ein Igel, ein Hund, ein Tag im Sommer

Vielleicht ist es nur die Geschichte von einem Igel, der an einem Tag gleich zwei Mal vom gleichen Hund gefressen zu werden versucht wurde. Vielleicht ist es aber auch die Geschichte von einem Tag, dessen Besonderheit es war gleichzeitig weichweit und festdicht zu sein.

So ist es uns, wenn es Sommer ist und die Grenze zwischen uns und der Welt der kleine Lichthof ist, den die Sonnenstrahlen um unsere salzige Haut wirft. Da ist ein bisschen Wind und ein Flüstern in den Bäumen. Da fliegen Insekten und die Wiese riecht nach würzigem Heu.

Im Sommer sind alle da. Pflanzen, Tiere, Menschen, die vier Elemente.
Es ist, als müsste man niemanden mehr suchen. Es gibt kein Vermissen, wie im Winter. Keinen Abschied, den man sich so lang wie möglich wünscht, wie im Herbst. Auch das große Hallo, das man in der Brust klein dämpft, damit es die ersten zarten Blumen und Blätter nicht versehrt, bleibt aus.

Wir sind einfach da und passen fast nahtlos in die Welt hinein.
Dieses Gefühl entspannt uns. Macht uns weichweit wie die Mittagshitze, die man spürt, wenn man unter einem Baum auf einer Decke liegt und jemanden neben sich hat, die_r weder stört noch schmerzt.

So wie wir gestern mit J..
Nach einem Frühstück um 10 und einem Malzbier zum Mittag. Mit Gesprächsthemen von “Seebrücke statt Seehofer” zu “Was sind die Bedingungen zum Erhalt von Bafög?”.

Später arbeiteten wir unseren Kram ab, während sich die Mittagshitze draußen in einen schweren Mantel verwandelte. Und dann hörte ich Bubi draußen im Garten winseln. Bubi ist J.’s Hund. Ein schwarzer Spaddelkopp-Hund von drei Jahren mit Autoscooter-Schwanz und Drahtrauhhaar.

Als ich ihn fand, hielt er ein Bündel zwischen den Pfoten, in das zu beißen ihm Schmerzen bereitete. Was ihn aber nicht davon abhielt, es weiter zu versuchen. Auf den zweiten Blick sah ich, dass es ein Igel war. Angelüllert von blutigem Hundespeichel, festdicht geschützt von seiner Stachelverpackung.

Igel sind Parasitenschleudern. Das war ein erster Gedanke und man möge mir das bitte verzeihen. Zwei Jahre Pflegestellesein für Wildtiere und damit unzählige Floh-Milben-Würmer-Einzeller-Paraden, die durch meine Wohnung stampften, hinterlassen dann eben doch Spuren, die manchmal sogar die Möglichkeit einer tödlichen Gefahr für ein Lebewesen überstrahlen.

Wir brachten Bubi rein, begutachteten den kleinen schnell und flach atmenden Stachelball und legten ihn in einen Karton unterm Baum. Igel, die sich noch so fest einrollen können, haben zumindest kein akutes Problem mit Schwäche.
Wir ließen ihn allein und als wir später nochmal nachschauten, war er weg.

So schüttelten wir die Köpfe, J. und wir. Darüber was für ein Spaddelkopphund man sein muss, mehrfach von einem Igel abbeißen zu wollen, obwohl es offensichtlich weh tut.
Natur. So krass.

Das dachten wir auch, als wir später einen neuen Weg durch einen kleinen Wald gingen. Wir sahen Bäume, in deren vielen Astgabeln Spinnennetze wie Trampoline hingen und in der Sonne glitzerten. Horchten auf das Knistern des trockenen Laubs unter unseren Füßen. Genossen den kühlen Schatten des Wäldchens mitten im dörflichen Irgendwo.

Und am Abend, als wir schon satt und zufrieden über einem Gurkensalatrest saßen und wieder mitten in einem Gespräch waren, hörten wir Bubi bellen. Und dann winseln. Wieder im Garten.
Und ja, er hatte wieder einen, vielleicht und wie wir vermuten, auch wieder genau DEN Igel zwischen seinen Pfoten.

Diesmal blieben wir bei dem Igelschutzpanzerbällchen sitzen. Warteten auf seine Entfaltung und gaben ihm den Namen Hannes, der Dödel. Der ließ eine Weile auf sich warten, doch reckte schon bald seine spitze Lakritznase heraus und sah sich in dem Karton um.

mittelgroßer Igel im Pappkarton, neben im ist ein pinkes Handtuch zu erkennen, Perspektive ist vom oberen Kartonrand. Der Igel ist entrollt und schnuppert.

Wir sahen keine Verletzungen, nur jede Menge Moos, trockene Grashalme und Flechten.
So trugen wir ihn durch die dunkle Nachbarschaft in ein Gebüsch und ließen ihn als kleine feste Stachelkugel dort zurück.

Den Karton haben wir verbrannt. Igel sind Parasitenschleudern.
Die Hitze in der Feuerschale vor unseren Füßen, die Kühle der Nacht an unserem Rücken, J.’s Arm an unseren Schultern entlang, bildeten den Rahmen für das Ende dieses Sommerstages, der besser nicht hätte passieren können.

Leben. So krass.

Herbstsein

P1010134Zwischen fallenden Blättern stehen

den Wind umarmen

in Nebelschwaden tanzen

Auf Zehenspitzen, kaum den Boden berühren und doch…

mit

weg

aneinander vorbei

laufen

Angst?
Ich laufe mit dir mit
oder vor dir weg
oder an dir vorbei

Ich bin nicht verletzt
Hör doch mein Lachen im Rauschen an deinen Ohren
Ich blute nicht
Ich versprühe flüssiges Leben in alle Richtungen
In Tropfen und leuchtenden Schlieren hinter mir her.
Bin ich, bin ich da.

Ich mag den Herbst, denn er ist so wunderbar kräftig in seiner Art des natürlichen Mordens
Alles stirbt und wallt ein letztes Mal auf
P1010054Leuchtet wie ein letzter Versuch von einem Wunder zu zeugen

Ich kann noch so sehr versagen die Zeitfäden zu verwirren, ich kann immer sagen: Es ist Herbst
Ich gehe raus und bin sofort da
Hallo Welt! Wer will mit mir laufen?

Auf Zehenspitzen
entrückt im wundervollen Sterben der Welt
lebendig, sterbend, tot
und dabei mitten in der eigenen Geburt

Es ist ein Sein im Herbst
Vielleicht ist es meins
wenn ich den Boden berühre

Wenn

im Wald

Ich bin auf der Suche nach dem „richtigen” Baum.

Fliege segelnd durch die Gruppen und Grüppchen der bunten Bäume, über die Sträucher und Büsche hinweg. Durch den Blätterregen hindurch.

“Mein Herz, weißt du noch als wir mit der Helfer-Gemögten hier waren?” Ich fühle eine leise Bewegung. “Weißt du noch wie die Marienkäfer flogen? Da hast du sie gezählt, weil du so eine Angst hattest, weißt du noch?” Ich höre ein schwaches Seufzen und fühle wie sie sich mir zuwendet. “Kannst du versuchen heute die Blätter zu zählen? Guck mal nach oben in den Himmel. Die Blätter sehen auch so aus, wie der Schwarm Marienkäfer.”
Ich spüre ihren bestialischen Schmerz mit ihr hoch kriechen. Von der Mitte der Lenden bis hinauf hin den Brustbereich, wo sie sich nun festklammert, um über meine Schultern in den Himmel sehen zu können. “Halt dich schön fest, gleich finde ich den richtigen Platz für uns”

Ich breite meine Flügel aus und setze meinen Flug fort. Und finde den Richtigen.
Gut versteckt mitten im Wald, fern der Wanderwege, dick, stark, mächtig, gut eingemummelt in Moos und Flechten.

“Ist es der Richtige?” Vielköpfiges Nicken überstimmt verächtliches Schnauben, verwirrtes Achselzucken, desinteressiertes Weggucken und messerschwingende Drohung.

Ich setze mich und schaue mir die Umgebung an.
Ja. Ich finde es auch gut.
”Kannst du den Baum sehen, mein Herz? Siehst du das Heute?” Sie nickt. Lässt ihre Tränen in meine Federn rollen.
Ich senke meine Flügel herab und lasse sie in die Rillen der Baumrinde fallen.
“Möchtest du den Baum mal fühlen? Schau mal, wie stark er ist. Unser ganzes monströses Körpergewicht hält er aus. Und sogar deine Tränen hat er ausgehalten.” Sie steigt, von Federn gestützt, ab, hält sich an meinem Flügel fest. Legt sich auf den Baum und horcht in ihn hinein. Erzählt ihm unhörbar ihre Geschichte.

Die Sonne geht langsam unter.
“Ist es besser?”, frage ich. Sie nickt. Ich beuge mich herab und lasse sie zwischen meine Federn krabbeln.

“Möchte noch jemand etwas hier lassen?”. Ich frage nicht nur “meine Herzen”. Ich denke, diese Art Schmerz werden Viele mehr gespürt haben. Und tatsächlich umarmen noch ein paar andere den Baum und lassen ein Stück Schmerz dort. Mitten im Nirgendwo. Ganz weit weg von zu Hause. Von fremden Blicken. Von Verantwortung. Von dem was sie repräsentieren. Von Scham über ihr Handeln und Denken. Bei diesem Baum, der obschon tot und umgestürzt, so stark und mächtig hier ruht.

So befreit und geklärt verlassen wir diesen Ort.
NakNak* steht auch auf.
Sie saß die ganze Zeit neben uns. Ganz ruhig. Wie eine Wächterin. Als hätte sie genau gespürt, dass hier etwas passiert, das absolute Stille verlangt.

Jemand trocknet die Füße ab und zieht die Schuhe wieder an.
Jetzt fühlen wir auch so den Boden wieder.

Es ist wieder ein Stückchen besser.