Scheiße, die sind nett zu mir!

oder: “Wie viel Dissens verträgt der Konsens?”

Dass “Freiwilligkeit” kein Synonym für “Konsens” ist, ist für mich Fakt, weil ich persönlich das Konzept des freien Willens ablehne. Freiheit gibt es nur dort, wo nichts ist (Abwesenheit von Machtdynamik und damit Machtungleichgewicht = Abwesenheit von Gewalt = alle und alles ist gleich (ohn/mächtig) – wir* aber leben in einem Land, dass von mindestens Staatsgewalt dominiert und normiert ist, welche wiederum patriarchaler (Norm)Gewalt entsprungen ist. Also keineswegs in einem gewalt(en)freien Raum.

So bedeutet Konsens für mich ein Konzept, das bestehende Machten (Gewalten) anerkennt und eine beider/allerseits gleich be/er/entmachtende Positionierung ermöglicht und damit arbeitet.
Die Grundlage für Konsens ist neben Anerkennung von Unter- und Überlegenheiten, auch das Anerkennen, das Unter- wie Überlegenheit mit spezifischen Anpassungs- und Reaktionsmustern, Habitus, körperlichen, kognitiven und psychischen Befähigungen (aber auch ihrem Fehlen) und einem individuellem (Un-) Bewusstsein für eigene Präferenzen einhergeht.

Mein Tweet “Ich bin aufgewacht und der erste Mensch, der mich anschaut, lächelt. Vielleicht schlaf ich noch? <3”, ist für mich entsprechend sehr groß, da er mir selbst viel reflektiert:

– ich habe es geschafft unter Menschen zu schlafen
– ich habe es ausgehalten, dass mich ein Mensch anschaut, so dass ich merken konnte, dass er mich anlächelt
– ich konnte mir bewusst werden, dass sich das für mich angenehm und unwirklich neu anfühlte

Doch was stelle ich mit dieser Erkenntnis an?
Es ist das Eine zu spüren, das Freundlichkeit wenig mehr, als den Wunsch nach Harmonie und das Privileg der Gemeinschaft, die in Harmonie miteinander sein möchte, braucht, das Andere ist, in sich selbst genau das als neue Option, neue und fremde Interaktionsgrundlage zu empfinden.

Als ich die erste Nacht in der Hütte lag und versuchte meinen Körper auszuruhen, erkannte ich, dass ich den Trigger unterschätzt hatte, den es für mich bedeutet, wenn sich Nachts die Tür zu dem Raum öffnet, in dem ich schlafe.
Mein Denken und Fühlen passte sich an, schrumpfte, wurde weich, waberte wie Morgennebel ganz dicht neben meinem Gesicht.

Um mich herum wuselte es sachte. Einzelnes Lachen, gedämpfte Stimmen und das Rauschen des Waldes rahmten den Campkontext ein und allein mein Erinnern bildete für sich einen Dissens in all dem.
Diese Scheiße gehört in der Form nicht in eine Gruppe in der Diskriminierungen und andere Gewalten benannt und beendet werden wollen. Dieser rostige Nagel, den mir mein Kopf immer wieder neu in meine eiternden Wunden reintreibt, passt einfach nicht. Für mich. Als Fakt.

Mir wurde einmal mehr bewusst, wie viel von der Gewalt, die ich er- mit- ge- lebt habe, in mir selbst verankert ist und nicht durch den Konsens einer Ablehnung oder den Wunsch zur Veränderung verschwindet.
Auch in meinem Workshop wurde es kurz zum Thema, als ich sagte, dass man ein Trauma- ich möchte es ab sofort lieber “eine Erfahrungsverwundung” nennen – nicht “überwinden” kann. Wunden, Verletzungen, Schmerzen, die über physische Versehrungen hinausgehen, sind nichts, was man Kraft seiner geistigen Entscheidung oder Haltung allein “hinter sich lassen“ kann.
Wunden sind Löcher, Täler, die man durchschreiten oder mühsam umgehen muss.
So erlebe ich das jedenfalls. Was man überwinden kann – wo die Berge und Huckel zum überwinden und beklettern sind- sind meiner Meinung nach die Art Ängste, die erneute Ängste vor Verletzung, Ausbeutung und Verrat anhäufen.

Ich kann nicht in Gruppen sein, in denen meine Position heißt “Mach mal einfach- das wird schon alles passend sein.”. Gesagt mit Lächeln, ist es der Overload.
Dann muss ich sowas denken wie: “Vielleicht schlaf ich noch? <3”. Als Übersprungshandlung, weil Overload. Wohin mit all meiner Okayheit? Wie lange gilt mein Okaysein, als okay? Wie viel Nichtokaysein von mir wird geflissentlich übersprungen, kompensiert oder hobelt sich im Lauf der Zeit zu einem Huckel im Okaysein ab? Woran werde ich merken, wenn ich nicht mehr okay bin und mein Verhalten allen Konsens auf die Grundfesten reduziert und zu Gunsten einer Wunschvorstellung zwangsweise immer wieder neu belebt wird, wenn nicht durch Gewalt? Das ist doch woran ich immer und überall all mein Nichtokaysein merke! Absolut verlässlich und auf allen Ebenen.

Ich hätte es nicht ausgehalten, dort zu sein, wenn ich nicht den Workshop/Vortrag gemacht hätte. Ich brauchte meine innere Positionierung innerhalb einer Verwertungsgewaltendynamik (die nur vor mir selbst und einem nicht vorhandenen äußeren Beobachter von Belang und Bestand war!) um mir das Mehrsamsein in dieser großartigen neuen Form erlauben zu können.
Ich hätte nicht den Mut gehabt, nicht die innere Erlaubnis der Annahme zu vertrauen, dass sich jede/r* gut und hilfreich für die Gemeinschaft einbringen kann. Der Mut zur Überprüfung wäre nicht da gewesen.

Wieviel meiner Gewalt(en)sozialisierung ist umlernbar umerfahrbar überschreibbar durch Erfahrungen in konsensualen Miteinanders?
Ich reproduziere doch für mich selbst Gewalten bzw. Machtungleichgewichte, um mir diese Erfahrungen zu erlauben- sind sie dann noch purer Konsens oder eher das, was von meinem Eitersumpf übrig bleibt?

Wiederholungsmüde

pinkblackI don’t wanna talk
If it makes you feel sad
And I understand
You’ve come to shake my hand
I apologize
If it makes you feel bad
Seeing me so tense
No self-confidence

But you see
The winner takes it all
– ABBA –

Wie ich es leid bin, um Kontakte zu kämpfen.
Selbst darum zu kämpfen gesehen zu werden und gleichzeitig vor Angst unter Blicken zu vergehen.

Ich bin es so leid, nicht in Austausch zu kommen, um ein Nebeneinander in Respekt und Verständnis zu sichern.
Ich bin es so leid, Zuschreibungen auszuhalten.
Ich bin es so leid, immer dazwischen und mittendrin zu sein und gleichzeitig außen vor.

Immer wieder muss ich mich ohrfeigen, weil ich mich in ein Zentrum stelle, das gar nicht da ist.
Nicht jede kritische Äußerung, nicht jeder Wunsch, nicht jede Aussage, die an mich gerichtet ist, hat ein Gefahrenpotenzial in Bezug auf mein Überleben. Und trotzdem legt sich dieser Schalter immer wieder um.

„Ich muss…“
„Ich bin scheiße…“
„Ich bin ungenügend…“
„Ich sollte…“

und immer läuft es darauf hinaus eine Beziehung bzw. einen Kontakt zu sichern. Immer wieder geht es darum Innens wegzumachen, damit der Rest von uns von jemandem behalten wird. Immer geht es darum zu gewinnen, weil verlieren diesen Schmerz hat, den diese Angst vor dem Sterbeprozess mit sich bringt.

Ich wünsche mir eine Instanz, die das Spiel abpfeift. Und jetzt, wo ich einen Gedanken an so eine Instanz habe, fällt mir auf, dass sich das Spielfeld schon längst in eine Arena, mit ineinander verknoteten und verbissenen SpielerInnen in sich, verwandelt hat.
Egal, wie sehr ich versuche meine Kämpferscharenschaft abzuziehen, die Starre ist da. Irgendwas zwischen Beißkrampf und Schmerzstarre.

Und der Witz- das Ding über das ich mich ausschütten könnte, dass mir das Grinsen im Kreis um den Kopf herum wandert und die Augen aus den Höhlen springen, ist: Es ist scheiß egal, ob ich selbst das direkt mache oder nicht. Ich hab Innenleben, das statt meiner in so eine Arena geht und beißt oder gebissen wird.
Ich spiele immer mit. Egal, ob ich will oder nicht.

Wir sind so gut darin uns immer wieder an Menschen zu heften, die uns zeitgleich das Gefühl von Sicherheit, wie das Gefühl von Todesangst verursachen. Die immer wieder genau das Muster der Familie° an uns heran tragen. Das machen wir parallel nebeneinander her und jede/r auf seinem Gebiet…

Selbstverständlich ist so ein Spiel nie zu gewinnen. Das haben wir in unserer Familie° auch nicht wirklich gewonnen. Da sind wir auch einfach abgehauen, weil uns jede/r gesagt hat, dass man die eigenen Eltern nicht ändern kann.

Und jetzt wollen wir wieder abhauen. Alles ungeschehen machen und neu anfangen.
Dabei wissen wir, was die Verluste bedeuten. Wissen, was beim Abhauen so alles von uns abgeschnitten wird. Wissen das ganz genau. Wenn die Therapiererei in den letzten Jahren eins gezeigt hat, dann wie viel verdammt tiefer Schmerz und wie viele bis heute verletzte Innens den Weg von dort weg gepflastert haben. Wie viel „was wäre gewesen wenn…?“ bis heute immer wieder aufkommt.

Es wäre eine Wiederholung. Nichts weiter.
Ich bins leid zu wiederholen.
Stehe zum x-ten mal vor diesem Loch im Weg und will es anbrüllen, dass es mich vorbei lassen soll, damit ich nicht schon wieder reinfalle.

Ich will kein Gewinner sein.
Ich will nur nicht schon wieder verlieren.
Ich möchte es schaffen, mit Menschen ein Miteinanderspiel zu haben, in dem es weder oben noch unten, weder Gewinner noch Verlierer gibt.

Nur wie machen, wie gestalten, wie einfädeln…?
Ist es vielleicht nur ein Unwille anzunehmen, dass wir zu unfähig für dieses Ziel sind, der mich hier grad so antreibt einfach alle Kontakte nicht mehr zu erkämpfen, sondern versickern zu lassen?

Oder einfach ein lichter Moment?

die Einladung zum Klassentreffen

Ich hatte mich bei „StayFriends“ angemeldet, weil mein Buch ursprünglich eines werden sollte, dass Eltern und deren jugendliche Kinder in der Kinder- und Jugendpsychiatrie erreicht.

Ich wollte ein paar alte Kontakte aufnehmen, Interviews machen, die Ursachen und Folgen des Klinikaufenthaltes erfassen und darstellen. Irgendwie will ich das heute noch, doch ich merkte damals, wie umfassend dürr mein soziales Netz war und schob es auf.
Ich fand nur zwei ehemalige Mitpatientinnen und wir waren zu weit voneinander entfernt- sowohl räumlich als auch so im Alltag, dass ein Gespräch, wie ich es für mein Buch hätte führen müssen, nicht zustande kam.

Ich bin sowieso auch eine, die es nicht so hat mit der Objektkonstanz: Wenn ich mich nicht regelmäßig an die Menschen erinnere, fallen sie und alles was mit ihnen zu tun hat, aus dem Kopf.

Heute Nacht kam eine Email von der Webseite mit Kontaktvorschlägen.
Ein Name ließ ein Kinderinnen an der Innenseite meiner Stirn tippen: „Die J. is in meiner Gruppe. Bei Fräulein H.- die is eine liebe.“. Wir versuchten klar zu machen, dass dieses Innen heute nicht mehr im Kindergarten ist, dass wir erwachsen sind und, dass auch die J. heute eine ganz erwachsene Frau ist.

Aber wie das so ist. Ich weiß, dass das Kinderinnen nun irgendwo auf dem Rücken des Schwans sitzt und abgeschirmt wird- aber sich selbst noch immer in einem Kinderkörper, der zum Kindergarten geht, wähnt.

Die Frau hatte mich angeschrieben mit vielen Grüßen und der Frage, ob ich diejenige welche aus dem und dem Kindergarten sei. Ich bestätigte es und grüßte zurück.
Klickte mich durch die Seiten der anderen Kontaktvorschläge, merkte wie ich immer weniger vom Körper fühlte, weil sich mehr und mehr Schotten nach innen verschlossen. Irgendwann kamen keine Rückmeldungen mehr über die einzelnen Menschen und ich schaute mir meine potenziellen Abschlussjahrgänge an. Klassenfotos von vom Abschlussjahr. 4 Reihen Abiturienten, Realschulabschlüssler, Gesamtschulabschlüssler.

Wie klein und doch erwachsen sie alle aussehen. Schön angezogen, lächelnd.
Viele neue Gesichter kamen in die Klassen, seit wir weggingen.
Als sie ihre Zukunftszettel machten, gingen wir durch die Hölle aus Gewalt und Befreiungskampf. Waren gut dabei, wenn wir nicht den Tag zwischen Krampfanfall und Medikamentendröhnung verbrachten, sondern einfach nur unter Schmerzen leidend auf einer Couch lagen und die Katze streichelten.

Wir hatten keine eigene sichere Wohnung, eine Betreuung die uns nicht half, Ämter die unsere Situation nicht verstanden, eine Therapeutin, die nebulös im Hintergrund waberte und eine Beziehung, die uns einfach irgendwie das Wasser vom Hals zu löffeln versuchte.

Ich habe gesehen, dass uns eine Klasse zwei Mal zu einem Klassentreffen in die Stadt eingeladen hat.
Das berührt mich sehr, weil wir nur kurz in der Klasse waren und damals weit entfernt von dem Verhalten eines Menschen waren, mit dem man gern seine Zeit verbringt. (Ich kanns nur wiederholen: Wir waren kein huschiges Mäuschen mit großen Kulleraugen, aus denen unsere Not sprach. Im Gegenteil- ich könnte heute jeden verstehen, der einfach nur angepisst und genervt war.)

Einmal abgesehen davon, dass wir die Stadt nie wieder besuchen können werden, ohne uns in Gefahr zu bringen, frage ich mich natürlich doch, wie es den Menschen heute geht. Was sie machen und wie es ihnen ergangen ist. Was haben sie für Ziele und Ideale entwickelt?
Es ist Neugier.
Aber eine Selbstzerstörerische.

Ich würde es nur wissen wollen, um mich zu vergleichen und, dass ich immer „schlechter“ da stehen werde, liegt auf der Hand. Das „Schlechter“ habe ich in Anführungszeichen gesetzt, weil ich weiß, dass es nur auf einer bestimmten Leistungsebene „schlechter“ wäre. Sie haben einen Abschluss in Studien oder Ausbildungen, stehen vielleicht im Beruf oder haben mindestens die Berechtigung oder Möglichkeiten dazu einen aufzunehmen. Manche von ihnen haben bereits geheiratet und gebaren Kinder. Oder versorgen eigene Kinder ohne geheiratet zu haben. Sie haben eine mehr oder weniger intakte Herkunftsfamilie und kommen mehr oder weniger gut zurecht.

Sie haben bei Normalnull angefangen und sich von dort aus angeeignet, was sie brauchten, um sich ein Leben zu gestalten, wie sie es heute führen. Ihr Weg zu dem was sie heute sind, wird anders sein als meiner.
Ich war in keiner Schulklasse länger. Ich war in zwei Grundschulklassen, zwei Gymnasialklassen, 4 Klinikschulklassen, einer Gewerbeschulklasse und zwei Abendschulklassen bis ich einen Abschluss vorzuweisen hatte. Ich machte meinen Schulabschluss knapp 2 Jahre später als sie, habe nie fest angestellt irgendwo gearbeitet. Alles was ich mir angeeignet habe (und nachwievor aneigne) dient dem Zweck an „Normalnull“ heranzukommen.

Ich fange an dieser Stelle nicht an „Normalnull“ zu definieren oder zu dekonstruieren, um mir etwas schön zu reden oder so zu tun, als hätte ich einen breiten Blick auf das, was „normal“ ist.
Diesmal verzichte ich darauf, weil ich weiß, dass ich mich in dieser einen speziellen Gruppe eben „unnormal“ fühlen würde. Es bereits jetzt tue- und schon damals tat. Und weil ich weiß, dass dieses Gefühl berechtigt ist. Ich würde mich mehr damit verletzen, würde ich meine damaligen und auch heutigen Lebensumstände als etwas betrachten, dass man im statistischen Sinne mit „Streuung“ bezeichnen würde. Als Teil der Wertesammlung, doch eben im äußeren Bereich.

Das was wir als Säugling, Kleinkind, Kind, Jugendliche und Erwachsene durch- und überleben mussten, ist nicht normal gewesen. Es war so unnormal, dass wir unnormal wurden. Wir wuchsen nicht, wie ein Baum aus einem Samen, sondern wie ein Strauch aus vielen Samen. Unsere Entwicklung war anders und wird immer anders sein- auch wenn wir es schaffen unsere Vielheit zu bündeln und zusammenwachsen zu lassen, werden die Blüten und Früchte unseres Seins immer aus vielen Keimlingen hervor gekommen sein.

Wir werden Gemeinsamkeiten finden, vielleicht auch auf Gewaltüberlebende treffen, werden auch Hartz4 Empfänger treffen, werden ebenfalls „psychisch kranke“ Menschen entdecken, aber soweit ich weiß ist niemand von ihnen mit 15 aus seiner Familie gegangen und wurde so ausgebeutet wie wir.

Ich würde mich gern vom Gegenteil überzeugen, würde gern sehen ob meine Gedanken stimmen, ob mein Gefühl vom „am äußeren Rand stehen“ passend ist. Ich würde einige der Menschen gerne sehen. Manche auch nur um ihnen nachträglich zu sagen, dass ich ihr Leid gesehen habe.
Manchen würde ich auch gerne vermitteln, warum ich war, wie ich war.
Und manche würde ich auch gern einfach aus ihrer privilegierten Welt ein Fenster aufmachen.

Aber es ist noch nicht soweit. Es geht nicht.313759_524341310921951_1497324588_n
Ich fühle mich noch nicht auf Augenhöhe mit ihnen.
Es wäre anders, wenn ich eine Berufsbezeichnung und Leistungsergebnisse vorzuweisen hätte, die ich wie ein leuchtendes Ablenkungsschild vor meine Wurzeln halten könnte.
Wenn ich eben den gleichen Schutz hätte wie sie.

Ich bin traurig, weil ich das noch nicht habe und aufgrund dessen einen Teil meiden muss, der mich dem „Normalnull“ näher bringen könnte. Nämlich den, einfach so auch Kontakte von früher aufnehmen zu können.

Es würde mir helfen mich und mein Leben früher, breiter zu betrachten und zu sortieren. Es würde so manch ein „kleines Warum“ beantworten können. Es würde mir helfen einen Stein an die Stelle zu legen, die mich schmerzt. Doch auch diesen Stein muss ich erst einmal anheben können.

die Sache mit dem Schreien nach Aufmerksamkeit

Da gab es einen Satz in der letzten Therapiestunde der mir sowohl „Autsch“ als auch „Stimmt“- Impulse näher brachte:
„Wer schreit, kann nicht zuhören“

Wie wahr, wie wahr. Wenn jemand schreien muss, um gehört zu werden, dann bringt er in der Regel viel Energie auf und hat schlicht keine Kapazität mehr um zuzuhören. Ab einem Punkt gibt es auch keine Ratio mehr. Dann ist ein Level erreicht, in dem es nur noch darum geht, gehört und sich seiner angenommen zu fühlen.

Dieser Satz brachte mich zurück in meine Kinder- und Jugendpsychiatrie- , sowie meine Heimzeit als Jugendliche. Wie oft habe ich dort- ausgerechnet dort!- den Antisatz schlechthin gehört: „Ach- sie will ja nur Aufmerksamkeit.“? Ich habe es nicht gezählt.

Es ist ein Antisatz, weil er oft zur Sackgasse verleitet.
Wer in der Lage ist, jemanden schreien zu hören, der kann auch zuhören und entsprechend handeln. Sich mit einer Beschreibung bzw. auch einer Deutung eines Verhaltens darzustellen, als jemand der dies schon richtig einschätzt und damit sein (unter Umständen falsches) Handeln- oder auch Nichthandeln oder gar Ignorieren rechtfertigen darf, der nutzt etwas aus.
In meiner Klinik- und Heimzeit war es ein Machtgefälle.
Ich brauchte Hilfe und schrie es auf viele Arten heraus- und manche Helfer standen da, sahen dies und legten mit dem Satz „Ach, sie will nur mal wieder Aufmerksamkeit“, die Hände in den Schoß. Werteten meine Not ab und verstärkten sie damit gleichzeitig- denn die Verzweiflung wuchs: Da hatte jemand mein Schreien bemerkt- und mich doch wieder nicht wahrgenommen. Mir genug Aufmerksamkeit geschenkt, mein Schreien als solches zu hören- aber nicht genug um es anzuhören und sich mir in der Folge zu widmen.
Ich war auf Hilfe angewiesen und jene, die sie mir hätten zukommen lassen sollen, ignorierten sie aus was weiß ich für Gründen. Einen Vorteil hatten nur sie davon- ich konnte mich nicht mehr anders ausdrücken, doch jedes weitere Schreien konnte unter ihrer Deutungs/ Definitionsmacht weiter abgewertet werden. Egal was ich tat- es war nicht das, was zu dem führte, was ich brauchte.

Wenn wir Menschen geboren werden, können wir unter Umständen bis ins dritte Lebensjahr nichts Anderes tun, als mehr oder weniger artikulierte Schreie und Laute von uns geben. Die erste Form von Ausdruck über Befindlichkeiten und auch Nöte ist das Schreien.
Es ist ein Akt, der unglaublich viel Kraft abverlangt und deshalb im Laufe der Jahre immer gezielter eingesetzt wird, sobald das Gehirn soweit ausgereift ist, dass es klar und eindeutig Ursache und Wirkung miteinander verbinden kann. Bis es ein Gefühl für Selbstwirksamkeit gibt:
Ich schreie = das, was außerhalb von mir ist, reagiert darauf = mein Bedürfnis wird befriedigt

Auch wenn uns ein Herr Ferber etwas Anderes vermitteln möchte: Schlaflernprogramme funktionieren nicht, weil die kleinen Babys und Kinder lernen, dass Schreien nichts bringt, sondern, weil sie völlig erschöpft und leergeschrieen einschlafen! Im Gehirn des Kleinen lernt es vor sich hin:
Schreien (das Einzige mir verfügbare Mittel zum Ausdruck meiner Bedürfnisse) = keine Wirkung im Außen = keine Bedürfnisbefriedigung

Sind wir Menschen in der Lage Worte zu verwenden, Werkzeuge gezielt zum Ausdruck innerer Prozesse und Gefühle zu nutzen, brauchen wir nicht mehr Schreien oder auf unartikuliertes Ausstoßen von Tönen zurückzugreifen. Wir tun es aber trotzdem, wenn wir in großer Erregung sind. Wenn durch unsere Adern alles schießt, was da schießen kann. Angst, Schmerz, sexuelle Erregung, Freude,Verzweiflung. Selbst wenn kaum noch etwas schießt, zum Beispiel bei einer Depression oder im Sterbeprozess schafft es unser Organismus noch unartikuliertes Stöhnen oder Seufzen zu produzieren, um eine Ausdrucksmöglichkeit bereitzustellen.

Ist das nicht der Hammer schlechthin?! Was unser Körper alles an Kraft aufzubringen in der Lage ist, um eine Entlastung durch die Befriedigung unserer menschlichen Grundbedürfnisse zu erreichen!560693_web_R_by_Rike_pixelio.de

Warum fällt es so schwer, der Seele den gleichen Platz wie Hunger, Durst, Nähe- und Wärmebedürfnisse- ja sogar das Bedürfnis nach Spiritualität einzuräumen?
Weil sie unsichtbar ist? Die Bewertung der seelischen Bedürfnisse einzig subjektiv vornehmbar ist? Oder nicht vielleicht auch, weil unsere westliche Vorstellung von Gesundheit, nachwievor eine Trennung von Körper und Geist und Seele vornimmt?

Ich könnte jetzt einen kleinen Exkurs in Psychosomatik beginnen- mache aber doch nur einen kurzen Abstecher.
Jeder der mal Liebeskummer hatte, weiß, dass es gegen diesen Schmerz keine Tablette gibt- dass aber eine Selbstmedikation aus Selbstmitleid, Trost von außen und viel Schokolade sehr gut hilft. Will sagen: ja- da ist eine Trennung- doch nicht so eine Trennung als wäre die Seele ein eigenes Organ, ganz ohne Einfluss auf den Körper. Sowie anders herum Dinge, die dem Köprer zugeführt werden, einen Einfluss auf die Seele nehmen.
Das kann man in dem täglichen Miteinander voneinander lernen, wenn man sich einander widmet und seinem Schreien zuhört.

Ich habe es an mir gelernt, als ich begriff, dass ich immer dann den Drang mich aufzuschneiden spürte, wenn ich eigentlich das Bedürfnis nach warmer Nähe- nach liebe- und verständnisvollem Kontakt hatte. Ich einfach nur jemanden brauchte, der sich mir widmete.

Es ist tatsächlich ein Schreien. Ein unglaublich kräftezehrendes Schreien.
Wir mussten zu Klinikzeiten ein Protokoll führen, um das Muster der Selbstverletzung, der Essstörung, der Dissoziation zu erkennen. (Sidestep: Letzteres eigentlich ein Witz- wer dissoziiert, dissoziiert und handelt nicht bewusst- ergo planbar. Bewusstsein erfordert Assoziation- Dissoziation ist das Gegenteil dessen. Soviel dann zur Wirksamkeit von DBT bei ausgeprägter dissoziativer Symptomatik: ohne Hilfe (sich dem Patienten widmen!) von Außen kann so ein Protokoll nicht klappen.).

Dieses Protokoll half uns, das Bedürfnis, welches das Schreien (in diesen Fällen das Hungern und Schneiden) nötig  machte zu erfassen und auch zu reflektieren, wann genau der Moment vorbei war, in dem der „flüsternde“ Ausdruck dieses Bedürfnisses nicht gehört wurde oder auch direkt übersprungen wurde, weil gemäß der Lernkette kein Flüstern lohnte.

Der Satz „Die will ja nur Aufmerksamkeit“ ist etwas, das so eine „Ach- hier lohnt das Flüstern gar nicht“- Lernkette verfestigt. Er bestätigt die Lernkette: Ich sage etwas = niemand reagiert.

Man kann so eine Erkenntnis für sich haben. Natürlich. Man kann als Helfer da stehen und ein Verhalten für sich so einordnen. Aber dann muss ein weiterer Schritt kommen!
Im günstigsten Fall auf den Schreienden zu.
Dieser kann dann erfahren, dass seine Nachricht irgendwo angekommen ist. Und dann wird das Schreien verebben. Und DANN ist auch wieder Platz für Ratio und Zuhören.

Vorher nicht.
Ganz einfach.

Von Schreienden zu verlangen die Klappe zuhalten, ihren Ausdruck zu unterlassen, ist Gewalt.
Eine Gewalt mit der wir hier in unserer Kultur alle durch Bank weg, mehr oder weniger stark (und zerstörerisch) konfrontiert waren, als wir selbst Kinder waren. „Kinder soll man sehen- nicht hören“. Ein Satz aus der Jahrhundertwende. Heute sagt ihn niemand mehr- es wäre aber ehrlicher ihn zu sagen. Denn in vielen kleinen und großen Zusammenhängen erwarten wir Erwachsenen genau das von Kindern: „Sei still!“.
Und dieses Muster tragen unsere Kinder unter Umständen weiter. Es sei denn wir widmen uns ihnen und schaffen es ihre Perspektive einzunehmen und ihnen ihre Ausdrucksmöglichkeiten zuzugestehen. Diese zu akzeptieren und im Miteinander zu berücksichtigen.

Manchmal denke ich: „Ach Mensch, es ist doch so einfach eigentlich- wieso klappt das denn nicht? Gerade in Einrichtungen in denen viele Menschen sind, die vor sich hinschreien- sich vielleicht sogar richtig festgeschrieen haben. Es kann doch nicht sein, dass das immer und immer so ungehört bleibt! Es wäre doch im Vergleich schneller „erledigt“, wenn man sich ihrer annimmt…“
Ab und an habe ich den Verdacht, dass es vielleicht auch eine Angst gibt, das eigene Schreien nicht mehr gehört zu wissen. Als Helfer in der Not nicht mehr Schreien zu dürfen- seine Bedürfnisse nicht mehr ausdrücken zu dürfen. Als sei die Annahme anderer Menschen etwas, das eigene Nöte ausschließt.

Und tatsächlich finde ich diesen Gedanken oft bestätigt.
Es gilt als unprofessionell emotionale Tiefs zu haben und diese deutlich zum Ausdruck zu bringen. Als schwach gilt, wer Mitleid empfindet und selbst ein paar Tränen vergießt. Gerade im Bereich der Pflege, Pädagogik und auch im psychiatrisch- medizinischen Bereich.
Da gibt es die Vorgabe von strikter Abgrenzung und Unpersönlichkeit. So ein Ideal vom Halbg’tt in weiß, an dem alle Emotionen wie von gleichsam weißen Lotus abperlen. Wer dem nicht entspricht ist schwach, unprofessionell, nicht geeignet für seinen Beruf. Unterm Strich: minderwertig.

Ich will jetzt nicht dazu aufrufen, dass mir meine Therapeutin heute oder auch früher meine Betreuer oder die mich betreuenden Krankenschwestern hätten ihre Probleme erzählen sollen. ABER- ich hätte mit: „Ich habe heute einen miesen Tag- bin krank- meine Ohren und mein Herz sind heute überhaupt nicht auf für deine Not“ oder auch „Ich sehe dich- aber ich habe keine Kraft/ keine Zeit/ keine Ideen um dir gerade gut und hilfreich beizustehen“ lernen können:
Ich schreie = jemand hört mich, kann mir aber gerade nicht zuhören- ich muss warten/ zu jemand anderem gehen/ XY tun (vielleicht dem Menschen helfen?) = dann wird mein Bedürfnis befriedigt

Mit: „Du willst ja nur meine Aufmerksamkeit“
wurde nur gelernt, dass ich weiterschreien muss.
Und sei es meine Verzweiflung darüber, dass mich niemand wirklich hört. Wie früher. Wie damals, als so viel durch meine Adern schoss, dass ich nichts weiter tun konnte, als wie am Spieß zu schreien. Wie damals, als ich noch gar nichts anderes konnte als mich durch Schreien verständlich zu machen.
Und das vor Menschen, vor denen ich nur deshalb stand, weil bereits damals niemand zugehört hatte.

Ich bin froh und dankbar, dass ich heute viele Ohren habe.
Dass ich schreiben kann.

Und, dass ich heute gehört werde.

#unsichtbar

Heute ist der Weltfrauentag. Frauenkampftag.
Die Taz möchte die Unsichtbaren zeigen.

Auf Twitter zwitscherte sie folgende Fragen:
„Was bedeutet es, übersehen zu werden? Ist das für euch Schutz oder Ignoranz? Antwortet uns zum
#Weltfrauentag unter #unsichtbar.“
„Manchmal ist es besser, „unsichtbar“ zu sein. Welche Erfahrungen habt ihr damit? Eure Verschleierungstaktiken am
#Weltfrauentag: #unsichtbar

Meine Fähigkeit mich 140 Zeichen kurz zu fassen ist begrenzt, doch diese Fragen zu beantworten halte ich für wichtig.
Ich habe bemerkt, dass ich nie unsichtbar war. Oder wirklich übersehbar.
Eigentlich, und das fällt mir gerade jetzt auf, wo ich mich etwas näher mit dem Zeitpunkt meiner Befreiung und meiner Biographie überhaupt befasse, war es nie so, dass ich- wir als Einsmensch unauffällig, übersehbar, übergehbar oder ignorierbar waren oder agiert haben.
Wenn die Menschen in unserer Umgebung gewollt hätten, zu wollen gekonnt und gedurft hätten; wenn sie Macht gehabt hätten, hätten sie uns und die Gewalt an uns (und den anderen Mitbetroffenen) sehen und beenden können.

Unsere „Verschleierungstechnik“ war und ist bis heute, die strukturelle Dissoziation.
Praktikum in der Zimmererwerkstatt, BauCamp im Handwerksbildungszentrum, männliche Kunden, die eine Vogelvoliere in Auftrag geben, einkaufen im Baumarkt… badabumms taucht ein fast klischeehaft männliches Innen auf, dass niemand auf die Idee kommt, der Körper könnte weiblich sein. Dass niemand auch nur im Entferntesten glaubt, vor ihm stünde ein Mensch dessen Körper Gewaltorgien und systematische Folter überlebt hat.
Hundesitting, Haustierhalterberatung, Pflegestelle… zack, tauchen Innens auf, die freundlich zugewandt, sachlich offen und neutral eine Verbindung aufzubauen helfen zwischen Mensch und Tier. Niemand käme auch nur auf die Idee, durch welche Qualen es zu dieser Fähigkeit gekommen ist. Was für grässliche Bilder und Gefühle hinter den Augen dieses Menschen toben, während diese Arbeit getan wird.
Diese und viele andere kleinere und größere Alltagssituationen, lösen einen stetigen Wechsel von Innens aus. Jedes Innen steht auf seine Art, wie eine Schutzmauer vor einem tiefen Elend und macht es nach außen hin unsichtbar. Aus Selbstschutz. Um selbst nichts von dem Elend zu spüren oder gar zu wissen. Um nach außen hin perfekt angepasst zu sein, an jene Gesellschaft, die ebenfalls ihre Schutzmauern hat.

Es ist eine Verschleierung, die nicht gezielt und geplant ist. Erst wenn sie angewendet wird, fällt auf, dass es auch dabei um eine Art Überleben geht.
Ein Bestehen in einer Welt, in der nur jene bestehen, die möglichst weit von ihrem Schmerz entfernt sind. Die möglichst kalt und angepasst sind. In der jene ohne Schlenker im Lebenslauf, ohne Falte im Jackett, ohne Makel im Lächeln, eine reellere Chance auf einen Arbeitsplatz, der sie finanziell absichert, haben, als jene, bei denen das nicht so ist.
Unsere Gesellschaft- unser Miteinander macht unsichtbar, weil Unsichtbarkeit heute ein Garant für finanzielles- und damit auch soziales und am Ende direkt biologisches Überleben ist.
Sind unsere Körper so dünn, dass sie fast unsichtbar sind, gelten wir als schön und stark, was wiederum Eigenschaften sind, mit der man zu einer Absicherung kommen kann.
Ist unsere Meinung so gleich wie die der Gruppe, dass sie in der Masse unsichtbar wird, können wir uns des Schutzes selbiger sicher sein und so wiederum unsere Chancen auf ein Überleben sichern.
Geben wir uns selbst auf und werden zum ausführenden Organ jener, die über unsere Absicherung verfügen, werden wir überleben.

Nein, wir waren kein Kind, dass man leicht übergehen konnte. Keck, gewitzt, arrogant, sportlich, musisch begabt, extrovertiert.
Kein Wettkampf wurde ausgelassen, kein Turnier, kein Wettbewerb, kein Konzert je abgesagt. „Schau was ich kann!“ brüllten wir in die Reihen des Publikums und stärkten unseren Selbstschutz mit ihrem Applaus- dem Gradmesser der Beachtung, der Wertschätzung, des Maßes an Sicherheit durch erbrachte Leistung.
Niemals brüllten wir gleichsam in die Gesichter der Lehrer, Betreuer, Freunde, Ärzte, Eltern von Freunden, Nachbarn-  den Bekannten und Verwandten ins Gesicht: „Sieh, was mir gerade Schreckliches passiert! Sieh, wie ich und die anderen Kinder zerstört werden! Sieh… mich

Unsichtbarkeit hat zwei Seiten. Jene, die nicht sichtbar macht und jene die Sichtbarkeit gefährlich macht.
Was geschieht mit männlichen Menschen die hässliche Dinge sichtbar machen?
Denen wird in aller Regel zu ihrem Mut gratuliert, da sie eine Minderheit stellen.

Was geschieht mit weiblichen Menschen die hässliche Dinge sichtbar machen?
Denen wird in aller Regel nicht einmal zweifelsfrei geglaubt.

Was geschieht mit männlichen Menschen, denen hässliche Dinge passiert sind und sich sichtbar machen?
Was geschieht mit weiblichen Menschen, denen hässliche Dinge passiert sind und sich sichtbar machen?
Ihnen passiert genau das Gleiche. Sie machen sich auf eine Art angreifbar, die ihr direktes Leben auf mindestens einer Ebene bedroht.

Einen wirklichen Schutz erfährt nur, wer geschützt wird.
Vom Gesetz und dessen gleichberechtigter Anwendung; vom sozialen Umfeld; von seiner Fähigkeit sich blitzschnell auch wieder unsichtbar machen zu können und das System für sich zu nutzen.
Und wer hat dabei bis heute die besseren Chancen?
Der männliche Mensch.

Ja, heute in der Frauentag. Der Frauenkampftag.
Der Frauensichtbarmachtag.

Doch, was für Frauen genau, hast du heute schon gesehen?342533_web_R_B_by_onkel jo_pixelio.de
Hast du die Frau im Frauenhaus gesehen?
Hast du die Frau, die eine andere Frau liebt gesehen?
Hast du die Frau unterm Hiab gesehen?
Hast du die Frau, die sich als Mann fühlt gesehen?
Hast du die Frau im Asylantenheim gesehen?
Hast du die Frau im Rollstuhl gesehen?
Hast du die Frau gesehen, die jetzt noch ein Kind ist?

Hast du die Frau hinter der Schutzmauer gesehen?

Oder nicht doch eher das makellose Lächeln auf einem Werbeplakat, das dir sagt, dass es heute 50% Rabatt auf Schuhe gibt?

der bestmögliche Mensch

Der bessere Mensch

Es ist es nicht interessant, wie wir uns selbst gegenseitig schon mit der Formulierung abwerten? Wer oder was definiert, wer ein schlechter oder guter und wer ein besserer oder schlechterer Mensch ist? Ist es das, was er tut oder das, was er lässt? Macht uns eine bestimmte Meinung besser als andere? Macht uns ein Weltbild oder die Auffassung von selbiger zu einem besseren Menschen?

Warum reicht uns Menschen nicht, die Annahme, dass jeder Mensch der bestmögliche Mensch ist?
Warum müssen wir immer ein Wertgefälle erzwingen, wo gar keines nötig ist?

Ich hatte mal einen Artikel darüber geschrieben, dass ich denke, dass wir Menschen es uns eigentlich leicht machen sollten und uns eine gewisse Art “Tiersein” zugestehen sollen.
Unser Hund ist immer der bestmögliche Hund für uns. Sie ist immer die Tollste- ganz egal ob sie sich schon zum 3ten 4ten oder eine Millionsten Mal in Dreck gewälzt hat, mir den x-ten dicken Knüppel auf die Füße wirft oder einfach immer noch kein Schmusehund ist. Wir wissen, dass sie tut was sie tut, weil sie es tun kann und nicht, weil sie sich besser oder schlechter stellen will.
Genauso wie wir Menschen im Grunde auch nur tun was wir tun, weil wir es können.

Aber immer wieder müssen wir uns aufwerten, Unterschiede noch unterschiedlicher machen, um unsere Individualität nochmal und nochmal zu unterstreichen. Ohne uns zu überlegen- uns bewusst zu machen, was genau wir damit tun und was wir unter Umständen mit diesem Verhalten nähren.

Neulich sind wir mit NakNak* durch den Wald gegangen und es raste uns ein Sportradler entgegen. Kopfhörer auf den Ohren, Kippe um Mundwinkel, bergab durch den Wald. Ich sah NakNak* schon seinen Rädern und rief sie ran, nahm sie an die Seite, hielt sie fest. Der Radler stoppte und schaute mich an. Ich winkte ihm zu, er könne uns nun gefahrlos überholen (als wäre NakNak* oder ich die Gefahr- nicht er in seiner stumpf-rücksichtslosen Art durchs Naturschutzgebiet zu donnern). Er aber blieb oben und schrie (!) mich an, ob ich mir denn jetzt wie ein besserer Mensch vorkäme.
Ich war erschreckt, sagte nichts, ließ NakNak* laufen und ging weiter. Dachte aber: Hm, ich kam mir zuvorkommend, mich selbst und meinen Hund schützend, feige und defensiv vor- aber wie ein “besserer Mensch”? Er hatte doch nicht seine Biologie verändert, oder?

Wann fühle ich mich besser vor als andere?
Nie. Ich fühle mich nachwievor immer schlechter, wertloser, widerlich anderen gegenüber.
Wann wird mir gesagt, ich sei besser als andere?
Wenn ich einen Wettbewerb mittels einer meiner Fähigkeiten gewonnen oder im Wettstreit mit jemandem war und mittels einer mir eigenen Handlung siegte.
Wann bin ich ein besserer Mensch? Wann und in welchem Kontext kann ich mir besser in meinem Menschsein vorkommen?
Immer dann wenn ein Maßstab zu meinem Gunsten angelegt wird.
Also… zum Beispiel bin ich ein besserer Mensch als mein Hund. Oder mein Laptop. Ich bin ein besserer Mensch, als ein Skelett. Und so weiter.
Aber wenn ein anderer Mensch neben mir steht… Er ist einer- ich bin einer. Homo Sapiens Sapiens. Beide gleich. Hier verbietet sich jeder Vergleich- jede Wertung ist hier fehl am Platz.

Unsere Existenz ist in jedem Fall gleich- immer. Und unser Sein ist ganz grundsätzlich immer “menschlich”.  Unser Verhalten kann schwanken, unsere Empfindungen und unsere Werte ebenso- aber sie alle können nur so weit schwanken wie es unser Sein- das Menschsein- zulässt. Wir Menschen können uns noch so sehr verhalten wie die Tiere- wir werden nie aufhören ein Mensch zu sein. Und wir werden im Vergleich der Tierischkeit immer abstinken gegen echte Tiere.

In der Philosophie des Humanismus geht man soweit, dass man davon ausgeht, dass Menschen in ihrer Menschlichkeit einen Rang erreichen könnten. So seien es „Taten der Güte”  (Nächstenliebe, Barmherzigkeit, Menschenliebe und Mitgefühl) die Menschen zu besseren Menschen machten. Als unmenschlich gilt wem andere Menschen egal in ihrem Sein und Leiden sind. Auch diese Philosophen erzwangen einen Dualismus, obwohl sie doch- gerade sie!- , sich doch mit dem Menschen auseinandersetzten und dies als etwas typisch Menschliches hätten erkennen sollen! Kein Tier macht so was! Und Pflanzen auch nicht.
Kein Mensch ist fähig zu Unmenschlichkeit. Keiner!

Man kann sich verhalten, als wäre man keiner. Man kann so tun, als sei man keiner. Aber grundsätzlich ist jeder Mensch menschlich.

Und egal was ein Mensch sagt, ob er sich überheblich darstellt, oder arrogant ausdrückt; ob er sich egoistisch verhält, raffgierig, unbarmherzig, sadistisch oder offen brutal; ob er mordet oder unglaublich viele Kinder zeugt; ob er Tiere oder andere Menschen quält oder liebevollen Respekt, Menschenliebe und Solidarität lebt… er ist immer “Mensch”.
Jeder Mensch ist immer der bestmögliche Mensch.

Ich pfeife darauf, ein besserer Mensch sein zu wollen- bin aber unglaublich verletzt wenn mir jemand unterstellt, ich würde mich als ein “besserer Mensch” aufgrund einer Meinung, meiner Fähigkeiten oder meiner Taten betrachten.

Der Punkt an dem ich es mir (uns) erlaubte, mich als Mensch überhaupt anzunehmen und so mir selbst zu erlauben, dass ich einen Platz in der menschlichen Großgesamtheit einnehme, war der größte Frevel, der mutig brutalste Schritt zur Heilung, den wir bisher genommen haben.
Ich bin zutiefst dankbar dafür, dass wir uns inzwischen wenigstens das ohne Wertedualismus und ohne Tausch im Innen zugestehen können.

Ich bin froh, dass ich unter meine Avatarbeschreibung schreiben kann: “Ich bin ein Mensch”.
Denn für mich galt das lange nicht.
Ich sah mich in meinem Sein wie ein grundlegend schlechtes DING. Ein Es. Ein Objekt. Es wollte mir nicht in den Kopf, dass Menschen eben auch absolut brutal, empathielos und sadistisch gegenüber Menschen sein können. Dass man, um solche Qualen zu erleben, kein Objekt für andere sein muss.

Indem ich meine Gefühle und Gedanken als die eines Menschen annahm, nahm ich auch alles unmenschliche Verhalten von mir und anderen Menschen an. Und als ich das tat, wurde mir eine Wertung und damit eine stetige Quelle von Verletzungen gleichgültig.

Man kann jede Biologisierung für menschliches Verhalten ablehnen, weil sie Dinge ausschließt, die wichtig sind. In Punkto Menschlichkeit aber, sollte sie ganz dringend wieder Einzug finden und getrennt werden von sozialbezüglichen Wertigkeiten.

Alles andere ist die Abwertung der Grundlage unseres Seins als Menschen in dieser Welt.
Wir sind in der Lage auch wertschätzend und liebevoll, rücksichtsvoll und nächstenlieb miteinander umzugehen, ohne besser oder schlechter zu gelten oder gelten zu wollen.