Tag mit Zahnschmerzen

Plätschern„Ich glaub, die Kariusse und Baktusse graben einen Tunnel aus ihrem Zahnhaus raus.“, sie sitzt im Schlafanzug in der Höhle, streichelt NakNak* über den Kopf und spricht ins Telefon.
Sie erzählt der Gemögten die Geschichte von dem Bullergeddo, das Karius und Baktus, wie dereinst die Siedler von Catan, in unserem Mund errichtet haben. „Mit Spielplätzen und Gärten, wo Gemüse wächst für die ganzen Kinder auch noch!“.

Übertreiben kann sie. Ihre Vermeidungstänze sind immer so besonders kreativ aufgebläht. Haarscharf an der Grenze zwischen ehrlich und tonnenschwer aufgelockert weg, von dem was ist.

Zahnschmerz ist ein Schmerz am Kopfinneren. Einer, der nicht von Schonhaltung oder Anpassungsverhalten weggeht.
Das ist ein Schmerz, der uns mit Leichtigkeit in Ohnmachtsgefühle schmeißt und dort auch hält, bis er weg ist.
Aber Ideen sähen und Welten pflücken kann sie noch.

„Konntet ihr ein bisschen schlafen letzte Nacht?“, fragt die Gemögte. Aus meiner Ecke, etwas von ihr entfernt, schaue ich die Kleine fragend an. Sie schüttelt mir den Kopf zu und sagt: „Ich weiß nicht genau.“.
Sie schweigen.

Im Dunkeln hocken Augen und Schreie, die rausquellen, wenn man sie zu lange anguckt.
NakNak*s Herzchen puckert unter der Hand der Kleinen.

Sie will raus. Stößt sich den Kopf. Hat vergessen, dass sie auf einem Auge blind ist. Taumelt kurz gegen den Schmerzschatten, fängt sich kurz vorm Fall und hopst auf einem Bein weiter. „Wie ein Clown“, denke ich. „Das soll so.“, sagt mir ihr ernster Blick.

„Wann geht ihr wieder zur Frau Doktor?“
– „Üüüühmmmmm ich glaub, ich weiß nicht genau aber vielleicht in 2 Stunden?“

Kurze komme ich mir vor wie einer dieser unförmigen Teletubbies, der ein qieksiges „OhOooh!“ in die Kamera quäkt, als mir klar wird, wie lange ich jetzt gerade schon nebenaußer mir herumschwebe, ohne etwas dagegen zu tun.
„Seid ihr schon angezogen?“
„Schon mit NakNak* unten gewesen?“
„Haben schon alle ihre Wachmacher gehabt?“
„Zähne geputzt, Haare gekämmt und Gesicht gewaschen?“

Jetzt prasseln ihre Fragen, überfordern die Kleine und ziehen an mir wie eine Angelschnur. Ich überlege, ob es sinnig ist zur Schmerzprüfung (harrharr) zur Zahnärztin zu gehen und mir vorher die Höchstdosis Ibuprofen in den Kopf zu schmeißen. Es ist erst morgens- der Tag wird sicher sehr lang… Mir fällt die Junkiedenke auf und ich schwanke schon wieder.

„Hey- äh- kannst du mir grad mal bitte sagen, dass ich auch wenn ich heute Abend noch richtig schlimme Schmerzen haben sollte, eine Möglichkeit habe irgendwas dagegen machen zu können?“
Sie sagts. Verspricht mit uns in die Notaufnahme zu fahren, wenn es gar nicht anders geht. Sagt, dass es okay ist. Sagt, dass ich okay bin.

Sagt, dass ich die Hufe schwingen muss, wenn ich nicht zu spät kommen will.
Wir verabschieden uns.
Verabreden uns für den späten Abend.

Ich springe von einem Punkt zum Nächsten. Bin so bewusst wie möglich, bei dem was ich tue. Keine Schmerzen. Nur Handlung. Nicht ohnmächtig.

14 Stunden später bin ich ein Schemen im Schatten der Höhle, der Fetzen des Gesprächs hört und sich fragt, wie der Tag nun abgelaufen ist.
Dieser Ende- Oktober- Tag mit Zahnschmerzen.

Sicherheit* unterm Radar

P1010176„Du musst den Täterkontakt abbrechen und dich anonym halten, sonst bist du nicht sicher.“
Das ist so einer der Sätze, mit denen ich in diesem Bundesland empfangen wurde. In einer „anonymen“ Unterkunft für Jugendliche in Not. Mehrere hundert Kilometer zwischen mir und dem, was noch immer einige Innens „zu Hause“ nennen.
Diese Zeit in der Einrichtung war nicht lang- ich glaube nur 3 Wochen- aber sie hat gereicht, um mich bis heute ziemlich wütend zu machen und immer wieder darüber nachzudenken, wie die Wichtigkeit und Funktionsmechanismen von Schutz durch Anonymität vermittelt werden können.

In meinem Fall hatte sich damals schon niemand an meine Seite gestellt und sich dafür eingesetzt, dass ein Antrag auf Amtshilfe in der neuen Stadt passiert, um mich gänzlich (oder zum Teil) abzulösen.
Stattdessen wurde die ganzen Jahre der Jugend- und später auch Erwachsenen-  Hilfe in schöner Regelmäßigkeit meine Wohnadresse, meine Hilfepläne, so wie sämtliche Aktivitäten an ein Amt geleitet, das immer wieder einen Datenfluss in Täterhände lenkte.
Ich hatte das immer wieder gesagt, hatte es immer wieder als Änderungswunsch angebracht. Im Zuge des Betreuungswechsels dann, versuchte ich es mit juristischen Hebeln, um aus der Sache rauszukommen und scheiterte, weil ich zu schwach war.
Ich hätte mindestens eine Strafanzeige gegen die Täter stellen (Recht bekommen) und dann alles Nötige erwirken lassen müssen.
Aber eine Strafanzeige erstattet sich nicht so einfach. Bis heute nicht.

Das Gemeine für mich- der richtig fiese Haken: meine damalige Therapeutin und alle alle alle Bücher und Tipps für  Menschen mit DIS (und Täterkontakten), die ich damals fand, hackten auf mir als die undichte Stelle im Sicherheitsnetz herum.
Immer wieder wurden dort die inneren Abhängigkeits- , Hörigkeits- , (Todes-) Angstdynamiken thematisiert und verdeutlicht, wie wichtig es ist, die innere Kommunikation so weit aufzubauen, dass sich Innens nicht an die TäterInnen wenden und so weiterhin Gewalt erfahren. Wir haben diese Problematik auch gehabt und mussten daran arbeiten. Was in Bezug auf den Abbruch von Täterkontakten wichtig war, schilderte ich bereits in der Serie „
Täter- Kontakte 1- 5 “ 

Der Punkt meines Ärgers über den Satz in der Einleitung und der Buchinhalte ist, dass das einfach nicht alles war und bis heute ist.
Wir erfahren seit einigen Jahren keine Gewalt mehr- doch befreit von destruktiven Verbindungen sind wir erst, seit wir vor dem Gesetz als „erwachsen“ und damit komplett mündig gelten (Also seit dem 27 sten Geburtstag- dies ein Hinweis an Betroffene mit Schwerbehinderung und darauf fußenden Amtshilfen seit der Jugend).

Die Idee von „es kann mir nichts passieren- ich bin anonym und in Sicherheit“ ist Schwachfug.
Wer wissen will- wer es wirklich wissen und herausfinden will, wie mein Passname ist, wo ich wohne und was sonst noch in Bezug auf mich relevant ist- der wird das auch herausfinden. Wer mir wirklich unbedingt Gewalt antun will, wird das tun können und nichts und niemand wird das verhindern. Aber ich kann es etwas schwieriger machen.

P1010183Das Leben in Anonymität hat für mich viele kleine und große Unsichtbarkeiten und mit ihnen Angstmomente, die völlig unvermittelt kommen können; jeden wie auch immer gearteten Kontakt und auch die Art, wie Kontakte geknüpft werden, beeinflussen.
Die Verluste, die ich mit der Entscheidung zum Leben ohne Gewalt, mit neuem Namen und Dunkelfeld „Vergangenheit“ eben auch „gewählt“ habe, sind unfassbar groß und schmerzhaft.
Ich entfernte nicht nur Destruktivität aus meinem Leben- grenzte mich nicht nur von Gewalt in verschiedenen Gewändern ab. Ich war gezwungen zum Messer zu greifen und mir alles was „vorher“ war abzuschneiden. Das Vorher, das auch viele schöne Momente, tolle Menschen und Möglichkeiten umfasst und mich mit viel mehr Leichtigkeit agieren ließe.

Ich bin gestern via Facebook mal wieder über jemanden aus „dem verbotenen Früher“ gestolpert. Die Folge war nicht: „Ach guck an…“ sondern richtig harte 20 Minuten, in denen ich Tränen aus meinen Augen rausschreien wollte und nicht konnte.
20 Minuten, in denen mir erneut diese Gefühle von emotionaler Zwangsaskese zum Wohle meiner Sicherheit durch die Brust jagten. Erinnerungen an „früher“, alle Wünsche, alle Hoffnungen, alles was ich damals … hätte würde wäre wenn

Mein Heute umfasst eine Achtsamkeit und Vorsicht auf allen Ebenen durch mich selbst, aber auch eine Abhängigkeit von Verbundenheitsgefühlen und gut kommunizierten Beziehungen zu den Menschen, die mich umgeben.
Ich kann noch so oft verschweigen, wo ich eigentlich herkomme; wie mein Passname lautet; darauf verzichten meinen supertollen Hund im Internet zu zeigen oder wie ge-ni-al ich meine Haare frisiert habe. Ich kann noch so oft meine Hand abhacken, wenn sie ins Früher telefonieren will, um dort wieder einzuziehen. Ich kann noch so oft ins Facebook schauen und denken: „Ach dieser Mensch hat mir ja nichts getan- ich könnte…“ und dann doch hart bleiben.
Sobald auch nur eine meiner Gemögten, HelferInnen und Verbündeten oder irgendjemand außerhalb meines Kontrollbereichs mich als diejenige welche mit Passnamen XY im Kontext von AB in Stadt CD outet, ist es vorbei.

Alles was ich tun kann ist in einem Heute zu leben, das kein breit bekanntes Früher hat.

Ich muss mich darum bemühen meine Kontakte auf eine Art zu pflegen, die entweder davon geprägt ist, dass diverse Informationen nie Thema werden bzw. „einfach so unbemerkt in ihrem Fehlen sind“ oder bekannt sind mit einem Mit-Verantwortungsbündel obendrauf, das nicht jeder Mensch tragen kann (und/ oder will).
Keine meiner Gemögten weiß alles über mich und die Tatsache, dass sie es auch nicht zu wissen einfordern, entlastet und schützt mich sehr.
Für die Beziehung, die wir haben sind weitere Informationen nicht wichtig- sie wissen aber alle von den Netzen, in denen wir uns bewegen. Sollte mir etwas passieren, wäre niemand von ihnen allein und direkt mitbedroht.
Das Nichtwissen schützt sie also- solange sie nicht-wissen „dürfen“.

Im Falle der Facebookverbindung musste ich so scheißverdammt mutig sein, wie ich es eigentlich gar nicht war in dem Moment. Ich musste fragen: „Kennst du diesen Menschen persönlich?“

Weiß der Mensch, dass wir uns kennen? Muss ich dich jetzt auch aus meinem Leben streichen, obwohl ich dich toll finde und es mir weh täte? Muss ich schon wieder umziehen und alle meine Hilfsnetze umkrempeln, weil du weißt, wo ich wohne?

Ich musste meine Gemögte irritieren, ihr etwas abverlangen, was sie genauso einfach hätte ablehnen wie annehmen können.
Ich musste sie ins Vertrauen- in meine Scheiße ziehen und konnte nichts weiter tun, als zu hoffen, dass sie vollständig begreift, was ich da sage- die ganze Tragweite sieht, ohne davon erdrückt zu werden.
Ich muss ihr vertrauen diese Schwere zu tragen- nicht nur jetzt, sondern noch eine ganze Weile länger, weil für mich etwas daran hängt.
Ich musste sie wissen lassen- sichtbar(er) werden für sie und hoffen, dass sie diese Sichtbarkeit mit mir vor anderen Menschen unsichtbar hält.


Es klingt immer so einfach: Täterkontakt beenden, neuer Name, neue Adresse, Traumatherapie und fertig.
Im Falle organisierter Gewalt ist es damit einfach nicht getan.
Diese Dinge hängen alle an Privilegien- an Sicherheiten, die extrem instabil sind und von nichts und niemandem bedingungslos und durchgängig gewährt werden. Die Realität nach Ausstieg und in Anonymität wird damit nicht gestreift.

Damit ich direkte Gewaltkontakte beenden konnte, brauchte ich eine starke Gemögte, die mich halten und tragen konnte- die an meiner Seite stand und sich selbst in dieser Zeit total zurückstellte- ohne irgendetwas dafür zu verlangen.
Um meinen Passnamen zu verändern muss ich (neben finanziellen Ressourcen) auch darauf hoffen, dass ich in meinem Leben als Opfer von organisierter Gewalt anerkannt werde, auch ohne eine Strafanzeige zu stellen.
Um anonym zu wohnen muss ich mich darauf verlassen, dass sämtliche Ämter und Behörden meine Rechtsanwältin als meine Fürsprecherin akzeptieren und sämtlicher Informationsfluss über ihre Kanzlei läuft- was nicht selbstverständlich ist.
Um meine Geschichte traumatherapeutisch auf- und verarbeiten zu können, hilft nur hoffen und beten, dass ich in meiner Therapeutin einen Menschen habe, der mutig genug ist, mit mir gegen die Krankenkasse vorzugehen und zu kämpfen um für seine Arbeit auch bezahlt zu werden, wenn diese anfängt ihre Richtlinien zu Gesetzen wachsen zu lassen und mir die Behandlung verwehrt.

Unterm Radar zu fliegen heißt „nicht gleich sichtbar und damit geschützt vor suchenden Blicken zu sein“.
Heißt aber auch, dass jede Untiefe der Berg sein kann, an dem ein Leben zerschellt.
Es heißt sich mehr als fünfmal seiner Unsichtbarkeit zu versichern.
Es heißt unsichtbar zu trauern.
Es heißt Sichtbarkeit als ein Privileg einzuordnen, das genauso instabil ist, wie alles andere.

Es heißt, dass eine Ebene der Angst auch dann noch da ist, wenn „eigentlich“ alles* „gut“ und sicher* ist.
Es heißt, dass nichts sicher ist.
Es heißt, dass die Begrifflichkeit der Sicherheit* ein Sternchen braucht, um die Fragilität und Vielschichtigkeit zu markieren, die sie für mich hat.

abnorme Achsen

Heute morgen rief meine Therapeutin an, um sich zu vergewissern, dass wir ihr die richtige Klinik genannt hatten, in der wir so lange waren und deren Bericht auch als, ich glaube, fast einziger einen umfassenden Abriss der Biographie und Krankengeschichte enthält.

Ich sagte ja und begann meine Unterlagen noch einmal durchzuschauen, ob ich nicht doch auch eine Kopie davon besaß. Ich weiß, ich hatte mal eine. Aber das Ganze ist jetzt 9 Jahre her. Wer weiß, ob nicht doch die erste Einrichtung, die uns gar nicht schnell genug loswerden konnte und nicht wieder zurückwollte, jede Menge unserer Sachen weggeschmissen hatte.
Oder, vielleicht ist er auch in dieser furchtbaren Klinik, in sie uns abschoben, verschwunden. Oder in der Wohngruppe. Oder ich habe ihn der ersten ambulanten Therapeutin gegeben. Oder in der Klinik abgegeben. Oder der Psychiaterin. Oder… vielleicht brütet er in irgendeinem Ordner vor sich hin, wie der Bericht, den ich dann heute wiederfand.

Er enthielt keinen biographischen Abriss, war nicht an eine behandelnde Instanz gerichtet, sondern an ein Amt.
Es ist eine Aufzählung meiner Defizite.
Eine Sichtbarmachung der „abnormen Achsen“.

Ich rief die Therapeutin an und… naja, eigentlich könnte hier jetzt gut stehen, dass ich darum bettelte dieses Ding nicht, wie einen heißen Stein, bei mir tragen zu müssen, bis wir uns morgen sehen. Eventuell vielleicht auch nicht, denn schon wieder wurde das Haus, in dem die Praxis ist, eingerüstet.
Ich sagte, ich fühlte mich angeditscht. Ich hätte eigentlich auch zugeben können, dass mir der Hulk die Faust in den Bauch gehauen hat.

Nicht, weil ich die Klinik furchtbar fand.
Sondern, weil mir heute zum ersten Mal klar wurde, was da eigentlich steht.

Da steht nicht: „Ach keine Bange- in 10 Jahren wird sie mehr schaffen als heute.“
Da steht: „Diese 17 Jährige ist tiefgreifend gestört, kaputt, dysfunktional auf vielen Ebenen, traumatisiert.“.

Ich weiß noch, dass mir damals das Gefühl von Unzulänglichkeit, vielleicht auch Unnormalität – Abgestoßenennormierung sehr nah war. So nah, dass ich oft diese Art kitschig aufdrängender Pseudogedichte schrieb. So etwas wie:
„Wieso ist mein Normal so unnormal für dich?
Wieso ist dein Biest mein Spiegelbild?“
mit Zeilen über mehrere Seiten.
Klar, ich saß permanent in irgendwelchen Kliniken oder Gruppen, wo man sich mehr über mich erschreckte, wenn ich etwas anderes tat, als die Milliardste Runde Phase 10 zu spielen oder eben eine dieser Pseudoblüten der Literatur zu verfassen.

Aber ich konnte nie genau sagen, was es ausgemacht hat.
Vielleicht das Gruppe sein. Das die Gruppe der Bekloppten, der Irren, der Auf-Ver-Abgestoßenen, der Ungebetenen zu sein… obwohl nein, das war normal. Es war ja eine Gruppe- eine Gruppe stellt die Norm. Eine Andere, als die der Menschen, die uns nicht haben wollten. Dies allein aber hatte mir nicht das Gefühl einer Unzulänglichkeit gegeben.
Ich hatte nicht das Gefühl, dass jemand in mir abnorme Achsen sah. Oder Defizite.
Oder ich wollte es nicht sehen.

Vermutlich wollte ich es nicht sehen. Wer weiß, ob ich die anderthalb Jahre in der Klinik so hätte nutzen können, wie ich es tat, wenn mir die ganze Zeit über klar gewesen wäre, was für ein Objekt der wissenschaftlich- psychologischen Neugier- was für ein Fall, dessen A-Normalität als Reaktion auf eine krankmachende Realität, irgendwie vage doch völlig normal erscheint und doch im letzten Schlenker der Definitionsmacht gänzlich unnormal benannt wird…,  ich vielleicht doch auch darstellte. Neben all der Normalität, die in mir drin ist und dort auch eben zu sehen, hören und spüren war.

Die Therapeutin sagte, es sei okay den Bericht direkt heute bei ihr vorbeizubringen.
Ich war froh, dass ich mich nicht in Erwachsensein üben und das jetzt aushalten musste, dieses schmerzende Zetteldings so bewusst zu haben und zu wissen, dass es da und bei mir ist. Anklagend vom Turm herunterdonnernd auf mich einbrüllend: Du unzulänglich defizitär- abnormes Ding!

Und dann stieg der Wegegänger zwei Stationen früher als sonst aus. Ich weiß nicht was ihn dazu getrieben hat. Ich verstehe ihn ja meistens nicht. Wir liefen fast den gleichen Weg, wie wir ihn mit der Kliniktherapeutin, die diesen schweren Papierklotz in meinem Rucksack geschrieben hatte, gegangen waren, bevor wir hier her zogen.

Ich versuchte mich zu erinnern, ob es damals auch geregnet hatte. Ich weiß nicht einmal mehr, welche Jahreszeit wir da hatten. Winter? Frühling? Ich weiß nicht einmal mehr wirklich, wie sie aussieht. Ich ertappte mich dabei wie ich dachte: „Ach- in 9 Jahren wird sie sicher einen wundervollen Wust weißer Haare bekommen haben und sitzt nun glücklich und zufrieden…“
Ja, es hätte auch ein Gong oder eines dieser Domgeläute sein können, dass mir den Kopf berührte.

9 Jahre. Und ich empfinde so eine Momentaufnahme von damals in Form eines Berichtes, als aktuell schmerzhaft?!
Suche immer noch den ultimativen Beweis für mein nichtreichen, mein nichtgutgenug, mein puttgehtnichtheilezumachen, mein letztes Quäntchen zur Legitimation meiner Selbstentsorgung?
Es hat sich doch soviel verändert, warum kann ich es nicht sein lassen?

Ist dies allein am Ende meine abnorme Achse? Einfach nicht glauben zu können, dass es nichts Abnormes an mir gibt, was meine Selbstzerstörung legitimiert?
Vielleicht ist es damals schon mit aufgelistet gewesen. Vielleicht gibt es dafür auch keine Bezeichnung außer „Selbsthass“. Vielleicht ist es alles der absolute Bullshit. Vielleicht hat sich in 9 Jahren bei mir eigentlich nichts verändert. Die meisten Dinge, die man dem Leben übergibt und von sich stößt, kommen in einer Maskerade wieder zurück. Oder in einer anderen Form. Manchmal kann man sie so versteckt oder in neuer Form leichter annehmen und verändern, als vorher.

Vielleicht ist der Bericht etwas, dass ich genau so brauchte, wie er war. Ich habe ihn in den Briefkasten meiner Therapeutin geschmissen und mich vom Wegegänger tragen lassen. Ich spüre ihn heute, während er damals einfach nur Löcher in meine Stadtbilder fraß. Ich spürte den Regen, die Kälte, die Schwere der Kleidung. Ich bewegte mich in der Stadt, die wir zuerst mit der Kliniktherapeutin zusammen betreten hatten. Alles das beachtete ich bewusster als sonst. Noch aktiver, vielleicht lauernder, als vor dem Moment, in dem ich den Bericht las.

Während einem Moment, in dem der Regen auf das Gesicht platschte, dachte ich: „Hauptsache da sind Achsen. Eigentlich ist es egal, für wen da was normal oder abnormal ist. Es ist fast 10 Jahre her. Für mich ist es normal, wie es ist.“.

ein paar behinderte Gedanken zu Menschen mit Behinderungen und Behinderungen an sich

Morgen haben wir einen Termin in der Abendschule.
Es geht darum sich vorzustellen, seine Bewerbung, seine letzten Zeugnisse und Unterlagen zur Person abzugeben. Es wird darum gehen zu schauen, ob wir dort sein können, was wir für Unterstützung bekommen können, was für Anforderungen gestellt werden.
Ich bin schon angekritzt darüber, nicht einfach nur meine Unterlagen dorthin schicken zu können und dann nur noch auf einen Anmeldebestätigung warten zu müssen.
Aber wir fallen aus den Aufnahmekriterien heraus, also bleibt uns keine andere Wahl.
Voraussetzung ist eine abgeschlossene Berufsausbildung und 2 Jahre Arbeit, sowie Arbeit oder ein zu versorgendes Familienmitglied nebenbei.
Tja, damit können wir leider nicht dienen- und wenn wir es könnten, würden wir uns sicher nicht noch mal 3 Jahre Abendschule geben.

Ich fand mich richtig gut in dem Telefonat mit der Sekretärin. Ich war sachlich, logisch und nicht defensiv.
Ich sagte, ich hätte gerne einen Termin mit dem Schulleiter, um abzuklären ob und wenn ja was für Möglichkeiten es für mich gibt, auch mit meiner Schwerbehinderung (Bumms! Ich habe das Wort gesagt!) teilnehmen zu können und wie die Lage in Bezug auf Unterstützung von Seiten der Schule aussieht.
Die Sekretärin gab mir einen Termin und stellte dann die Preisfrage: „Darf ich Sie fragen- sitzen Sie im Rollstuhl?“. Ich antwortete, das sie mich natürlich fragen darf und, dass ich nicht im Rollstuhl sitze.
(Btw: Was ist das bitte für eine Sprachführung?! Den Rest des Tages fragte ich mich, ob sie mich nur fragen wollte, ob ich einen Rollstuhl benutze oder, ob sie mich fragen wollte, mich etwas zu fragen zu dürfen und dann die Frage nach der Behinderung stellte, und ob ich nun richtig reagiert hatte oder nicht.)

Es ist eine kleine Episode. Total normal und nicht schlimm.
Aber wieder kreiseln in meinem Kopf viele Gedanken wüst hin und her.
Da ist zum Beispiel der Gedanke zum „Standartbehinderten“ in der breiten Masse.
Ich bin mir nicht sicher, aber viele Menschen auf die ich so treffe, oder gerade so in Bezug auf normierende Bürokratie, wie jetzt zum Beispiel in der Verwaltung der Schule, scheint es die Verknüpfung: Schwerbehinderung= das Plakat von „Aktion Mensch“ zu geben.
Schwerbehinderung, das heißt, Rollstuhl, Blindenführhund, Gebärdensprache, eine futuristische Prothese oder die spezifische Physiognomik von Menschen mit Down-Syndrom. Schwerbehinderung das heißt: „Himmel wie kommt der Mensch bloß klar?! Der muss ja total viele Sachen im Alltag anders machen. Der braucht ja richtig viel Hilfe, weil er was nicht kann, was sein Körper (und hier biologistisch eingeflochten der „Geist“ wie der derzeit einzig ausmessbare Intellekt falsch benannt wird bei „geistiger Behinderung“) ihm verweigert.“
Schwerbehinderung heißt auch: „Boa guck mal, was der Mensch TROTZDEM (nicht etwa MIT) kann.“ Heißt auch: Aussagen von den betreffenden Menschen „Ich leide nicht unter meiner Behinderung- ich leide darunter, wie meine Umwelt mit mir umgeht.“. Heißt immer und immer und immer: anders als „DIE ANDEREN“.

Nun ist es so, dass man, wenn man länger als 6 Monate an der gleichen Sache erkrankt ist, als chronisch krank gilt. Und damit ebenso als schwerbehindert.
Und Peng!- steht man vor einer Gruppe von Menschen mit Behinderungen die sogar „anders als die anderen Schwerbehinderten“ ist.
So wie ich.

Für mich ist es eine Bombenhürde zu diesem Termin zu gehen. So bombig, dass ich den Termin höchstwahrscheinlich nicht einmal erinnere. Der Besuch der Schule ist für ich eine Ansammlung von Barrieren, die nicht weggeräumt werden können (und um Himmels Willen auch nicht sollen), um mir den Zugang zu erleichtern. An mein reflexhaftes Umschalten auf Todesangst und in der Folge anpassendes Dissoziieren, kann man weder Rampe, noch Bildtafel, noch Audiomitteilung, noch leichte Sprache dran stellen, um sie (wenigstens in Teilen) zu kompensieren. Ich kompensiere ja selbst bereits in der Situation und breche erst nach einer Überbeanspruchung dieser Fähigkeit zusammen und werde handlungsunfähig. Erst dann kann ich Unterstützung erhalten.
Ich kann sehr gut verstehen, warum es dann schwer fällt, mich als „jemand mit grünem Ausweis“ wahrzunehmen. Wir turnen in der Schule rum, sind produktiv, motiviert, engagiert, geistig fit, aktiv und zuverlässig… bis ich vielleicht das Pech habe, von einem Lehrer in zwei Fächern gleichzeitig unterrichtet zu werden. Bis Mitschüler versuchen außerhalb des Unterrichtes mit mir Kontakt zu haben. Bis es eine Hausarbeit oder ein Projekt über einen Zeitraum wie die Ferien gibt. Bis es außerhalb des Schulkontextes eine so schwere Krise gibt, dass die Somatik sogar bei den Schulgängern ankommt. Also bis zu ziemlich genau dem Zeitpunkt in dem unser Kompensationsmodus zur Kompensation des Gesamtzustandes werden muss.
Es ist gut, wenn ich zum Beispiel jetzt in der Schule einen Menschen habe, dem ich das so erkläre und mit dem ich Absprachen treffe, die mich davor bewahren, mich vor Lehrkräften auch noch erklären zu müssen oder indem sie mich nicht rausschmeißen, weil ich dauernd fehle, mir den Stoff nach Hause bringen oder ein Pauschalattest für Fehlzeiten akzeptieren und mir Gelegenheit geben Tests nachzuholen.
Doch mit der Kompensation der Behinderung selbst bleibe ich auf eine Art allein, die unsichtbar und der als Krankheit bezeichnete Zustand ist. Man sieht sie von außen nicht, man merkt sie mir nur an, wenn man drauf achtet und sogar ich selbst kann dies erst formulieren, wenn ich nicht mehr mehr genau dort in der Schule sitze, sondern hier bei mir zu Hause. Dann nämlich, wenn ich hier sitze und halbgeist-kopfig Hausaufgaben zu erledigen versuche, die ich nicht verstehe und einen Tag nachzuvollziehen versuche, den ich nicht gelebt habe.

Ich könnte nun auch sagen: „Ja ich leide ja nicht unter meiner Behinderung- meine Umwelt geht nur falsch mit mir um“. Das stimmt ja aber nicht. Meine Umwelt geht total richtig und entsprechend mit meinem Verhalten und Wirken mit mir um. Was kann denn meine Umwelt dafür, wenn mein Gehirn nicht für diese Normalität ausgerüstet ist und mein Verhalten und Wirken eben nicht mit MIR(in jedem meiner Zustände) zusammen passiert?
Meine Umwelt hat gar keine andere Chance als für mich unpassend zu sein und ich bin dankbar dafür. Doch das ist etwas das konträr zur stetigen Forderung steht, Barrieren für Menschen mit Behinderung abzuschaffen. Meine Barriere bin in erster Linie mein Erleben meiner selbst (und meiner Umwelt) und erst dann die ungünstigen Normen und Bestimmungen außen.
Wir könnten ja auch das Abitur im Fernlehrgang machen. Ich bin aber abhängig davon in diesen „Schulgängerzustand“ zu geraten, um Zugriff auf das Schulwissen der Abendrealschule und der Schulen zu erhalten. Ich bin also abhängig davon „unter meiner Behinderung zu leiden“, weil ich sonst gar nicht erst die Chance auf Bildung und damit dann später vielleicht ein Studium und noch später vielleicht einen Beruf und damit dann endlich Unabhängigkeit habe.P5310032

Ich stelle mir viele Fragen rund um die Themen der Menschen mit Behinderung und fühle mich dabei behindert.
Da sind die Normen der Leistungsgesellschaft und da die Kritik und die Änderungswünsche derer, die ihnen nicht entsprechen können.
Da ist der Nutzen von pränataler Diagnostik und da die 95% der Fälle von Abtreibung der Föten mit nachgewiesener Wuchsrichtung jenseits der Norm.
Da ist der Ruf nach Inklusion und da das Unterstreichen (müssen) von Andersartigkeit.
Da ist das Leiden und da die Verneinung eines solchen.
Da ist das Versprechen mehr für Menschen mit Behinderung zu tun und da die Förderung von Werkstätten in denen des schlechte Bezahlung und keine Aufstiegschancen gibt.
Da gibt es die Entwicklung von bionischen Prothesen und da die strukturelle Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen, die dafür sorgt, dass sie nie genug Geld für genau diese Prothesen haben werden.
Da gibt es den Beruf des Inklusionshelfers und da aber die Ablehnung von Bewerbern darauf, die selbst einen grünen Ausweis haben. (Boa! Ich hab mich so so so sehr darüber geärgert!)

Manchmal bin ich froh darum, dass wir mit vielen Menschen „anderer Wuchsrichtung“ zusammen gelebt und mit ihnen zusammen gearbeitet haben. Auch wenn wir natürlich keine globale Ahnung von ihrer Lebensrealität haben, haben wir so doch das Bewusstsein, dass die Menschen mit Behinderungen sind- nicht „Behinderte“.
Doch komme ich nicht umhin mich doch noch anders zu fühlen.
Ich bin bis jetzt die einzige Multiple, die ich kenne, die sich diese Störung als Schwerbehinderung hat anerkennen lassen.
Ich hätte es auch anders machen können. Aber in einem Anflug von politischem Trotz war es wichtig für uns gewesen, zu unterstreichen, dass die erlebte Gewalt so schwer war, dass die Folgen heute uns so sehr beeinträchtigen, wie das Fehlen einer körperlichen Fähigkeit.

Es war gut und richtig das zu tun. Wir lassen uns in der Hinsicht nichts anderes mehr sagen, weil es für uns bedeutet hätte, wieder etwas unsichtbar zu machen, wenn wir das nicht getan hätten.
Aber es war auch das Übernehmen einer Aufgabe, die ich mit allen Menschen mit Behinderung teile: Das Eingestehen und Vermitteln meiner (hochprivaten) Probleme an Menschen die genau dieses oben benannte Bewusstsein nicht unbedingt auch haben.
Eine Aufgabe, an der ich, als Innen in diesem Einsmensch hier, genau wegen dieser Probleme scheitern werde.