumm es ist, mir noch eine Hasskappe aufsetzen zu sollen. Trug ich doch schon 30 übereinander.

„Das sind unsere Standarts hier bei Konsequenz-Airlines.“, näselte der Stewart während sein Blick bereits Nadeln in mein Gesicht stieß.
„Jetzt heul doch endlich los“, brummt es aus meinem Ordner der letzten 10 Jahre Hartz 4. „Das gehört halt dazu.“

Ich lasse los. Setze mir die Selbsthasskappe auf und twittere aus einem Flug mit den Konsequenz-Airlines für Hartz4-Terminverpasser_innen.
Ich überlege, ob wir wohl abstürzen. Würde ein Aussprechen dieser sinnlosen und dummen Scheiße, alles zerstören können?
Das wär so krass.

„Ich hab in 10 Hartz 4 Jahren noch nie eine Sanktion gekriegt“, erinnere ich mich „Kriegt man nach 10 Jahren Kundentreue eigentlich nichts geschenkt oder erlassen?“, frage ich den Stewart, der neben mir steht und gelangweilt an einem Tomantensaft nuckelt. „Phä!“, stößt er hervor „Was glauben sie denn, wo sie hier sind?!“. Seine linke Augenbraue krabbelt die Stirn hinauf bis sie den Haaransatz berührt.
„Ich glaube, ich bin im realsten Alptraum der Moderne gefangen und komme hier nie wieder raus.“.

Ich schaue aus dem Flugzeugfenster und sehe einen Schwarm mickrig zerfledderter Minichancen an mir vorbeiziehen. Meine Selbsthasskappe flüstert: „Die hättste alle haben können, wenn du nicht…“

Die anderen Hasskappen fallen ihr ins Wort: „Kannste knicken – weiß sie alles schon.“. Sie kraust ihre Naht. „Steter Tropfen! – Steter Tropfen höhlt den Stein! Manches muss man halt öfter sagen!“. Die anderen Hasskappen brummeln ärgerlich.
[Hasskappengemenge]

Ich hebe den epischen Kampf der Hasskappen von meinem Kopf und frage den Steward, wie lange es denn dauert bis zur Urteilsverkündung.
„Ihre gesetzliche Betreuung – die sie SCHMÄCHLICHSTERWEISE auch versetzt haben!!! – ist noch im Gespräch mit ihrem Sachbearbeiter“, sagt er so hochnäsig, dass ich von einem freundlichen grünen Popel angewinkt werden kann. „Hm, okay.“, murmle ich und zwinkere dem Popel zu.

Ich atme durch. Starre ins Leere. Das Dröhnen der Maschinen versucht sich durch meine Augäpfel zu schieben. Ich twittere den Schmerz weg.
Der Blick auf meine Uhr erschreckt mich. „Es müsste doch jetzt vorbei sein. Wieso ist es noch nicht vorbei?“. Natürlich spreche ich wieder den Stewart an, der sich inzwischen auf den Getränkewagen lümmelt und versucht das Innere seiner Augenlider anzuschauen.
Meine Frage summt ihn an, wie eine Stubenfliege mit Orientierungsproblemen. Statt einer Antwort tippt er auf den zerknüllten Konsequenz-Airlinesflyer in meiner Hand.
„Wir von Konsequenz-Airlines für Hartz4-Terminverpasser_innen, legen besonderen Wert darauf, sie so lange in der Schwebe zu behalten wie es geht. Schließlich lassen wir unsere Hasskappen extra für Flüge wie diesen produzieren. Wir sind ein gewinnorientiertes Unternehmen.“.

Ich beuge mich vor und betrachte das am Gewinn unorientierte Knäul der miteinander kämpfenden Hasskappen, das unter meinem Sitz umherrollt.

Ein schriller Ton schwurbelt durch den Fluglärm und lässt den Stewart aus seiner Uniform hopsen. Sein Popel hopst gleich mit. „Dies ist eine Ansage für Frau* Hannah – Stell in Zukunft gefälligst den Wecker richtig und prüf das nochmal- Rosenblatt. Sie dürfen jetzt eine angenehme Sitzposition einnehmen.“. „Ha ha – ja fick dich doch – ich machs mir hier doch nicht…“ und schon falle ich mit meinem Sitz unterm Po dem Hier und Heute entgegen.
Die Hasskappen klammern sich an den Sitzbezug und flattern im Absturzwind, wie kleine weißen Fahnen.

Ein Fallschirm entspannt sich über meinem Kopf. „Ist nicht schlimm, dass Sie nicht da waren. Der Termin hätte sowieso kein Ergebnis gehabt“. „Und jetzt?“, frage ich in den weiten Bogen über meinem Kopf. „Tja.“, antwortet es, „Jetzt genießen sie erstmal ihre Freiheit bis zum nächsten Termin. Sie sehen ja – es passiert nichts.“.

Ich betrachte die um mich flatternden Hasskappen. Meinen freien Fall ins Nichts.
„Dass nichts passiert, ist das Schlimmste.“, sage ich.
Ende

Buchtipp: “Auftauen” von Ute Casarini

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Nun ist da der Winter und nicht selten klirrt man selbst als Eisfigur nach einem Wald-Wiesen-Stadtrundgang in die eigenen 4 Wände.
”Auftauen”, das ist mein Gedanke, wenn ich meine heiße Tasse Tee mit den Händen umschließe und hoffe, dass es die Hitze bis zu meinen Zehenspitzen schafft.

“Auftauen” so heißt auch das Buch von Ute Casarini, das die Geschichte von Paul dem Schneemann erzählt.
Auf 16 künstlerisch sehr ansprechenden Seiten, die zwischen mittelgroß gedrucktem Text und Bild trennen, geht es ums Werden und Sein, Gehen und Entstehen im Winter und Frühling.

Erschienen ist dieses wundervolle Kleinod, das mich durch die kleine Verleitung zur positiven Imagination, immer wieder selbst auftauen lässt, im Verlag “bunte Auen” 2012 und kostet ca. 15€ im Einzelhandel.

Zurück in die Vergangenheit

Heute vor 10 Jahren lebten wir in einer Wohngruppe, in der wir eigentlich nicht sein wollten, eigentlich gar nicht gewollt waren und, die für uns überhaupt nicht konzipiert war. Wir hatten einen dünnen Faden zu einer psychologischen Beraterin in der Hand, konsumierten permanent Kaffee oder Tabak. Hier und da fuhr man für ein zwei Stunden weg.
Ohne, dass es jemand merkte. Oder verhinderte. Oder sonst irgendwas.

In dem Jahr hatten wir so viele furchtbare (beziehungs)retraumatisierende Erfahrungen zu kompensieren, dass ich heute kaum noch Platz für Zweifel an einer massiven Fähigkeit zur Dissoziation in mir habe.
Nach 1,5 Jahren Kinder- und Jugendpsychiatrie in Schleswig Holstein, zogen wir für 3 Wochen nach NRW, wo man sich mit uns übernommen hatte. Falsche Versprechen, zu hohe Anforderungen an uns und letztlich Verrat und Verlassen waren die Folge.
Es folgten 5 Monate Kinder- und Jugendpsychiatrie unter der Diagnose “histrionische Persönlichkeitsstörung”.
Es grüßte die Jahrhundertwende und hakte sich bei struktureller Misogynie unter, um der Realität von systematischer Gewalt und Ausbeutung an einer minderjährigen, völlig isolierten und perspektivlosen Person, nicht begegnen zu müssen.
Auch nicht direkt nebenan. Auf Station.

Ja. Es war furchtbar.
Und ja, selbstverständlich glaubte ich allen “draußen”, die mir sagten, es gäbe ein Morgen und ich könne handeln.
Die Tatsache, dass ich mit meinen 17 Jahren als massiv gestörte kranke unglaubwürdige Irre, absolut gar nicht handeln konnte, haben diese Personen, von dort aus der Ferne, nicht im Blick gehabt.

“Ich darf nicht voraussetzen, dass irgendjemand parteiisch für mich ist und gleichzeitig auch so mächtig, über mein Leben in meinem Sinne zu entscheiden.” – Erkenntnis einer 15 Jährigen, die auf Bäumen schläft, um sicherer zu sein, die sich erneut bewahrheitete.

Irgendwann war dieses Jahr natürlich vorbei.
Ich wurde 18, 19, 20 … dieses Jahr, 28 Jahre alt.

In mir drin sitzen bis heute Innens, Jugendliche, wie einzelne Kinderinnens, die sich all das – all die Psychiatrieerfahrungen, all das Verlassen und Verratenwerden, die Gewalt durch Personen, von denen man abhängig war und vor denen man nicht fliehen konnte, sowie die Notwendigkeit von TäterInnen*kontakten und anderen Arten der Selbstzerstörung – mit “dem Bösen” in sich, unter uns, in mir als Einsmensch, erklären.

Morgen steigen wir in den Zug und machen eine Reise in die Vergangenheit, um ein paar Fäden ins Heute zu nehmen und damit am Morgen zu knüpfen.
Denn, wenn jemand „das Böse“ in uns gesehen hat, dann eine der Personen, die wir in den 3 einhalb Tagen dort treffen werden.

Es tut schon jetzt weh.
Lässt mich nachts aus Träumen von Kämpfen mit einer Fixierungsliege oder vielen Personen gleichzeitig hochschrecken. Ich muss immer wieder meine Anspannung runterschrauben. Das schrille Fiepen in meinem Kopf mit Watte und Federn einwickeln. Manchmal von NakNak* beruhigen lassen.
Ich schlafe ein und mir ist schwindelig. Ich wache auf und mir ist schwindelig.

Ich sehe keine andere Möglichkeit mich anzunähern.

 

 

 

Ich hoffe so sehr, dass wir das Meer sehen werden.
Und in den Zug zurück zu NakNak*, unseren neuen Herzmenschgemögten, unserer Therapeutin, unserer dreckigen Muchtelbude, den Mimosenbabys und all den Eulen, steigen.

die Geschichte von der kleinen, fast ganz erwachsenen, Eule

Einmal, vielleicht ist es noch gar nicht lange her, da hockte eine kleine Eule auf einem Ast, in einem Baum, in einem Wald…
vielleicht gar nicht so weit von hier.

Schon eine Weile, hopste sie vor der Höhle, in der sie geschlüpft war, hin und her. Mal hinein, mal heraus und manchmal traute sie sich sogar ihre Flügel ganz weit auszustrecken, während sie auf dem Ast entlang lief.

Die kleine Eule war eigentlich gar nicht mehr so klein. Vielleicht ein bisschen kleiner, als ihre Euleneltern. “Aber nur ein gaaaaaanz klitzebisschen!”, fand die kleine Eule, “Ich bin auch fast ganz erwachsen!”.
Dann erzählte sie anderen Vögeln immer, wie sie sich ganz allein aus ihrem Ei gepickt hatte, weil es ihr darin viel zu eng wurde und sie ja auch gerne mal ihre Euleneltern sehen wollte, die sie so fleißig ausgebrütet hatten. “Und dann irgendwann wurde mir auch diese kleine Bude hier zu eng. Phü- nur ein Fenster und das ist auch noch die Wohnungstür! Nee, nee- ich bin jetzt fast erwachsen, da kann ich auch unter dem Blätterdach des Baumes schlafen.”, sagte sie und plusterte ihre feinen Daunen über der Brust auf. “Und wenn mir das nicht mehr gefällt, dann gehe ich eben woanders hin. Vielleicht dort drüben hin, in diese schöne Buche. Oder da in die Kiefer!”.

Eine Krähe keckerte: “Du kleines Eulchen- du kannst ja nicht einmal fliegen. Bevor du es dort hinschaffst, muss noch jede Menge passieren!”.
Da war die kleine Eule geknickt. Fliegen… nein, das hatte sie noch nicht probiert.

Einmal, da war sie geflatterhopst und plötzlich hatten ihre Füße den Ast nicht mehr berührt! Huch, hatte sie sich da erschrocken! Und weit und breit kein Eulenelter da und alle hatten geguckt, wie sie vor lauter Schreck erst mal ein bisschen weinen musste.
Da war sie lieber etwas vorsichtiger geworden und hatte lieber nur in ihrer Höhle geflattert. Aber irgendwann passten ihre großen, fast schon Erwachsenenflügel nicht mehr hinein.

“Wie geht denn Fliegen?”, fragte die kleine Eule, “Was muss ich denn dafür machen?”.
Die Krähe lachte: “Du wartest auf den richtigen Moment und dann Schwusch! passiert das ganz von allein.”.
Ein anderer Vogel sagte: “Also unser Nachwuchs, der hat sich immer gegenseitig aus dem Nest geschubst und dann konnten sie auch fliegen.”.

Der kleinen Eule wurde mulmig. Woher sollte sie denn wissen, wann ihr richtiger Moment war? Und was, wenn jemand käme, der sie einfach schubste?
Auf einmal kam ihr alles fast erwachsen geworden sein viel einfacher vor, als das Fliegenlernen. Plötzlich merkte sie, wie ihr Herz vor lauter Angst, einfach vom Ast runterzufallen, wummerte. Und dann dachte sie, dass sie ja auch gar nicht echt fast erwachsen war, wenn sie nicht einmal fliegen konnte.
Ach, jetzt hatte sie einen kleinen Schmerz im Bauch vor lauter Traurigsein und weinte kleine Eulentränen.

Da landete ein Eulenelter neben ihr und trug eine kleine Mahlzeit im Schnabel.
Es sah, dass die kleine Eule traurig war und fragte: “Ach mein Herz, warum weinst du denn so sehr?”.

Die kleine Eule erzählte von der Krähe und dem anderen Vogel und dem Fliegen und dem Runterfallen und am Ende pustete sie mit ihrer letzten Luft raus: “Ich bin noch gar nicht richtig erwachsen!”. Da nickte das Eulenelter und sagte: “Ja, das stimmt. Du bist noch nicht erwachsen, weil du noch nicht ganz ausgewachsen bist.”.
Ausgewachsen? Das war ein neues Wort für die kleine Eule.
Sie legte den Kopf schief und hörte zu.

“Jetzt wirst du flügge und lernst flattern und hopsen und geflatterhopsen und klettern mit flattern. Da schaue ich dir zu und bringe dir noch Essen, denn das kannst du ja auch noch gar nicht: das Jagen.”. Die kleine Eule wollte kurz noch einmal weinen. Da war ja noch etwas, was sie noch gar nicht konnte, aber sie wollte doch jetzt schon alles können!
Aber das Eulenelter sprach weiter: “Wenn man Dinge lernen will, dann muss man manche Dinge vorher schon gut können. Dann hat man irgendwann auch gar keine Angst mehr, weil man das schon so oft gemacht hat, dass es nicht mehr unheimlich ist. Du übst ja jeden Tag ein bisschen Flattern und Hopsen, nicht wahr?”. Die kleine Eule nickte eifrig.
Das Elter nickte: “ Siehst du und vor dem Fliegen, kommt das Flattern. Und ganz nebenbei, wenn du das übst, werden deine Flügel ganz genug auswachsen, damit sie dich tragen können und dann ist das Fliegen fast nur noch ein klitzebisschen anders als Flattern.”

Das klang für die kleine Eule schon alles gar nicht mehr so traurig. Sie würde ganz viel flattern üben und hopsen testen und dann irgendwann bestimmt fliegen können. Und wenn sie fliegen konnte, dann konnte sie auch in der Dämmerung jagen lernen, wie ihre Eltern das machten. Dann wäre sie ausgewachsen und könnte das alles.

Aber eines, das musste die kleine Eule noch wissen, bevor sie futtern und üben konnte: “Bin ich denn jetzt trotzdem schon bisschen fast ganz erwachsen? Ein klitzebisschen fast?”.
Da lachte das Eulenelter und drückte die kleine Eule an ihren Bauch.
“Ja, mein Herz. Ein klitzebisschen fast erwachsen bist du jetzt auch schon.”.

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von „Sybil“ und antiquierten Zweifeln

Wenn ich solche Tage habe wie vorgestern, wachsen nicht nur Krätzpickel auf meinen Gedanken. Auch die Zweifel an mir und allem was mich umgibt wachsen.

Irgendwann klopfen auch die Zweifel an der Richtigkeit der Diagnose- an der Idee der strukturellen Dissoziation als Folge schwerer Traumatisierungen- an. Ich spüre die BÄÄÄMs und die MittelBÄÄÄMs mehr, die Wünsche, dass alles ein riesiger Irrtum ist. Meine Geschichte auf irrer Einschätzung eines von Natur auf falsch funktionierenden Gehirns beruht, auf die einige meiner Therapeutinnen hereingefallen sind, weil sie mir geglaubt haben. Glauben mussten, weil sie in ihrer Freizeit nicht Agatha Christie spielen dürfen/ können/ wollen.

Vorgestern habe ich dann doch mal wieder „False Memory“ gegoogelt. Foren angeguckt, in denen Menschen davon berichten fälschlich der (sexuellen) Misshandlung angeklagt worden und einer (feministischen) Großverschwörung zum Opfer gefallen zu sein.
Irgendwann landete ich bei folgendem Video:

Ich habe letztes Jahr die Neuverfilmung von „Sybil“ gesehen und auch hier kommentiert.
Ich habe sogar das Buch „Sybil“ im Bücherregal stehen und gelesen. Damals hatte ich es als historischen Beleg für die Wahrnehmung der Frau* als „psychisch krank“ gelesen. Nicht bzw. nur am Rande, als ein Buch, in dem es um „eine multiple Persönlichkeit“ geht.

Mir war beim Lesen von Anfang an klar, dass die Traumaforschung und vor allem das Verständnis der menschlichen Psyche zur Zeit der Buchveröffentlichung und auch der psychiatrischen Behandlung „Sybils“ damals eine andere war, als heute.

Ich möchte im Folgenden das Video kommentieren. Dabei verwende ich das Wort „Frau“ und meine das soziale Geschlecht, der als biologisch weiblich gelabelten Menschen. Biologisch männliche Menschen mit dissoziativer Identitätsstruktur schließe ich hier vermutlich leider aus, wie es bis heute oft passiert, weil der in Prävalenzstudien erfasste Anteil der biologisch männlich Menschen mit DIS, sehr gering ist (auf einen männlichen Menschen kommen, nach meiner letzten Information, 7 weibliche Menschen mit dieser Diagnose).
Dies bitte ich zu entschuldigen und nicht als Versuch zu sehen, biologisch männliche Menschen mit DIS unsichtbar zu machen. Inoffizielle Zahlen gehen von einem höherem Anteil aus, sind aber nicht in Zahlen belegbar, weil sich männliche Menschen eher weniger oft in Psychotherapie begeben als weibliche- ein Umstand auf den ich später noch zu sprechen komme.

Debbie Nathan ist Journalistin- keine Psychiaterin oder Psychotherapeutin. Moderne Traumaforschung liegt ihr offenbar fern, offensichtlich genauso fern, wie die Reflektion ihrer eigenen Sexismen (was meint ein Bewusstsein über die frauen*verachtenden Wurzeln ihrer Überzeugungen).

Was ihr in den ersten Minuten gut gelingt, ist auf die Dramaturgie des Films und auch des Buchs hinzuweisen. Das ist etwas, das mir selbst auch aufgefallen war. Die „Story Sybil“ ist sehr einfach gestrickt: schlimme Geschichte macht Frau krank, sie erinnert sich erst nicht, dann doch und schwupp ist sie geheilt. So wird verkauft- aber keine Lebensrealität transportiert.

Die Rednerin unterlässt den Schluss zu einen fundamentalen Faktor, der ebenfalls zu Interesse an der „Story“ führt: eigene Identifikation bzw. Betroffenheit. So weißt sie darauf hin, dass der Film von einem Fünftel der amerikanischen Bevölkerung geschaut wurde, als wolle sie von einer Massenimpfung und nicht einem Informations- oder Kontaktbedürfnis mit dem Thema „Weiblichkeit/ Frausein und Gewalt“ sprechen. Einem Thema, dass in den 70 er Jahren „auf dem Tisch“ war- vornehmlich in feministisch orientierten Kreisen bzw. durch selbige (mit-) verursacht, in der breiteren Öffentlichkeit.

Dann kommt sie auf Shirley Mason zu sprechen, die Person, die später zu „Sybil“ wurde.
Sie sagt, sie hätte keine Hinweise darauf gefunden, dass Shirley als Kind die Symptomatik einer DIS hatte.
In Hinblick auf die DIS als funktionell sichernden Mechanismus erscheint das logisch. In meinen Büchern zum Thema „Trauma und Dissoziation“ wird die „Störung“ erst dann zur „Störung“, wenn die Struktur der Dissoziation dysfunktional ist. Das heißt, dass, bis zu dem Zeitpunkt, in dem das lebensstrukturgebundene Dissoziieren als notwendig eingeordnet wird, auch keine Störung durch selbige wahrgenommen werden. Weder von den Menschen selbst, noch von außen.
Da sich dieses Dissoziationsmuster gerade in der frühen Kindheit entwickelt bzw. genutzt wird, gehe ich persönlich also davon aus, dass in Shirleys Fall, sollte sie multipel gewesen sein, ergo auch keine Symptomatik wahrnehmbar gewesen sein kann.

Frau Nathan gibt auch an, dass sie keine Belege dafür gefunden habe, dass die Mutter Shirleys jemals schizophren oder psychotisch gewesen sei. Etwas, dass mich in Anbetracht der (brutalen) psychiatrischen Versorgung und der Stigmatisierung von psychischer Krankheit, gerade bei Frauen, zu der Zeit, ebenfalls nicht groß wundert.
Ebenso spricht auch die religiöse Lebensweise der Familie nicht dafür, dass überhaupt eine Offenheit für die Notwendigkeit einer professionellen Behandlung durch die Medizin vorlag. Sie waren Adventisten. Eine sektuöse Glaubensgemeinschaft, deren Lebensweise auf ein jederzeit eintretendes Armageddon ausgerichtet ist. Wie nah mag da der Schluss: „Nun ja- sie ist verrückt, aber G’tt hat sie so erschaffen und so wird er sie auch mitnehmen- wozu noch zum Arzt und verändern?“ liegen?

Sehr wohl spricht die abgeschlossene Lebensweise und auch die geistige Doktrin, die individuelle Neigungen im Bereich des Schöpferischen unterdrückt und ablehnt, für einen Nährboden von Gewalt an der Psyche an Menschen. Gerade bei Menschen, die so der Kunst zugeneigt sind wie Shirley. Frau Nathan bezeichnet ihre Lage mit „She was a troubled child“ und erhebt sich so über das subjektive Erleben des damaligen Kindes.

Dann kommt sie auf einen umfassenden Themenbereich: Hysterie
Beziehungsweise: die hysterische Frau, die „nur mal ordentlich durchgevögelt werden muss, damit sie wieder klar im Kopf ist“- Na? Welche (feministische) Bloggerin fühlt sich gerade an diverse Kommentare und Hassmails erinnert?
Sie beschreibt in dem Film einigermaßen vollständig, wie die Ideen und auch die psychiatrische Begegnung mit dem Cluster ausgesehen haben. Lässt aber hier einen wichtigen Faktor aus: die Ursachen für das, was früher als Hysterie im Kontext der Psychiatrie und Krankheitsverständnis bezeichnet wurde.

So kommt sie darauf zu sprechen, dass „Hysterikerinnen“ unter Verdacht standen immer wieder zu tun, was (vermeintlich) von ihnen erwartet wurde und von einer erhöhten Empfänglichkeit für Suggestionen gesprochen wurde. Heute würde man von „Anpassung/Unterwerfung vor einer (subjektiv empfundenen) Dominanz sprechen.

Dann beginnt sie eine thematische Schleife und beschreibt die Psychiaterin C. Wilbur (Shirleys Behandlerin) als eine Frau auf der Suche nach dem nächsten großen Ding, das ihr als Frau in einer von Männern dominierten Welt, einen Karriereschub im ersten und einen Egostreichler im Weiteren zusichert.

Das mag sein und kommt bis heute immer wieder vor, denn a) sind Frauen bis heute seltener in Führungspositionen als Männer und haben es schwerer, zum Beispiel in ihrer (Forschungs-) Arbeit, anerkannt zu werden (auch und vor allem, wenn es um Themenbereiche geht, die eine Relevanz für Frauen haben) und b) weil MedizinerInnen und (Psycho-) TherapeutInnen nun einmal Menschen sind. Menschen mit Ego, das ab und an hungrig ist.

[Es regt mich übrigens auf, mit was für einer Attitüde die Sprecherin das Video darbietet, auf dem zwei Mädchen offenbar dabei gefilmt werden, wie sie sich ihrem Arzt unterwerfen. Ganz offensichtlich hat sie kein bis wenig Gespür dafür, dass es sich um eine Form von dokumentierter Gewaltanwendung handelt.]

In Minute 14 erwähnt sie, dass Shirley Mason von Dr. Wilbur ein Buch über Dissoziation empfohlen bekommen habe, was diese als Anleitung zum „Multipel spielen“ benutzt haben soll. Hier legt sie also den Schluss nahe, Shirley habe zu diesem Zeitpunkt bereits die implizierte Anforderung ihrer späteren Behandlerin vorgelegt bekommen, die sie später dann „vorführt“.

Ich habe mal durch die Bücher, die ich hier von anderen Menschen mit DIS stehen habe, geblättert und überlegt, ob man sich daraus eine Anleitung zum „multipel spielen“ basteln kann.
Fazit: Kann man durchaus. Einer echten Diagnostik würde dies aber nicht standhalten können, denke ich. Schon gar nicht über längeren Zeitraum.

In der Zeit zu der Dr. Wilbur und Shirley Mason aufeinander trafen, gab es aber noch nicht den gleichen Forschungsstand und entsprechend ausgelegte Diagnostikinstrumente, wie heute.
Es kann also durchaus sein, dass die Auskleidung der Grundproblematik Shirleys in Form von „multipel spielen“ um einer Behandlerin zu gefallen, passiert ist.

Debbie Nathan selbst schmückt den damaligen Behandlungsstandart und Wissensstand der Nachkriegszeit aus, indem sie auf die gerade frisch populär gewordene Psychoanalyse und Drogen als Allheilmittel eingeht.
„Psyche“ war „in“- die Ursache für zum Beispiel „Hysterie“, geschweige denn die wahre Verbindung zu posttraumatisch bedingter Symptomatik (in Form von somatoformer Dissoziation, die damals- wie von der Rednerin selbst noch immer- als „hysterische Lähmung/Blindheit/Taubheit/Anfallsleiden“ bezeichnet wurden), hingegen nicht.

Posttraumatischer Stress von Soldaten nach dem zweiten Weltkrieg, war nicht etwa ein Problem, weil eine ganze Generation von Männern plötzlich pflegebedürftig, seelisch und körperlich verkrüppelt war, sondern, weil sie sich plötzlich „weibisch“/ „weiblich hysterisch“ verhielten!
Das ist bis heute ein Problem auf das männliche Menschen, meiner Meinung nach, zu Recht sagen können, dass auch sie unter Sexismus leiden.
Seelische Zustände, die auf das weibliche Geschlecht limitiert sind, dürfen Männern nicht passieren, weil sie sonst „keine echten Männer“ mehr und ergo genauso schwach/wertlos wie Frauen sind. Weil dies mit einem massiven Verlust von Macht/ Einfluss einher geht, haben sie in ihrer Rolle zu bleiben und nehmen dadurch Schaden. Was aber bis heute nicht dazu geführt hat Weiblichkeit oder mit Weiblichkeit Assoziiertes vielleicht mal weniger zu entwerten.

Dies und auch die Existenz dieses Sexismus in den Köpfen vieler Menschen in psychiatrisch/medizinischen Bereichen, sorgt dafür, dass es Männern weniger leicht fällt, sich in, zum Beispiel, psychotherapeutische Hände zu begeben und dort auch korrekt diagnostiziert zu werden. Die Schwelle zur Hilfe nach traumatischen Erlebnissen ist für männliche Menschen enorm hoch- nicht aber ausschließlich, weil es zu wenig Hilfen gibt, sondern weil diese Hilfe auf der gesellschaftlichen Ebene auf (vornehmlich weibliche) Schwäche/ Irre/ „Krankheit“ limitiert ist.

Die Ursache für Symptome außerhalb der PatientInnen zu suchen, ist erst seit wenigen Jahren „im Kommen“ nachdem sich die Rollenbilder der Männer und Frauen (im Schneckentempo zwar) verändern und zwar vollkommener, als zu der Zeit in der Shirley Mason und Dr. Wilbur miteinander arbeiteten.
In dieser Hinsicht finde ich den Ausflug in die Werbung der damaligen Alltagsdrogen („Mothers little helpers“), den die Sprecherin des Vortrages macht, ganz sinnvoll.

Debbie Nathan beschreibt die (aus heutiger Sicht) katastrophale psychotherapeutische Behandlung von Shirley. Sie bekam Drogen, Elektroshocks und wurde auch hypnotisiert, um ihren Problemen auf den Grund zu gehen. Alles Dinge, die heute in der Form nicht mehr angewendet werden. Was Debbie Nathan interessanterweise in ihrem Vortrag zu erwähnen unterlässt.
Hypnotherapeutische Verfahren gibt es, werden allerdings nicht zur Exploration erlebter Traumata angewendet. Ich habe nicht viel dazu gefunden, doch das, was ich fand, waren Beispiele zur Etablierung von Selbstfürsorge oder Selbststärkung nach traumatischen Erlebnissen.
Psychopharmaka (Drogen) werden ebenfalls noch heute eingesetzt, doch gleichsam nicht um „an ein Trauma heranzukommen“, sondern um den Patienten die Symptome zu erleichtern oder zu nehmen, die sich in der Folge von Traumatisierungen entwickelt haben können. Etwa Depressionen, Angststörungen, Schlafprobleme, Stimmungsschwankungen, allgemeine Unruhe, sexuelle Dysfunktionen.
Elektroschocks sind ebenfalls noch nicht tot, finden in der Behandlung von Traumafolgestörungen hingegen keinen Platz mehr, sondern in der Behandlung von bipolaren Erkrankungen. Der Einsatz dessen wird scharf kritisiert. Zu Recht wie ich finde.

Die Rednerin geht im gesamten Vortrag übrigens nicht auf die genaue Diagnosebeschreibung der DIS ein. So zum Beispiel nicht auf eine der wichtigsten Voraussetzungen, die vorschreibt, dass eine psychophysische Erkrankung (wie zum Beispiel der Tumor im Gehirn) oder der Status nach Drogenkonsum ausgeschlossen sein muss.
Damit verleitet Frau Nathan die Zuhörerschaft zu glauben, dass dieses Vorgehen noch heute so ist und damit jeder Diagnose von DIS zu misstrauen ist.

Dann geht sie auf das Buch bzw. dessen Umstände ein.
Sie unterstreicht, die Fiktionalität, die benutzt wurde, um einen Bestseller zu kreieren, zwar mit der Erwähnung, welche positiven Auswirkungen dies auf die Behandlerin und die Autorin hatte, doch ohne explizit zu erwähnen, was für einen Verlust an Lebensqualität und Verstärkung der Abhängigkeit das Leben nach der Veröffentlichung für die Patientin Shirley Mason entstand.
Diese war durch die Behandlung zwischenzeitlich drogensüchtig und auch emotional abhängig von ihrer Therapeutin geworden und konnte sich offenbar erst mit ihrem Tod befreien, da sie sogar zusammengezogen sind.

Debbie Nathan gibt an, dass sie sich gefragt hat, warum diese Geschichte geglaubt wurde, als sie das Buch las und beginnt davon erzählen, was sich für die Frauen in den 70 er Jahren in Bezug auf ihre Lebensrealität verändert hätte. Sie könnten die Arbeit von Männern machen, Geburtenkontrolle praktizieren, Sex haben wann und mit wem sie wollten…
Sämtliche Abstriche, etwa das, was wir heute als „gläserne Decke zu leitenden Positionen“ bezeichnen und auch die Abwertung keine „richtige Frau“ zu sein in diesem Kontext, oder die Abwertung des Berufsstandes, der in der Folge von Frauen bekleidet wurde; die Abhängigkeit von der Erlaubnis des Mannes zur Geburtenkontrolle und wiederum die Abwertung der Frau durch selbige; genauso wie die verstärkte Etablierung der Frau, die nicht nicht mehr nur „immer Sex bekommen muss (um nicht hysterisch zu sein)“ sondern auch noch immer will (sonst würde sie ja nicht verhüten), was sich wiederum zur verstärkten Legitimierung von sexualisierter Gewalt ihnen gegenüber entwickelte, erwähnt Debbie Nathan mit keinem Wort.

Sie geht auch nicht darauf ein, was es für Betroffene von (sexualisierter) Gewalt mit ähnlicher Symptomatik bedeuten kann, wenn sie von einer Geschichte, die mit einer Heilung- einem Ende ihres Leidens handelt. Wenn da eine Geschichte auftaucht, in der sie sich in Teilen oder Gänze wiederfinden. Was für Hoffnungen entstehen und natürlich auch Kommunikationsbedürfnis plötzlich greifbar zu befriedigen erscheint.

Deshalb nur habe ich zum Beispiel Bücher von anderen Menschen mit DIS im Bücherregal stehen.
Die Botschaft wenigstens damit nicht allein zu sein. Eine (vielleicht im Hinterkopf dämmernde) Ursache aufgezeigt zu bekommen, die auch angenommen und nicht unter den Teppich gekehrt wird. Das Gefühl von Hoffnung auf ein Morgen, ohne diese Belastungen. Das ist unglaublich mächtig und anziehend, wenn man selbst vor sich steht und nichts als wirre, verängstigende Symptome an sich sieht und stets und ständig die Kontrolle über sich selbst verliert.
Sie erwähnt nicht, dass das Glauben an diese Geschichte der gleiche Mechanismus ist, der Menschen zu PsychiaterInnen oder PsychotherapeutInnen gehen lässt.
Da geht es um die Hoffnung auf ein Ende von dieser Qual.

Debbie Nathan führt aus, wie die Diagnose in den Achtzigern zur Modediagnose wurde und welche Blüten diese Massenbehandlung mit Drogen und Hypnose auf der Suche nach dem Trauma trieb.
Unter anderem verortet sie hier die, wie sie es nennt „satanic abuse panic“ in der Entstehung. Sie deklamiert sämtliche Äußerungen der PatientInnen als unter Drogen zusammenfantasiert- wiederum ohne zu erwähnen, wie die Traumatherapie von Menschen ganz allgemein heute aussieht.

Die Journalistin Nathan hängt sich in der Fragerunde am Ende des Vortrag so weit aus dem Fenster, dass es mir persönlich fast eine Freude ist, sie in mittels meines Wissens um die Strukturen, die zum DSM (in Deutschland des ICD) bzw. den Diagnosen darin führen, heraus fallen zu lassen.

So gibt sie an, dass im Diagnosekommitee der DIS, noch immer Menschen sitzen, die früher diese Diagnose „gebastelt“ und nachwievor die gleiche Überzeugung hätten, wie damals. Sie gibt an, keine Ahnung zu haben, wieso die Diagnose noch nicht herausgenommen wurde.
Mit keiner Silbe erwähnt sie die durchaus vorgenommenen Änderungen, den Einfluss der Traumaforschung, die heutigen Behandlungsstandarts und ebenfalls nicht das grundlegende Vorhandensein des Symptomclusters, das mit komplexer Traumatisierung einher geht.
Die Symptome sind ja da- auch wenn die Menschen keine Erinnerungen von sich geben. Dass es bei der Auflistung im DSM aber genau darum handelt- die Aufzeichnung von vorhandenen Mustern, die auch „Kopfsalat“ oder „Schweinebraten“ genannt werden könnten und nicht um eine Darstellung dessen, was „wahr“ im Sinne von Patienten gebundenen Fakten, ist, lässt sie unerwähnt.

Im Verlauf macht sie für mich sogar noch einen Salto aus dem Fenster, in dem sie die Aussage einer Feministin als Sprungbrett benutzt und „dem Feminismus“ die „Schuld“ an der Entstehung der Diagnose gibt.
Wenn ich sowas höre, habe ich immer so ein Bild im Kopf von einem wabbligen grünen Flubber, das ein F auf der Brust hat, und von Tür zu Tür geht und fühle mich an die Inquisition erinnert: „Die Hexe kam und hat mir den Kopf verwirrt- deshalb schlachtete ich mein einziges Hausschwein und ernährte meine Familie! Brennen soll sie und als Entschädigung will ich ihre 20 Hausschweine!“.

Sie postuliert einen Schaden durch die Diagnose an der Gesamtgesellschaft, der de facto zu keinem Zeitpunkt eingetreten ist. Immer wieder impliziert sie einen (sekundären) Krankheitsgewinn durch die Diagnose und die damit einhergehende Aufmerksamkeit.
Sie sagt, ihr wäre aufgefallen, dass PatientInnen zur „Prinzessin“ würden, sobald die Diagnose der DIS erhalten hätten. Nach bis zu 7 Jahren in denen diese Menschen von Arzt zu Arzt und von Klinik zu Klinik gewandert seien, sei dieses Gefühl doch wunderbar.
Aus eigener Erfahrung kann ich sagen: Nein.
Es stimmt, dass man mit anderen Diagnosen tatsächlich wie Müll behandelt wird. Meine eigene Behandlung unter der Diagnose „Schizophrenie“ und „Psychose“, war die Hölle. Aber nicht nur, weil mir gesagt wurde, ich würde für immer krank sein, oder weil die Medikamente zum Teil einfach nur furchtbare Wirkungen hatten, sondern, weil sie auf keiner Ebene heilsam wirkte!
Ich hätte das alles auf mich genommen, wenn es mir die Symptome genommen hätte. Würde auch heute liebend gern mit einer Diagnose herumlaufen, die mit Medikamenten eingestellt werden könnte. Nichts lieber als das- ehrlich! Warum wohl sonst, hätte ich mir solche Inhalte, wie diesen Film reingezogen, wenn nicht auf der Suche nach tragenden Gegenargumenten für meine Diagnose und alles, was sie impliziert?

Ich wäre lieber die Durchgeknallte die Medis schluckt, als ein Opfer von Gewalt.
Es gibt keinen- absolut keinen echten Gewinn durch das Labeling als Opfer. Schon gar nicht als Frau.

Ich war 16/17 als die Diagnose zum ersten Mal gestellt wurde und die Aufmerksamkeit, die ich damals bekam, fand ich furchtbar. Das war so eine Mischung aus Versuchskaninchen und Neuland. Sowohl für meine damalige Therapeutin als auch das Pflegeteam und die Klinik.
Ich musste mich nach 2 Jahren Kraut und Rübendiagnostik, ständige Lebensumbrüche und Entwurzelung ganz auf das verlassen, was mir meine Therapeutin sagte und hatte keine Möglichkeiten das mit irgendetwas abzugleichen, da ich geschlossen in einer Klinik untergebracht war und kein soziales Netz außerhalb hatte, das sich ernsthaft und global für mich interessierte.

Ich wollte einfach nur normal sein. Nicht zugeben, dass ich Amnesien hatte, fühlte mich immer wieder tief ertappt, wenn irgendeine Wahrnehmung, die ich zu verstecken versuchte benannt wurde. Versuchte immer wieder mich anzupassen und scheiterte mit Pauken und Trompeten, weil immer wieder etwas aufgedeckt wurde. Ich hatte vor wohlwollender Begegnung meiner Person genauso viel Angst, wie nicht wohlwollender. Kein toller Zustand, wie sich das Frau Nathan vorstellt.

Und mal von mir abgesehen- ich will gar nicht so genau wissen, was für Kämpfe meine damalige Therapeutin führen musste. Denn was in der Gesamtgesellschaft definitiv verankert ist, ist das Bild, das Debbie Nathan von Dr. Wilbur gezeichnet hat. Das Bild der gefrusteten machtgierigen Frau, die über Grenzen geht, um in einen exotischen Fall zu brillieren und anerkannt zu werden.
Das kommt mir noch viel schlimmer vor, als meine Schwierigkeiten zu der Zeit.
Da ist jemand der jemandem helfen will und ihm begegnet, vor einem Haufen Frage- und Ausrufezeichen steht, eine eventuell passende Diagnose findet und dann links und rechts abgewatscht wird, weil sie überhaupt in Betracht gezogen wird.

Obendrauf kommt noch das Mamiding, dass gerade weiblichen psychotherapeutisch arbeitenden Menschen ebenfalls immer wieder unterstellt wird. So wie es auch die Rednerin tut, in dem sie Dr. Wilbur unterstellt eine Mutter für Shirley sein zu wollen, weil ihre eigene eine vermeintlich brutale Person war.
Dass dies eine Sichtweise aus dem frühen 19 Jahrhundert ist, führt sie selbst aus- reflektiert dies aber nicht an sich selbst.
Es gibt solche TherapeutInnen, die diese Übertragung haben. Klar, auch das eine Erfahrung, die ich mehrmals gemacht habe (und genauso furchtbar fand, wie offene Missachtung). Doch heute wird eine eigene Psychotherapie von PsychotherapeutInnen verlangt, genauso wie regelmäßige Supervision der Menschen als Standard für gute Psychotherapiearbeit gilt, in der solche Übertragungen geklärt und wenn möglich aufgelöst werden. (Etwas, dass ich allen Menschen, die sich egal aus welchem Grund zu einer Psychotherapie entscheiden, nur raten kann: Fragen, ob regelmäßig Supervision in Anspruch genommen wird- ist das nicht der Fall: Haken hinter und jemand anderen suchen. Es gibt wenig, das giftiger ist, als unreflektierte oder stetig zur Reflektion aufgeforderte TherapeutInnen).

Abschließend ein paar Gedanken zu dem Vortrag.
Debbie Nathan hielt ihn im Jahre 2012. 20 Jahre nach dem Tod von Dr. Wilbur und 14 Jahre nach dem Tod von Shirley Mason und 24 Jahre nach dem Tod von Flora Schreiber. Schon ziemlich clever, drei toten (weiblichen) Menschen eine Verschwörung der Massen zu unterstellen. Widerrede oder Aufklärung ist nicht zu befürchten.
Noch einmal: der Vortrag war im Jahre 2012, einer Zeit in der die Begriffe „hysterische Lähmung/Blindheit/Taubheit“ abgelöst sind von den korrekteren Begriffen der Konversionsstörung oder auch somatoformen Dissoziation. Die „Hysterie“ als solche ist heute noch als „histrionische Persönlichkeitsstörung“ zu finden, die sich laut der Wikipedia auf „auffälliges“ bzw. „wirkungsorientiertes Verhalten“ bezieht- nicht auf psychophysische Statusveränderung oder Traumafolgen assoziierte Störungen.

Ich persönlich denke, dass das Buch „Sybil“, die Story, die ausgeschmückt wurde, um finanziellen und fachlich bezogene Positivreputation zu generieren, nicht als Dokumentation einer DIS und ihrer Behandlung herhalten kann. Damals wie heute kann sie das nicht.

Wofür sie aber nutzbar sein kann ist, darzustellen, wie moderne Psychotherapie und Traumatherapie im Speziellen heute nicht mehr praktiziert wird und praktiziert werden darf.
Gleichsam bietet alles, was mit dem Buch, dem Film, den Menschen Dr. Wilbur, Shirley Mason und auch Flora Schreiber heute, wie damals zu tun hat, ein Beispiel für die Geschichte der Frauen in der Gesellschaft und der Herrschaftsverhältnisse, die bis heute fundamental sind, als auch für die Geschichte der Psychiatrie bzw. der psychotherapeutischen Medizin.

Ich bin ehrlich gesagt immer wieder enttäuscht, wenn ich mich auf die Suche nach neuem aktuellen Zweifelfutter an der Diagnose begebe und dann nichts weiter als Perpetuierung von Frauenverachtung finde. Das Wiederholen von inzwischen mehrfach und streng wissenschaftlich widerlegten Aussagen vorfinde und dies immer wieder mit den gleichen Beispielen „bewiesen“ wird.

Offensichtlich hat sich die Traumaforschung aller Kritik gestellt und sich weiterentwickelt. Die (antifeministische) Liga der „False Memory“- Bewegung und der ZweiflerInnen an der Wahrheit von Gewalterlebnissen anderer Menschen im engsten sozialen Umfeld hingegen seit Mitte der 80 er Jahre nicht.

Schade.
Wird mir nicht mal die Selbstablehnung befriedigend und rund erleichtert, sondern nur auf dem ewigen Makel herumgeritten, eine Frau zu sein.
Same procedere as in every times. Sorry- aber das kann ich inzwischen alleine.

Und wie es männlichen Menschen mit DIS geht, wenn sie damit konfrontiert sind… die haben so gar keine Chance sich in dieser ZweiflerInnenkritik wiederzufinden, denn immer wird von Frauen als Opfern von Frauen und Männern als Menschen die eine DIS nur vorspielen, um Straftaten nicht verantworten zu müssen, gesprochen.
Immer wieder werden sie in die Rolle der im Kern krass hart brutalen Menschen gedrückt, die weder Schmerz noch Reue kennen.

Trauma ist ein Arschloch, das sich im Gegensatz zu unseren Herrschaftsverhältnissen, keinen Deut um das Geschlecht der Menschen kümmert, über die es hereinbricht. Wohl aber bricht am liebsten über jene, die in Machtverhältnissen weiter unten stehen, als andere herein.
Das Diskriminierungslotto, in dem Gewalt verlost wird, erwählt mit Vorliebe die auf irgendeiner Achse Unterdrückten. Und das sind mit Studien belegbar bis heute vornehmlich Frauen, Kinder, Menschen mit Behinderungen, Arme, und als einer Rasse angehörig gelabelte Menschen.
Und jede Gewalt gebiert in irgendeiner Form ein Trauma, das mehr oder weniger schwerwiegende und gesellschaftlich schädigende Auswirkungen hat.

Wenn man also von einer gesellschaftlichen und kulturellen Auswirkung von „Sybil“ sprechen will, so sollte man anfangen über Gewalt und seine Dynamik zu sprechen und aufhören sich hinter antiquierter Frauenverachtung zu verstecken, die selbige negiert.