man muss nicht glauben, um zu helfen

Ich bin vorhin über die Türschwelle zum Multiland im Internet gestolpert und mitten in eine Welt geplumpst, in der mein Risiko an Hirndiabetis zu erkranken um Faktor 100 erhöht wurde.

Die versierten SucherInnen werden sie kennen, diese Seiten auf denen über Multiple „aufgeklärt“ wird. Jaja, ich  meine die, mit den wackelnden Gifs von weinenden Engeln, den Webringfackeln und den verniedlichenden Begriffen.
Ich sehe die Bildchen und denke: Kitsch. Sehe „Webring“ und denke: Angst vor der Offline-Welt. Lese so Dinge wie: „Innie“, „Multi“, „Darki“ und denke an Vermittlungsseiten von Tierheimhunden.

Da ist erst mal keine Wertung drin (auch wenn meine Assoziation dazu im Allgemeinen negativ konnotiert werden). Ich versuche trotzdem die Seiten zu lesen und würdige, die Arbeit die dahinter steht. Der Wunsch der Auseinandersetzung mit dem Thema, ist bei mir ja auch vorhanden.
Aber ich versuche mich in LeserInnen hineinzuversetzen, die selbst keine DIS haben und aus einem bestimmten Grund Informationen zum Thema gesucht haben und in Folge dessen schlage ich vor solche Seiten die Hände überm Kopf zusammen.
Wenn ich so eine Seite durch habe, glaube ich selber nicht mehr an dissoziative Identitäten oder satanistische Kulte und das finde ich schlimm.

Schlimm deshalb, weil ich noch immer von HelferInnen und Hilfseinrichtungen höre, die „nicht an „solche Sachen“ glauben“. In den letzten Nebensatz hätte ich noch viel mehr Gänsefüße setzen müssen.
Vielleicht so: nicht an „solche“ „Sachen“ „glauben“.

„solche“? Welche?
„Sachen“? Welche Objekte -tote Gegenstände- werden im Zusammenhang mit DIS und destruktiven Kulten benannt?
„glauben“ Wer verlangt Glauben, wenn es die Ratio ist, die angesprochen wird?

Wir sprechen von einer Dynamik der Macht und Ohnmacht, der Gewalt und des Überlebens, wenn wir von Menschen in destruktiven Gruppierungen sprechen. Etwas, woran man nicht glauben muss, um zu wissen, dass es das gibt, weil wir alle Ähnliches in anderen Rahmen gleichsam erleben. Stichwort Bürokratie, Kapitalismus, Rassismus… der Weihnachtsmann.
In allen Zusammenhängen wird uns eine Struktur aufgedrückt, die die Welt oder Aspekte in ihr erklärt und definiert. Es liegt bei uns, ob wir danach leben wollen oder nicht.
Kinder glauben nicht an den Weihnachtsmann- sie glauben, daran, dass ihre Eltern ihnen die Wahrheit sagen, wenn sie ihnen erzählen, dass er die Geschenke unter den Baum legt. Sie hören auf es zu glauben, wenn sie so reif und frei sind, ihre Eltern zu hinterfragen oder beim Geschenkekauf „erwischen“ oder oder oder

Ja, ich habe wenig Verständnis dafür, wenn mir erwachsene HelferInnen erzählen wollen, dass sie nicht an (rituelle Gewalt in) destruktive(n) Kulte(n) glauben, weil ihnen das so entfernt vorkommt. Oder sie sich das einfach nicht vorstellen können.
Liebe HelferInnen:
Niemand verlangt eine genaue Vorstellung der Gewalt- bitte- schützen sie ihr Gehirn vor solchen Bildern! Sie werden falsch sein, weil Sie sie nicht erfahren haben.
Transponieren sie einfach nur die Fakten: Da ist ein Mensch, der viel Einfluss auf andere Menschen ausübt, in dem er ihnen die Welt definiert und ihnen ihre Identität abspricht. Sie zur Nummer macht, ihnen biologische, soziale, psychische Andersartigkeit zuschreibt und dies in eine Struktur einbettet. Einfach, weil er es kann und will.Vielleicht eigene Bedürfnisse befriedigt, in dem er die Grundbedürfnisse anderer Menschen ausbeutet.
Fertig. Da haben sie, was sie nicht glauben wollen.
Sie erfahren, das Gleiche jeden Tag. Nein?
Wie viele Nummern sind sie? Steuernummer, Versicherungsnummer, Kundennummer…
Wie viele Begriffe gibts für sie? Das N- Wort? Das Wort, dass ihr berufliches Wirken bezeichnet? Ihre Diagnose(n)? Das Wort, das ihren Familienstatus benennt?
Es ist das Gleiche. Das gleiche Muster, der gleiche Einfluss auf das, wer sie sind und was sie an Macht dadurch zugesprochen oder aberkannt bekommen.

Nur die Gewalt und die geistige Auslegung ist anders.
Bei ritueller/ ritualisierter Gewalt in destruktiven Gruppierungen, hat man es mit einem globalen Angriff auf die Menschen zu tun. Sie werden auf allen Ebenen verletzt, die es gibt. Auf der körperlichen, sozialen, psychischen, ökonomischen und der spirituellen Ebene. (Etwas, das ein religiös fanatischer Partner übrigens auch kann! Üben wir doch gleich mal das Transponieren…)

Oft höre ich Zweifel darüber, wie „das denn alles möglich sein soll“, „wie „sowas“ denn unbemerkt bleiben kann, von Außenstehenden, der Polizei usw.“ oder auch das vielgebrachte Argument der Zweifler: „Es müsste zig Leichen geben…“.

Es ist einfach etwas monströs „Schlechtes“ zu tun oder völlig legal zu planen.
Achtung Transponierungsalarm: „Prism“, Wasserprivatisierung, gentechnisch verändertes Saatgut, Steueroasen, das Brechen des Willens von Menschen in geschlossenen Einrichtungen, sexuelle Misshandlung in Kirchen und anderen Einrichtungen… soll ich weiter machen?

Menschen suchen Erklärungen und nehmen nur allzu oft unhinterfragt alles an, was ihnen geboten wird, wenn es etwas ist, das für sie greifbar (transponierbar) ist.
Wenn ich Verletzungen hatte und von jemandem darauf angesprochen wurde, sagte ich etwas von Unfällen, von einer Prügelei oder Selbstverletzung. Die meisten Menschen, haben mir geglaubt und nie wieder nachgefragt.
Und die Menschen, die nachgefragt haben, haben es spätestens nach Kenntnis der Wahrheit bereut. Nicht, weil die Wahrheit so schrecklich war, sondern, weil ihnen klar wurde, wie sehr an ihnen gezweifelt werden würde, würden sie dies mit anderen Menschen teilen. Ihnen wurde klar, was für einen Aufwand sie betreiben müssen, um mit jemandem darüber zu sprechen, ohne wegen der Annahme meiner Geschichte belächelt, angezweifelt oder offen verhöhnt zu werden.

Dazu kam, dass ich selbst nur gegenüber jenen die Wahrheit sagte, von denen ich annahm, einen Schutz vor der Strafe, die ich von der Gruppierung zu erwarten hatte, erhalten zu können.
Ich gehörte jemandem, der mir ein Schweigen und den absoluten Gehorsam aufgezwungen hatte. So wie allen anderen Menschen, die involviert waren, auch.

Wer schweigt, sagt nichts. Wer schweigen muss, um am Leben zu bleiben, erst Recht.
Spuren zu verwischen ist nicht besonders schwer. Was bereits für nur wenige Menschen sichtbar ist, kann leicht auch gänzlich schwinden gemacht werden.
Das kennt doch jeder, der mal unbeobachtet Äpfel geklaut hat. Schnell aufessen und niemand wird je davon erfahren.

Ich verstehe, dass unfassbar schlimme Gewalt unfassbar im Sinne von unbegreiflich ist.
Und ich verstehe, dass die Folgen, die vor allem in den Überlebenden absolut subjektive Muster entstehen lassen, nie übertragbar sind. Eine Objektivierung dessen, wird immer etwas übrig lassen, was Zweifel aufgrund von Unvergleichlichkeit mit der eigenen Wahrnehmung stehen lässt.
Doch die Folgen im Betroffenen selbst gänzlich verstehen zu wollen ist nicht nötig, wenn man sich mit der Ursache befassen muss oder will.

Das ist mein Kritikpunkt.
Wenn eine Website dafür sorgen will, destruktive Kulte und Sekten zu erklären, dann reicht ein kurzer Hinweis auf die Folgen. Wenn eine Website über die Folgen allein aufklären will, ist es nicht förderlich über die Ursachen (in diesem Fall die explizite Darstellung der Gewalt) zu schreiben.
Das Eine bedingt das Andere, natürlich. (Und will man die Gesamtdynamik erklären, dann lohnt eine Darstellung beider Seiten) Doch das Eine ist vielfältig übertragbar- das Andere nicht.
Das Eine, hat das Potenzial einen weiteren Überlebenden (Betroffenen) zu produzieren. Stichwort: PTBS-Symptome bei HelferInnen von traumatisierten Menschen.
Das Andere könnte zum Tod des Überlebenden führen bzw. dafür sorgen, dass weitere Menschen in die Gruppierung eingebracht werden oder außerhalb dessen Gewalt erfahren.

HelferInnen oder auch Menschen, die mit der Betreuung von Menschen mit diesem Hintergrund, beauftragt sind, haben nicht die Pflicht, an den Hintergrund zu glauben. Sie müssen nicht davon überzeugt sein, all die Gewalt als „echt“ einzustufen.
Doch sie sind definitiv dazu verpflichtet, ihren Klienten mit allen Problemen, die ihm durch die Folgen der Gewalt entstanden sind, als „echt“ anzunehmen und sie zu unterstützen, diese zu lösen oder mit ihnen ein Leben zu führen, das sie mindestens nicht umbringt. Um dies „gut“ zu tun und schwerwiegende Fehler zu vermeiden, ist eine Kenntnis über den Hintergrund hilfreich- keine Frage. Aber das Leiden und die Probleme, liegen in den Schwierigkeiten der Überlebenden und stehen im Vordergrund.

Auch in der Hilfe kann man transponieren ohne Ende.
Es muss nicht heißen: „Oh wei, oh wei- ein Mensch mit DIS- der braucht eine Sonderbehandlung!“. Es reicht zu sagen: „Ein Mensch dem Gewalt angetan wurde/ der kein Vertrauen leichtfertig annimmt/ der noch immer Angst hat/ der Hilfe braucht, um in ein Leben ohne Gewalt zu finden.“.

Es ist völlig egal, welche Profession man hat. Es ist völlig egal, in welcher Funktion man sich für ihn einsetzt.
Das Wichtigste ist ihn anzunehmen, wie er ist. Ihn ernst zunehmen. Ihm beizustehen. Hilfe ist Begleitung in der Gegenwart. Ehrlich, offen, gewaltfrei, menschlich. Egal, wie nah oder fern. Egal, wie überzeugt man selbst ist von dem, was dem Klienten passiert ist.

Die besten Helferinnen, die mich begleitet haben, waren jene, die das getan haben und noch immer tun.
Manchen habe ich nie die Gewalt erzählt, manchen gegenüber erwähne ich „Überschriften“. Doch nur meiner Anwältin und meinen Therapeutinnen gegenüber, habe ich jemals wirklich erinnerte Gewaltserlebnisse geschildert.
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Sie alle aber waren und sind hilfreich, weil sie da sind. Weil sie mich mit allem Guten und Schlechten an und in mir ernstnehmen und mir ihre Hände reichen, wenn ich sie brauche.
Ich weiß nicht, wie viel sie glauben, woran sie zweifeln, was sie denken oder gedacht haben, als sie von meiner DIS und dem was sie verursacht hat erfuhren. Und das ist mir auch egal. Sie sind da- hier und heute- und das ist alles, was ich je gebraucht habe.

Und…
es ist so oft, so wahnsinnig viel mehr, als ich mir je zu wünschen erlaubt habe.

die Sache mit dem Schreien nach Aufmerksamkeit

Da gab es einen Satz in der letzten Therapiestunde, der mir sowohl „Autsch“ als auch „Stimmt“- Impulse näher brachte:
„Wer schreit, kann nicht zuhören“

Wie wahr, wie wahr. Wenn jemand schreien muss, um gehört zu werden, dann bringt er in der Regel viel Energie auf und hat schlicht keine Kapazität mehr, um zuzuhören. Ab einem Punkt gibt es auch keine Ratio mehr. Dann ist ein Level erreicht, in dem es nur noch darum geht, gehört und sich seiner angenommen zu fühlen.

Dieser Satz brachte mich zurück in meine Kinder- und Jugendpsychiatrie- sowie meine Heimzeit als Jugendliche. Wie oft habe ich dort – ausgerechnet dort! – den Antisatz schlechthin gehört: „Ach – sie will ja nur Aufmerksamkeit“? Ich habe es nicht gezählt.

Es ist ein Antisatz, weil er oft zur Sackgasse verleitet.
Wer in der Lage ist, jemanden schreien zu hören, der kann auch zuhören und entsprechend handeln. Sich mit einer Beschreibung bzw. auch einer Deutung eines Verhaltens darzustellen, als jemand, der dies schon richtig einschätzt und damit sein (unter Umständen falsches) Handeln- oder auch Nichthandeln oder gar Ignorieren rechtfertigen darf, der nutzt etwas aus.
In meiner Klinik- und Heimzeit war es ein Machtgefälle.
Ich brauchte Hilfe und schrie es auf viele Arten heraus und manche Helfer standen da, sahen dies und legten mit dem Satz „Ach, sie will nur mal wieder Aufmerksamkeit“, die Hände in den Schoß. Werteten meine Not ab und verstärkten sie damit gleichzeitig, denn die Verzweiflung wuchs: Da hatte jemand mein Schreien bemerkt und mich doch wieder nicht wahrgenommen. Mir genug Aufmerksamkeit geschenkt, mein Schreien als solches zu hören, aber nicht genug, um es anzuhören und sich mir in der Folge zu widmen.
Ich war auf Hilfe angewiesen und jene, die sie mir hätten zukommen lassen sollen, ignorierten sie aus was weiß ich für Gründen. Einen Vorteil hatten nur sie davon. Ich konnte mich nicht mehr anders ausdrücken, doch jedes weitere Schreien konnte unter ihrer Deutungs-/ Definitionsmacht weiter abgewertet werden. Egal, was ich tat – es war nicht das, was zu dem führte, was ich brauchte.

Wenn wir Menschen geboren werden, können wir unter Umständen bis ins dritte Lebensjahr nichts Anderes tun, als mehr oder weniger artikulierte Schreie und Laute von uns geben. Die erste Form von Ausdruck über Befindlichkeiten und auch Nöte ist das Schreien.
Es ist ein Akt, der unglaublich viel Kraft abverlangt und deshalb im Laufe der Jahre immer gezielter eingesetzt wird, sobald das Gehirn so weit ausgereift ist, dass es klar und eindeutig Ursache und Wirkung miteinander verbinden kann. Bis es ein Gefühl für Selbstwirksamkeit gibt:
Ich schreie = das, was außerhalb von mir ist, reagiert darauf = mein Bedürfnis wird befriedigt

Sind wir Menschen in der Lage, Worte zu verwenden, Werkzeuge gezielt zum Ausdruck innerer Prozesse und Gefühle zu nutzen, brauchen wir nicht mehr Schreien oder auf unartikuliertes Ausstoßen von Tönen zurückzugreifen. Wir tun es aber trotzdem, wenn wir in großer Erregung sind. Wenn durch unsere Adern alles schießt, was da schießen kann. Angst, Schmerz, sexuelle Erregung, Freude, Verzweiflung. Selbst wenn kaum noch etwas schießt, zum Beispiel bei einer Depression oder im Sterbeprozess, schafft es unser Organismus noch unartikuliertes Stöhnen oder Seufzen zu produzieren, um eine Ausdrucksmöglichkeit bereitzustellen.

Ist das nicht der Hammer schlechthin? Was unser Körper alles an Kraft aufzubringen in der Lage ist, um eine Entlastung durch die Befriedigung unserer menschlichen Grundbedürfnisse zu erreichen!

Warum fällt es so schwer, der Seele den gleichen Platz wie Hunger, Durst, Nähe- und Wärmebedürfnisse, ja sogar das Bedürfnis nach Spiritualität einzuräumen?
Weil sie unsichtbar ist? Die Bewertung der seelischen Bedürfnisse einzig subjektiv vornehmbar ist? Oder nicht vielleicht auch, weil unsere westliche Vorstellung von Gesundheit, nach wie vor eine Trennung von Körper und Geist und Seele vornimmt?

Ich könnte jetzt einen kleinen Exkurs in Psychosomatik beginnen – mache aber doch nur einen kurzen Abstecher.
Jeder, der mal Liebeskummer hatte, weiß, dass es gegen diesen Schmerz keine Tablette gibt – dass aber eine Selbstmedikation aus Selbstmitleid, Trost von außen und viel Schokolade sehr gut hilft. Will sagen: ja – da ist eine Trennung – doch nicht so eine Trennung, als wäre die Seele ein eigenes Organ, ganz ohne Einfluss auf den Körper. Sowie andersherum Dinge, die dem Körper zugeführt werden, einen Einfluss auf die Seele nehmen.
Das kann man in dem täglichen Miteinander voneinander lernen, wenn man sich einander widmet und seinem Schreien zuhört.

Ich habe es an mir gelernt, als ich begriff, dass ich immer dann den Drang mich aufzuschneiden spürte, wenn ich eigentlich das Bedürfnis nach warmer Nähe- nach liebe- und verständnisvollem Kontakt hatte. Ich einfach nur jemanden brauchte, der sich mir widmete.

Es ist tatsächlich ein Schreien. Ein unglaublich kräftezehrendes Schreien.
Wir mussten zu Klinikzeiten ein Protokoll führen, um das Muster der Selbstverletzung, der Essstörung, der Dissoziation zu erkennen.
Dieses Protokoll half uns, das Bedürfnis, welches das Schreien (in diesen Fällen das Hungern und Schneiden) nötig machte zu erfassen und auch zu reflektieren, wann genau der Moment vorbei war, in dem der „flüsternde“ Ausdruck dieses Bedürfnisses nicht gehört oder auch direkt übersprungen wurde, weil gemäß der Lernkette kein Flüstern lohnte.

Der Satz „Die will ja nur Aufmerksamkeit“ ist etwas, das so eine „Ach – hier lohnt das Flüstern gar nicht“- Lernkette verfestigt. Er bestätigt die Lernkette: Ich sage etwas = niemand reagiert.

Man kann so eine Erkenntnis für sich haben. Natürlich. Man kann als Helfer da stehen und ein Verhalten für sich so einordnen. Aber dann muss ein weiterer Schritt kommen!
Im günstigsten Fall auf den Schreienden zu.
Dieser kann dann erfahren, dass seine Nachricht irgendwo angekommen ist. Und dann wird das Schreien verebben. Und DANN ist auch wieder Platz für Ratio und Zuhören.
Vorher nicht.
Ganz einfach.

Von Schreienden zu verlangen, die Klappe zuhalten, ihren Ausdruck zu unterlassen, ist Gewalt.
Eine Gewalt mit der wir hier in unserer Kultur alle durch Bank weg, mehr oder weniger stark (und zerstörerisch) konfrontiert waren, als wir selbst Kinder waren. „Kinder soll man sehen – nicht hören“. Ein Satz aus der Jahrhundertwende. Heute sagt ihn niemand mehr – es wäre aber ehrlicher, ihn zu sagen. Denn in vielen kleinen und großen Zusammenhängen erwarten wir Erwachsenen genau das von Kindern: „Sei still!“.
Und dieses Muster tragen unsere Kinder unter Umständen weiter. Es sei denn wir widmen uns ihnen und schaffen es ihre Perspektive einzunehmen und ihnen ihre Ausdrucksmöglichkeiten zuzugestehen. Diese zu akzeptieren und im Miteinander zu berücksichtigen.

Manchmal denke ich: „Ach Mensch, es ist doch so einfach eigentlich. Wieso klappt das denn nicht? Gerade in Einrichtungen, in denen viele Menschen sind, die vor sich hinschreien – sich vielleicht sogar richtig festgeschrieen haben. Es kann doch nicht sein, dass das immer und immer so ungehört bleibt! Es wäre doch im Vergleich schneller ‚erledigt‘, wenn man sich ihrer annimmt …“
Ab und an habe ich den Verdacht, dass es vielleicht auch eine Angst gibt, das eigene Schreien nicht mehr gehört zu wissen. Als Helfer in der Not nicht mehr schreien zu dürfen – seine Bedürfnisse nicht mehr ausdrücken zu dürfen. Als sei die Annahme anderer Menschen etwas, das eigene Nöte ausschließt.

Und tatsächlich finde ich diesen Gedanken oft bestätigt.
Es gilt als unprofessionell emotionale Tiefs zu haben und diese deutlich zum Ausdruck zu bringen. Als schwach gilt, wer Mitleid empfindet und selbst ein paar Tränen vergießt. Gerade im Bereich der Pflege, Pädagogik und auch im psychiatrisch-medizinischen Bereich.
Da gibt es die Vorgabe von strikter Abgrenzung und Unpersönlichkeit. So ein Ideal vom Halbg’tt in Weiß, an dem alle Emotionen wie von gleichsam weißen Lotus abperlen. Wer dem nicht entspricht, ist schwach, unprofessionell, nicht geeignet für seinen Beruf. Unterm Strich: minderwertig.

Ich will jetzt nicht dazu aufrufen, dass mir meine Therapeutin heute oder auch früher meine Betreuer oder die mich betreuenden Krankenschwestern hätten ihre Probleme erzählen sollen. ABER – ich hätte mit: „Ich habe heute einen miesen Tag-bin krank-meine Ohren und mein Herz sind heute überhaupt nicht auf für deine Not“ oder auch „Ich sehe dich, aber ich habe keine Kraft/ keine Zeit/ keine Ideen, um dir gerade gut und hilfreich beizustehen“ lernen können:
Ich schreie = jemand hört mich, kann mir aber gerade nicht zuhören – ich muss warten/ zu jemand anderem gehen/ XY tun (vielleicht dem Menschen helfen?) = dann wird mein Bedürfnis befriedigt

Mit: „Du willst ja nur meine Aufmerksamkeit“ wurde nur gelernt, dass ich weiterschreien muss.
Und sei es meine Verzweiflung darüber, dass mich niemand wirklich hört. Wie früher. Wie damals, als so viel durch meine Adern schoss, dass ich nichts weiter tun konnte, als wie am Spieß zu schreien. Wie damals, als ich noch gar nichts anderes konnte als mich durch Schreien verständlich zu machen. Und das vor Menschen, vor denen ich nur deshalb stand, weil bereits damals niemand zugehört hatte.

Ich bin froh und dankbar, dass ich heute viele Ohren habe.
Dass ich schreiben kann.

Und dass ich heute gehört werde.

„Einstieg in die Freiheit“, statt „Ausstieg“

Es ist für uns gerade eine Zeit in der sich unser Fokus weitet und uns vielschichtig aufspreizt- vielleicht auch neu zerreißt? Wieder wird klar, warum wir uns hier nicht offiziell eingemeinden lassen können. Warum wir uns zu Recht noch nicht als „wirklich ausgestiegen“ betrachten können.

Wir leben schon viele Jahre nicht in mehr in physischer Abhängigkeit derer die uns pseudoreligiöse Werte vorlebten und sind auch nicht mehr in der Situation Gewalt und Ausbeutung aushalten zu müssen. Aber wir schleppen ein Erbe mit uns herum.
Sind innerlich noch längst nicht ganz ausgestiegen.

Vielleicht ist „Ausstieg“ auch nicht das, was wir wollen und schaffen möchten. Denn der Begriff des „Ausstiegs“ impliziert einen Standpunkt und einen Zeitpunkt des Einstiegs. Wir aber sind nie eingestiegen- wir wurden hineingeboren und aufgezogen mit diesen Werten und hatten zu keinem Zeitpunkt wirklich einen einzelnen Standpunkt. Es war schon immer so, dass es Innens gab, die sich gegen Unrecht und Gewalt eingesetzt haben- während andere Innens genau Unrecht und Gewalt er- und ge-lebt haben.

Es ist für uns wichtig geworden zu spüren, wie berechtigt der Wunsch ist keine Schmerzen und Demütigung aushalten zu müssen- doch es ist ein anderes Wertesystem. Eines, das nur deshalb als gut und richtig und wichtig geschätzt wird, weil es der Masse der Menschen als gut und richtig und wichtig vorgelebt wird.
Unabhängig davon, wie wir dieses Wertesystem bewerten liegt es an uns, uns dem hinzugeben oder eben auch nicht. Es hat etwas damit zu tun sich dafür zu öffnen und es in sich hineinzunehmen. Es hat etwas mit Anpassung zu tun- aber nicht mit tatsächlicher Freiheit.

Eine unserer ersten Diagnosen war „Anpassungsstörung“.
Kein Wunder- erlebten wir doch gerade einen Weltenchrash der an Parallelen kaum noch zu überbieten war.

Gab es vorher die „helle“ und die „dunkle“ Welt (beides gruselig, weil nie in Gänze erfass- einschätz- und erinnerbar), gab es dann plötzlich „drinnen“ und „draußen“ sowohl räumlich als auch direkt bei uns. Plötzlich waren wir minderwertiger Patient drinnen (der für sich behalten soll, was in ihm ist- aber trotzdem immer wieder gezwungen (ja wirklich- gezwungen!) wird, etwas von sich und seinen Gedanken, Normen und Werten zu erzählen) und draußen waren die, die wertvoll und frei waren (die Ärzte, Therapeuten, Pfleger, Besucher… die man alle nicht zwingen konnte, etwas von sich preiszugeben).

Diese Zeit war für uns ein schlimmer Fallstrick- ja- eigentlich sogar ein ganzes Fallstricknetz, so dass es uns nie wundert, weshalb viele der Betroffenen, die wir so kennengelernt haben im Lauf der Zeit keinen Ausstieg in dem Sinne schaffen, als dass sie in Freiheiten kommen, wenn sie immer wieder in psychiatrische Stationen müssen, die geschlossen sind. (Und dort oft von Helfern behandelt werden, die um ihren Kopf ein herrlich stabiles Holzhaus gebaut haben, auf das dort niemals etwas heraus oder herein kommt.)

Wenn man aus einem abgeschlossenen Sozialkonstrukt heraustritt und alle Handlungen und Tätigkeiten die in ihr als wertvoll und zwingend normal (im Sinne einer Norm) angesehen werden, steht man erst mal völlig allein da- es sei denn man hat sich andere Dinge bewahrt- und sei es die Fähigkeit seine Werte in einem Teil seines Selbst neu bilden zu können.

Ich habe oft den Eindruck, dass der Faktor der Anpassung an „die Gesellschaft“ (hier nicht näher definiert) der Anreiz für den Ausstieg sein soll oder auch die Anpassung den Ausdruck der eigenen Normen und Werte gegenüber anderen Menschen zu finden.
Als sei Freiheit etwas, das man nur erlangen kann, wenn man sich gut an „die Gesellschaft“ und „die Welt, wie sie außerhalb der Pseudoreligion nun mal ist“ angepasst hat und sie für sich nutzt.

Doch gerade jetzt denke ich, dass es nicht darum geht. Und auch nicht gehen sollte.
Der Wunsch nach Anpassung ist da- natürlich. Wir Menschen sind Individualisten mit Gruppenabhängigkeit- unsere Evolution war so nett uns dies als teilweise genetisch verankertes Markerchen mitzugeben. Doch das ist das, was uns frei macht: die Fähigkeit ganz wir selbst- ganz individuell zu sein.

Wir haben uns früher nie eingesperrt gefühlt- weder in der „hellen“ noch der „dunklen“ Welt. Es war einfach unsere Welt. Der große Katastrophenknall der Erkenntnis kam erst, als wir an einem der pseudoreligiösen Feiertage in unserer ersten eigenen Wohnung saßen und merkten, dass die Art der Wertschätzung des früheren Sozialkonstruktes uns auf eine Art verletzte, die dazu führte, dass uns jemand von außerhalb dessen vermittelte, was genau aus ihrer Sicht dort mit uns passierte.
Wir mochten diesen Menschen und fühlten uns ihm verpflichtet- das Gleiche galt aber auch für jene hinter bzw. in diesem uns verletzenden Sozialkonstrukt. Wir haben uns hin- und herziehen lassen, bis wir den Knall endlich rauslassen konnten und wir uns für eine radikale Zu-Nichts-Niemand-Nirgendwo-in-Gänze-Verpflichtung entschieden.

Für konsequente Nirgendwoanpassung sobald wir uns selbst dabei verloren.
Schwupp war der Druck raus, bekamen wir eine Ahnung von freiem Durchatmen und den Möglichkeiten der Denkrichtungen, zu der unser Gehirn als Ganzes in der Lage ist.
Und doch ist bei aller äußeren Freiheit noch das Gefängnis im Innen da.

Da gibt es nachwievor Innens die diesen Selbstbefreiungsrundumschlag nicht miterlebt haben. Die nachwievor in Teilen der früheren „hellen“, der „dunklen“ und auch der „drinnen“ Welt kleben. Sie sind das, was damals alle an uns ziehenden Seiten jeweils noch immer in der Hand halten.

Diese Innens haben keinen Standpunkt- sie können nicht „aussteigen“, weil sie nicht stehen.
Sie haben keine Basis und Trittbretter herbei zu schaffen, liegt an uns. Doch wo sollen wir sie hernehmen, wenn wir doch immer wieder feststellen, dass eine Anpassung- nicht eine Freiheitspraxis von uns erwartet wird?Eine Freiheitspraxis die auch unabhängig von unseren HelferInnen und all dem, das doch nur dafür da ist, uns zu helfen, passieren darf, ohne als unpassend oder sogar minderwertig zu gelten.

Es ist für uns sehr traurige Freiheitspraxis eben nicht eingemeindet zu sein und die Feiertage allein zu 212289_web_R_K_B_by_Ruth Rudolph_pixelio.deverbringen. Sehr anstrengende Freiheitspraxis dem Sog des Suiziddrang-zwangs zu widerstehen und so in Kauf zu nehmen in ein einem bestimmten Konstrukt eben dann als schlecht und und minderwertig zu gelten. Es ist traurige Freiheitspraxis zu wissen, dass die Menschen die uns umgeben (außer denen die das jetzt lesen und uns kennen) keine Wertschätzung dem gegenüber zeigen. Es ist beängstigend zu spüren, dass wir auch keine klinischen Hilfen mehr in Anspruch nehmen können, weil die Strukturen unnachgiebig und starr (und damit für uns kaum bis gar nicht nutzbar) sind- wir also nicht einmal mehr so frei in der Annahme von Hilfe sein können, wie wir uns da doch ursprünglich erkämpft haben.

Es ist außerordentlich schmerzhaft so frei zu sein, dass man fast haltlos ist.
Freiheit bedeutet auch Dinge nicht anzuerkennen und rebellisch und störrisch zu wirken. Anzuecken und zu hinterfragen. Unangepasst an „die Gesellschaft“ und doch Teil von ihr zu sein. Strukturen zu erfassen, ganz für sich abzuschätzen und zu versuchen sich an sich anzupassen- nicht sich selbst ihr anzupassen.

Ich komme mir vor als wandere ich durch die Wüste und sammle trockenes Holz. Trittbretter für jene Innens die keinen eigenen Standpunkt haben. Immer weiter und weiter- einfach weil wir als Einsmensch kein Sklave mehr sein wollen. Schritt für Schritt auf einer Reise, die aber nicht in einem heiligen Land enden wird.
Sondern in der persönlichen Freiheit.

 

Vielleicht sollte man es für alle so nennen: „Einstieg und Anpassung an Freiheit“.
Irgendwie macht mir meine Wortsynästhesie dieses Wortpaar passender für das was erreicht werden will, als die Wortgruppe „Ausstieg und Loslösung aus destruktiven Zusammenhängen“.

An Erstem sind kleine Rippel zum Festhalten dran.

 

P.S. Auch hier gibt es wieder ein offenes Ende- wir wirbeln immer noch herum und taumeln gerade eher ein bisschen hin und her und ergießen uns hier eher als wirklich fest und klar zu schreiben, worauf wir hinaus wollen. Gehört dazu denken wir- also kriegts einen Platz.