was wir niemals wollten

Unsere Schullektüre ist “Die Bücherdiebin” und einmal mehr ist der Faschismus, der Nationalsozialismus, Hitler, der Krieg, Thema für mich.

Als ich noch zur Regelschule ging, war das Thema nicht viel mehr als Anne Frank, Massenmord und Hitler.
Nazi sein war scheiße. Nicht wegen Krieg und Hitler und den Juden, sondern weil es in meiner Umgebung üblich war, Nazis abzulehnen und Faschismus als Menschenverachtung einzuordnen. Heute frage ich mich, wie die Lage für mich wäre, würde ich noch dort leben, wo ich damals gelebt habe.
Mecklenburg Vorpommern ist wohl mehr als versprengte völkisch-nationalistische Aussteigerkommunen, aber doch viel weniger bunt und anders links bis antifaschistisch, als die Stadt in NRW, wo wir ein anderes Zuhause gefunden haben.

Hier geht man zu einer Gegendemo. Man ist nicht die Gegendemo. Jedenfalls empfinde ich das so.
Niemand will Nazi genannt werden, aber sich wie einer auszudrücken oder zuweilen problematisch zu handeln, das wird man ja wohl… – also ohne jemandem zu nahe treten zu wollen… Ach was, man kennt es doch, dieses unterschwellige, meist nicht einmal bewusste Saatgut des Hasses, das sich bis heute in Menschen hält und weiter verbreitet wird. Kleiner vielleicht. Maskiert. Verwässert. Aber da.
Niemand hier ist Nazi. Man macht nur einfach irgendwie mit.
So nehme ich das jedenfalls manchmal wahr.

Heute kommt niemand mehr umhin, Bilder der Toten und Gequälten zu sehen, wenn man sich Reportagen oder Dokumentationen über den Krieg anschaut. Für mich geht das nicht. Ich kann das nicht sehen, nicht hören, ohne selbst an die eigene Gewalt erinnert zu werden. Obwohl es bei mir nie um diese Art Faschismus ging oder dieses Thema aufgegriffen wurde.
Es ist das Leiden, die Todesangst, der Schmerz, die Ungerechtigkeit an sich, die mir diese Art der Zeugnisannahme zu den Opfern und Geopferten unmöglich macht, möchte ich mich selbst vor Schaden schützen.

Es ist mir wichtig, meine Geschichte nicht mit der anderer Menschen zu vermischen. Wenn mich die Erfahrungen anderer erreichen, dann muss ich hart sein. Da braucht es eine Panzerglasschicht um mich herum, die mir ermöglicht, die andere Person zu sehen und zu hören – auch selbst gesehen und gehört zu sein – aber doch weder emotional noch anders innerlich konsistent berührbar, vermischbar, verfälschbar zu sein.
Und doch wünsche ich mir manchmal das Gefühl mit jemanden in dieser Erfahrung verbunden zu sein. Bezeugt zu werden, in dem was mir passiert ist.

Obwohl ich mich frage, warum bei solchen Filmen die Würde der Gestorbenen, Getöteten, Ermordeten der Konzentrationslager nicht gewahrt wird, verstehe ich gerade sehr gut, dass es sich auch dabei um den Preis handeln kann, den Zeug_innenschaft und darüber Verbundenheit für manche Menschen kostet.
Die Fundamentreste von Buchenwald, sind eben nicht das Buchenwald gewesen, was es für diese Menschen war. Und kaum eines ihrer Worte wird dem Grauen je genug Form geben können, dass je ein anderer Mensch einen annähernd konsistenten Begriff davon bekommt. Aber ein Bild, gemacht von einem Gegenstand, von einem Retter, einer anders beteiligten Instanz, kann noch etwas dazugeben. Kann helfen. Obwohl der Preis so hoch ist. Obwohl es die Toten erneut opfert.


 

Ich habe diesen Text vor einigen Wochen begonnen und dann verworfen.
Wir haben einen Entschluss gefasst und konzentrieren gerade viel Zeit und Energie darauf, dem zu folgen. Wir wollen hier weg und wissen, dass wir uns in den nächsten zwei Jahren auf allen Ebenen dafür aufreiben müssen. Geld verdienen, sparen, eine Fremd- und zwei Programmiersprachen, Schulzeug und Berufshandwerk lernen, arbeiten, Zettelage klären.
Das lenkt gut ab. Produziert einen Tunnelblick mit hellem Licht am Ende.

Dann kamen die Wahlergebnisse aus Österreich. Wieder Gedanken an Faschismus, Krieg, staatlich legitimierte Diskriminierung.
Gerade als ich eine angenehme Lernroutine hatte und nicht mehr überwiegend mit diesem dumpfdrückenden Angstmotor im Nacken zu Motivation fand.

Eine Verwandte von uns hätte in den Dreißigern nach Kanada gehen können. Sie tat es nicht und wir werden vielleicht nie erfahren warum.
Wir denken, dass wir es tun werden, solange wir noch können. Solange man mit einem Personalausweis nach Island oder sonstwohin ins europäische Ausland kann, werden wir das tun und uns einen Ort suchen, wo es nicht besser, doch deshalb schwer ist, weil es fremd und fern und Neuanfang ist.
Weil wir nicht dieses Vertrauen in unsere Umgebung haben.
Und auch, weil wir wissen, was für Wesen noch in Menschen schlummern, wenn es um Leben und Tod, Angst und Schmerz geht.

Wir denken uns die Zeit, in der wir leben, als eine, deren natürlicher Verlauf keiner sein wird, der uns gut tut oder wenigstens: nicht schadet.
Die Verschiebung nach Rechts zusammen mit konservativen Einstellungen und Werten, verstärkt bestehende Probleme. Uns geht es besser als anderswo – doch es geht uns auch nicht gut. Es ist nicht so, dass wir ohne Schaden leben.
Für uns gibt es keinen Grund an “Es wird schon nicht so krass, wie damals als…” zu glauben. Es ist bereits krass und zu wenige, die es hören, sehen, vielleicht emotional empfangen, wollen es glauben.

Ich habe heute kein Buch über den Krieg gelesen, sondern eines über die Zwanziger und Dreißiger Jahre. Das Europa nach dem ersten Weltkrieg und den Alltag in Deutschland, der gar nicht, wie ich das immer dachte, so golden und frei war. Sondern ähnlich aufgeteilt wie heute. Hier die freien Eliten in goldenen Käfigen und da die Armen, die es bleiben, egal was sie tun.

Es war so leicht diese Gesellschaft zu entzweien und zu trennen. Zu selektieren und zu nazifizieren.
Es war so leicht, einander nicht mehr zu sehen, nicht mehr zu hören und keinerlei Verbindung zueinander einzugehen.

Mit unseren Gewalterfahrungen, geht es uns bereits jetzt sehr ähnlich.
Niemand sieht es uns an. Und hören lassen wir es nur die Therapeutin.
Wir sind unsere eigene kleine Schweigeblase, die durch das Leben geht und darunter leidet, sich nirgendwo ganz und gar öffnen zu können. Zu verschmelzen, in Verbindung zu sein, ohne gleichzeitig an all die hundert Grenzfronten zu denken.

Aber das ist unsere Entscheidung. Nicht ganz und immer, aber doch: unsere.
Für uns geht es beim Weggehen nicht um das Retten des eigenen Lebens. Es geht um den Erhalt der Wahlmöglichkeiten und die Erschaffung einer Art von Freiheit, die hier nicht möglich ist. Denn Schutz für Gewalterfahrene ist hier nicht für alle da.
Nicht für alle, die hier geboren wurden. Nicht für alle, die sich hierhin gerettet haben. Nicht für alle, die hier leben und arbeiten. Nicht für alle, die ihn letztlich herstellen.

In meinen Social Media –Kanälen geht es im Moment viel um Nazis. Man schaut auf die AfD und wartet darauf, dass sie sich zerlegt.
Das hat man zu Zeiten der NSDAP auch getan.

Kann sein, dass sich in den nächsten Jahren noch ganz viel ändert und alles toll und bunt und supi wird. Ja, kann sein – und wenn es so wird, dann ist das super. Aber auch das ist etwas, das man sich anschauen muss.

Wird es super, weil hier niemand verhungert und nur noch Geflüchtete in Lagern Zentren konzentriert untergebracht werden? Wird es super, weil die deutsche Wirtschaft davon profitiert, nicht so zur Verantwortung gezogen zu werden, wie es angemessen wäre? Oder wirds einfach gut, weil wir uns das, was ist, normalisieren und denken, es könnte ja schlimmer sein?
Die AfD allein ist nicht das Problem.
Wir sind es – das Ding, in dem wir alle hier stecken, ist es. Und wie man sich das schön gestaltet – wie man auf die Idee kommen kann, sich das noch zu irgendetwas retten zu können, das irgendwie “gut und schön” genannt werden kann, ohne jemanden auszuschließen – ich komme nicht dahin. So weit weg erscheint mir das. So absurd.

So, als wäre ich kleine abgeschlossene Einheit, die durch die Gegend geht. Abgetrennt. Fremd.körperlich.

Die Bücherdiebin stiehlt Bücher in einer Zeit, in der die meisten an Essen und Überleben denken.
Wir konzentrieren uns auf uns und sammeln Kraft für etwas, das wir noch gar nicht so kommunizieren können, wie es uns ist. Umgeben von einem Lauf der Dinge, der sich noch auf Regierungsbildung, Normalisierung von Terror und hilflos wütend abwertendes Kopfschütteln über Trump konzentriert.

Es macht uns Angst. Diese Unverbundenheit damit.
Es ist die Insel, die wir niemals wollten: wir und unsere Geschichte, eine Zeugin und die Arbeit an einem Weggehen.

jetzt ist die Zeit

Manchmal ist es einfach die Zeit.
Die Zeit, die ich verloren habe, ohne, dass ich Genaueres über sie weiß.
Die Zeit, die vergangen ist, bis alles so kommen konnte, wie es jetzt ist.

Ich habe einen 5 Jahresplan gemacht.
Ich, die am Ende des Tages froh ist, dass sie noch lebt und selbst den nächsten Morgen erst glauben kann, wenn die Mittagssonne auf der Haut keinen anderen Schluss mehr erlaubt. Irgendwie ist mir dieser Plan passiert und der Lauf der Dinge des Hier und Jetzt schiebt ihn mir jeden Tag ein bisschen fester an die Stelle, an der ich Trost finde, wenn wenn alles kippelt und schwankt.

Wir werden Deutschland verlassen.
Nicht jetzt, nicht morgen. Aber wenn die Ausbildung vorbei ist.
Wir werden den Appalachian Trail von Georgia nach Maine hochlaufen und von dort nach Kanada fliegen. Dort geben wir uns ein Jahr für die Frage, ob wir bleiben oder weiterziehen.
Wir werden dann 33 Jahre alt sein und 34 werden.
Das ist der letztmögliche Zeitraum für ein Holiday and Work-Visum in diesem Land.

“Warum?”, hatte eine Gemögte gefragt und mich überraschte die Frage danach.
Es ist ja nicht so, dass Deutschland mich braucht. Oder will. Oder Wert auf Menschen wie mich legt.
Es ist ja nicht so, dass meine Freundin nicht weiß, dass ich queer, alleinstehend, behindert und damit sagen wir: “unfreiwillig dauernonkonformistisch” bin, was zusätzlich zu unserem Gewalterfahrungshintergrund etwas ist, das die Lebensqualität nicht gerade steigert.

“Meine Familie werde ich nicht hier gründen und wachsen lassen können.”, dachte ich zu Beginn der Idee. Viele Tagtraumreisen durch ein Leben wo_anders als in Deutschland später sehe ich: Es wäre auch besser für diese Familie, würde sie so fern wie möglich von hier passieren. Unerreichbar für Menschen, die von meiner Ausbeutung profitiert haben. Fern von Strukturen, die mich nicht anerkennen und entsprechend dürftig schützen und stützen.

Wir werden in Deutschland zu den zwei Dritteln der Generation Y, die sich mit Selbstständigkeit aus eigenen Unternehmen zu finanzieren versuchen. Und das als schwerbehinderte Person. Diesen Stress können wir uns auch an einem Ort geben, an dem wir nicht auch noch unseren Opferschutz selbstständig balancieren und bewahren müssen.
Wir können es uns leichter machen.

Ich glaube, das ist eine Antwort auf das “Warum?”.
Weil wir unser Leben mit einer abgeschlossenen Berufsausbildung, einem Schulabschluss und einem Quäntchen Berufserfahrung aus diversen Quellen um den Faktor Schutz auf Kosten von Autarkie erleichtern können, wenn wir nicht mehr hier leben.
Weil es geht. Weil es für uns wo_anders auf eine Art leichter gehen kann, als für viele andere Menschen.

Auch wir werden uns all den Problemen und Dramen, die auf Auswandernde und Ausgewanderte zukommen stellen müssen. Natürlich. So wenig wie Deutschland mich braucht, braucht mich jedes beliebige andere Land.
Aber was ist, wenn eine Entfernung uns schützt, die wir nicht 24/7 so aktiv aufrechterhalten und sichern müssen, wie jetzt?
Was ist, wenn wir feststellen, dass wir entfernt von allem, was uns gemacht hat, Energien sparen, die uns zu einer völlig anders belasteten oder auch “anders beweglichen” Person manchen als jetzt?
Ich glaube, dass es wichtig ist, das wenigstens zu versuchen.
Wenigstens für ein Jahr.

Und zwar genau dann. In drei Jahren.
Denn in drei Jahren sind wir 33 und werden 34.

Das ist ein Umstand, den wir nicht vergessen dürfen.
Den ich aber gern vergessen würde.
Denn er tut weh.

Ich war nie jünger als 16 und als ich geboren war, war die Chance auf ein glückliches Leben im Kreise einer liebenden Familie, die mir Auslandserfahrungen zum Zwecke meiner Weiterentwicklung und Lebensperspektiven ermöglicht, schon vergangen.
Sollte sie überhaupt je bestanden haben. Wer weiß das schon.
Ich weiß es nicht. Mein Leben beginnt mit einem Einzelzimmer auf einer geschlossenen Station einer Kinder- und Jugendpsychiatrie, ohne Kontakt zur Familie, ohne Aussicht auf mehr als das Nötigste zum Leben.
Ich habe meine Familie nie vermisst, denn ich habe sie nie kennengelernt.

In den letzten Wochen recherchiere ich nach und nach, was Auswandern bzw. ein längerer Auslandsaufenthalt erfordert.
Natürlich finde ich noch keine Informationen, die für behinderte Menschen passen. Natürlich finde ich noch keine Berichte von behinderten Menschen, die ausgewandert sind. Und natürlich komme nicht umhin sie zu sehen: Die jungen Menschen zwischen 18 und 25, die in die Kamera strahlen und nicht wissen, dass sie für mich aussehen wie Werbemodels eines Produktes, das ich nie im Leben auch repräsentieren werde.

Ich werde neidisch. Und wütend auf meinen Neid, denn er ist so unfair wie sein Grund.
Mir fehlen 16 Lebensjahre und eine Familie, die mich bedingungslos liebt, schützt und stützt – und mir so ein Strahlen vor dem Grand Canyon (mit)ermöglicht.

Es kann doch niemand etwas dafür, dass mir der eigene Grund und Boden in dieser Welt fehlt.

Das denke ich mir so, denn ich bin nicht der Typ für eine Anklage à là “Die Täter_innen haben mir alles genommen, was hätte würde wenn…”.
Ich weiß nichts von dem hätte würde wenn, das mir zusteht oder zustehen könnte. Oder zustehen sollte.
Ich bin erst seit ich habe, was mir zugestanden wird.

Was ich im Moment spüre ist: mir fehlen 16 Jahre und es fühlt sich nach einem unwiederbringlichen Verlust an.
Ich wünsche mir nicht wieder 16 zu sein. Ich wünsche mir Heute in “mein Anfang minus 16 Jahre”.
Ich wünsche mir einen anderen Anfang. Einen Anfang wie jetzt.

Ich werde von einer Therapeutin, die mir gut hilft, begleitet.
Habe den Begleitermenschen im Leben, der mich gut stützt.
Gemögte, Freunde, Gemochte, Gewohnte und Verbündete, die mich aus_halten und tragen, wenn ich allein nicht weiterkomme.
NakNak*, die mir hilft mich zu schützen.

Ich weiß, dass alles anders gekommen wäre, wäre es nicht gewesen wie es war.
Trotzdem. Es wäre schön gewesen und ich kann so ehrlich zu mir sein, dass ich weiß, warum es mir so leicht fällt, mir diesen Anfang zu träumwünschen, anstatt darüber nachzudenken und -zuspüren, warum mir meine Kindheit und Jugend so weit fehlt.

Ich weiß, dass ich, obwohl ich noch nicht weiß warum, in Trauer bin und auch die Idee überhaupt das Land zu verlassen, nicht nur aus rationalen Überlegungen heraus entstand.
Doch jetzt ist die Zeit für solche Ideen, Pläne und vielleicht auch Entscheidungen.

Vielleicht gibt es sie nur einmal.