Wurst

“Nach so einer Wurst müssen Gina und Lisa erst mal in Traumatherapie…” kartoffeldeutsche Kackscheißwerbung für Wiesenhof präsentiert von der Kunstfigur “Atze Schröder”.
Nach so einer Werbung, will ich erstmal aktivistisch werden und komme doch den Rest des Tag kaum zu etwas anderem als Wut, Wut und Wut.

Doch zeitgleich arbeite ich. Stehe zwischen Fremden in der Fremde, fotografiere Menschen und ein wichtiges Ereignis im Leben dieser Menschen. “Eins zwei drei, eins zwei drei, eins zwei drei”, denke ich und zähle die Menschen, von denen ich weiß, dass sie als Frauen kategorisiert werden.
Ich mache das Zahlending, dass Anne Wizorek macht. Ich sehe in diesem kleinen Saal allein ca. 35 Menschen, die laut Statistik ganz sicher ein Ereignis erlebt haben, das eine Traumatherapie nötig erscheinen lassen würde. Wurst zu essen gehörte wohl nicht dazu, aber Nötigungen, Vergewaltigungen und andere Misshandlungen, die von den Täter_innen sexualisiert wurden.

Wurstwitze. Rape jokes. “Dann mach halt ne Therapie!”. Im Fernsehen. Ganz öffentlich und ohne jede Rücksichtnahme.

Ich versuche mich darauf zu konzentrieren, die frisch Vermählten an ihrem großen Tag gut abzulichten. Es strengt mich an zu beobachten, was eine gute soziale Situation sein könnte. Etwas, woran sie sich später gern erinnern. Daneben rattern mir die Zahlen zu Partnerschaftsgewalt durch den Kopf, während Erika Realsatire Steinbachs Kommentar, Scheidung sei das beste Mittel gegen Vergewaltigung in der Ehe, erneut einen Wutschreireiz bei mir auslöst.

“Ich kann das nicht mehr.”, merke ich. Ich kann nicht mehr so tun, als wäre das alles ein Witz und am Ende muss man nichts so schwer nehmen wie es ist. Ich hasse es, wie selbstverständlich angenommen wird, dass man (sexualisierte) Gewalt überlebt und sich dann einfach nur zur Reparatur begeben muss.
Verdammt nochmal: Opfer von (sexualisierter) Gewalt sterben – und zwar häufig! Vor allem wenn sie unter 18 Jahre alt sind, nicht weiß, nicht cis, nicht strukturell abgesichert sind.
Sie sterben an von der eigenen Tat überforderten Täter_innen. Sie sterben an Täter_innen, die Angst haben. Sie sterben an Täter_innen, die sie tot misshandeln. Sie sterben Jahre nach dem Ereignis (oder den Jahren, in denen diese Ereignisse zum Alltag gehörten) an Depressionen. An den Folgen von Süchten. Sie sterben an der Todesangst, die ihnen die Gewalt in jede einzelne Zelle presste und die nie nie wieder so verschwindet, als wäre sie nie da gewesen. Es sind so viele Menschen, die jedes Jahr an den direkten, wie den indirekten Folgen von Gewalt an sich versterben, noch bevor sie in Traumatherapie oder wenigstens traumasensible Hilfen können.

Das ist Ernst. Kein Scherz, kein künstliches Drama mit verstecktem Happy End, das man nur finden muss, indem man sich die Lage ins rechte Licht rückt.

Kurz denke ich darüber nach, wie das für Menschen mit Penis wohl ist, solche Wurstwitze zu hören. Wie wirkt sich das eigentlich auf den Genuss des Grillguts aus, wenn die Wurst in der Werbung ein eigenes Körperteil darstellen soll?
“Ha ha lecker Wurst – zwinker zwinker- *kräftig reinbeiß*”? Doch wohl eher nicht. Oder?

Mein Job erfordert eine Pause, denn meine Speicherkarte ist voll. Statt Bratwurst vom E-Grill zu essen, denke ich darüber nach, wie bitter es ist, wie so ein Spot mit einem Schlag mehr Menschen mal den Begriff “Traumatherapie” hat hören lassen, als Menschen sie wirklich bedarfsgerecht auch erhalten können.
Wie bitter das ist, wenn so ein Werbespot dazu beiträgt, Gewalt zu bagatellisieren und Traumatherapie (LOL “Jaha auffer Couch sitzen und sabbeln – so löst man Quatschprobleme”) dabei gleich mit zu lapidarisieren.

Ich kann nichts auf dieser Party essen. Die Bratwurst guckt wie Penis; die Menschen machen mir Angst, weil sie mich überanstrengen und in Erinnerungen triggern.
Überhaupt ist mir schlecht, denn ich bin in Traumatherapie. Die letzte Sitzung vor gut 2 Tagen, dauerte 2 Stunden, gefolgt von 2 Stunden Krisenintervention übers Telefon. Ich schlafe kaum, weil mein Gehirn aktiv an der Traumaverarbeitung wirkt und mir Bilder, Gerüche, Gedanken, Impulse, körperliche Reaktionen der erfahrenen Traumatisierung, an der wir gearbeitet haben, aufkommen. Das ist okay, denn dafür mache ich das ja.
Diese Arbeit an mir selbst. Diese Traumaver.arbeit.ung im Nachinein, denn für die Prävention hat man sich früher noch weniger interessiert als heute.

Ich bin so wütend über diesen Spot, weil er mir zeigt, wie Werbung dazu beiträgt, dass es auch noch sehr lange meine Arbeit allein sein wird.
Es war meine Arbeit eine Therapeutin zu finden, die mich traumatisierte Person behandeln kann. Es wird meine Arbeit sein, wenn die Krankenkasse sie nicht mehr bezahlt. Es wird meine verdammte Arbeit sein, nachdem 21 Jahre lang andere Menschen ihren Spaß mit meinem Körper hatten und es bis heute keinerlei Möglichkeiten für Menschen in meiner Lage gibt, auf juristische Anerkennung des erlittenen Unrechts zu hoffen, ohne sich dem Risiko auszusetzen, erneut gedemütigt, verletzt und entwürdigt zu werden. Und. nichts. davon. zu. haben.

Es ist so bitter. So so bitter.
Und während Wurst-Atze sich entschuldigt und sagt, er würde sich gegen sexualisierte Gewalt einsetzen, nimmt Wiesenhof den Spot offline.

Ich würge ein Stück Kuchen hinunter und würge es kurze Zeit später wieder heraus, als ich beobachte, wie ein Vater seine Tochter auf den Arm nimmt.
Ja ha Traumatherapie nach Überwältigung von riesengroßen Würsten ist doch echt immer wieder für nen Lacher gut.

Nicht.

Offenheit mit eigenen Opferschaftserfahrungen als emanzipatorische Umgangsentscheidung

Neulich stolperte ich über eine Auseinandersetzung, in der es um ‘Opferpositionen’ und ihre Rolle im emanzipatorischen bzw. feministischen Diskurs ging.

Da wir nun einmal ein Opfer von Gewalt wurden, sind solche Auseinandersetzungen für uns schwierig und letztlich gehen wir vorsichtshalber immer erst einmal davon aus, dass unsere Verletzlichkeit an der Stelle schnell zu Gefühlen führen, die wir nicht hätten, wären wir nicht so konkret betroffen. Das bedeutet: Wir als früheres Opfer hören Personen, die über Opfer und zu Opfern gewordene Personen sprechen zu und ziehen von unseren reaktiv auftretenden Emotionen ein Drittel bis die Hälfte ab.

Denn wir haben gelernt: “Wenn andere über Opfer oder zu Opfern gewordene Personen reden, hast du als ehemaliges Opfer
a) die Klappe zu halten , weil du
b) keine objektive/vernünftige/fachliche/professionelle/richtige Ansicht dazu haben kannst, weil du
c) selbst mal Opfer warst und damit im Falle einer Äußerung
d) ganz eigene subjektive/unvernünftige/unsachliche/falsche Ziele mit jeder Aussage verfolgst, was ergo
e) bedeutet: man muss/braucht/sollte dir sowieso und überhaupt weder zuhören noch deine Worte ernstnehmen, anerkennen und als glaubhaft einstufen, falls doch etwas von dir zu vernehmen ist.”

Ich habe erkannt, dass es sich hierbei um Gewalt und Diskriminierung aufgrund von Vorurteilen und Ergebnissen gelebter Gewaltkultur handelt.
Ich habe aber auch erkannt, dass diese Art der Gewalt so alltäglich und verinnerlicht ist, dass viele Menschen dies nicht merken und entsprechend anerkennen.

Diese Erkenntnisse haben wir uns also so einsortiert, dass wir selbst uns die Hälfte der eigenen Gefühle als unangemessen und falsch abschneiden. Um sie uns dann in einem angemessenen Setting wieder zu erlauben, was uns in der Regel einige Stunden Tage kostet und letztlich dazu führt, dass wir uns nur noch sehr selten mit solchen Auseinandersetzungen befassen.

Wenn in dieser verbliebenen Hälfte eine Empfindung ist von der ich glaube, dass sie, wenn ich sie gut begründe und klar markiere, dass ich davon ausgehe mich vielleicht auch zu irren (weil ich ja weiß: “reaktiv” ≠ “durchdacht und reflektiert” ergo “nicht konstruktiv”), von meinem Gegenüber nachvollziehbar ist, teile ich sie mit.

Und weil ich abwäge zwischen “Anstrengung ein komisches Versteckspiel um die eigene konkrete Betroffenheit + Anstrengung mit einer anderen Person über ein Thema zu sprechen, von dem ich selbst konkret betroffen bin” vs. “Anstrengung mit einer anderen Person zu einem Thema zu sprechen, von dem ich selbst konkret betroffen bin allein” – wähle ich ich oft eher den Weg der Offenheit.

Das bedeutet nicht: “Hey ich bin total offen damit zum Opfer geworden zu sein – ich hab das nämlich alles schon total verarbeitet und kann da jederzeit und mit allen drüber reden”, sondern: “Hey – das hier wird für mich zu schwer, wenn ich nebenbei auch noch was verbergen muss. Also: ich bin konkret betroffen – ich wurde selbst zum Opfer. Das ist ein  Teil des Hintergrundes meiner Argumentation.”.

Für mich ist es wichtig, dass dies für mein Gegenüber klar ist und anerkannt wird.
Und gäbe es eine weitere Verbreitung gegenseitiger und bedingungsloser Annahme und Respekt, würde es andere Menschen weitaus weniger verwirren, erschrecken – und misstrauisch machen, gäbe es auch kein Problem an meiner Vorgehensweise.

Offener Umgang mit eigener Opferschaft bedeutet für viele Menschen eine Wendung im Diskurs, die etwas von ihnen verlangt. Es gibt keine allgemeine Haltung nach der die Erwähnung eigener Opferschaft genau keine weitere Reaktion notwendig macht. Kaum jemand erwähnt die eigene Opferschaft im ganz üblichen Gespräch und niemand erklärt ein Gespräch, in dem auch Opferschaftserfahrungen vorkamen, als eines der üblichen, die man halt so hat.
Und genau das ist das Problem.

Das große Schweigen über Gewalterfahrungen, das immer wieder erwähnt wird, gibt es meiner Meinung nach nicht.
Es gibt ein Schweigen, wenn es darum geht etwas zu erreichen. Etwa in Kontexten der juristischen und polizeilichen Strafverfolgung. Doch das ist kein Schweigen über Gewalterfahrung – das ist ein Schweigen über Opferschaftserfahrungen innerhalb eines Machtkontextes, der sich auf genau zwei Positionen konzentriert: Opfer und Täter_innen und diese unterschiedlich bewertet bzw. beurteilt.

Wir haben diese Dichotomie im Alltag, in der Sprache und auch in den Diskursen, entlang derer sich zu positionieren und auch zu kultivieren versucht wird. Dies erschwert Opferschaft(erfahrungen) als einen allgemein möglichen Hintergrund einer Person im Diskurs anzuerkennen ohne reaktive Bewertungen und Imperative folgen lassen zu müssen.
Das ist der Punkt weshalb es opferfeindliche Begriffe wie “Opferabo”, “Opferperformance” oder die Formulierung “die Opferkarte spielen” gibt, die transportieren, dass Opferschaft etwas ist, das etwas zur Folge hat bzw. darauf abzielt zu etwas benutzt zu werden, das jemandem etwas bringt. Positive Aufmerksamkeit zum Beispiel. Oder Mitleid. Oder weniger strenge Beurteilungen und Bewertungen von Fehlern. Mehr Flausch.

Ich erlebe durch meinen offenen Umgang mit der eigenen Opferschaft in der Regel nervig umständliche Furchtsamkeit, allgemeine Umgangsunsicherheit, den Wunsch stellvertretend etwas gut für mich zu machen, derailing, Leidvergleiche und oben beschriebene Absprache von Verstand, Vernunft, Berechtigung mich weiterhin zu äußern.
Nichts davon ist etwas, womit ich gut umgehen kann und nichts davon ist etwas, das mir gut gefällt oder gut tut. Aber alles davon gehört zu verinnerlichter Gewaltkultur und hat genau nichts mit mir und meiner Opferschaftserfahrung zu tun.

Ich kann Menschen die Furcht vor Kontakt (Teilhabe, Zeugenschaft – also Mitkenntnis und daraus auch Mitverantwortung in einem weiteren und zukünftigen gemeinsamen Kontext) nicht nehmen, wenn der Umgang einzig unüblich ist. Wenn es immer special irgendwas bedeutungsvolles hat, dann kann es nicht üblich werden und dann kann es in den Köpfen und Erwartungen der Menschen, mit denen ich zu tun habe, auch nie zu etwas werden, das im Zusammenhang mit anderen Menschen, die ihre eigenen Opferschaftserfahrungen transparent machen, nicht mehr als etwas gilt, das synonym mit “die Person will jetzt was von mir” ist.

Es gibt Menschen, die zu Opfern wurden, für die es ein Weg ist Menschen schonungslos zu behandeln, wenn es um die alltägliche Realität von Gewalt geht.
In meinem social media – Kosmos begegnen mir immer wieder mal Personen, die es für wichtig und angemessen halten Gewalterfahrungen in allen möglichen Details zu schildern um niemanden zu verschonen, so wie sie selbst nicht verschont wurden.
Für mich ist das eine Form Gewalt weiterzutragen und kein inhaltlicher Diskursbeitrag. Leider ist es nicht üblich offen als zu Opfern gewordene Menschen auftretende Personen auf gewaltvolles Handeln aufmerksam zu machen. Schon gar nicht gibt es genug etablierte Praxen anzuerkennen und zu verinnerlichen, dass eigene Gewalterfahrungen nicht davor schützen selbst Gewalt auszuüben.

Gänzlich außen vor bleibt im derzeitigen Diskurs die Zeug_innenschaft und die Auswirkungen dessen sind fatal, denn häufig gelten Zeug_innen als gar nicht betroffen von der Gewalt, die in ihrem Beisein geschehen ist oder von der sie erfahren haben. Und wo keine Betroffenheit zugestanden wird, da wird neben einem Leiden unter Belastungsreaktionen auch abgesprochen, eine Mitverantwortung oder Mitbeteiligung oder noch schlichter formuliert: Teilhabe an dem Geschehen zu haben und/oder empfinden zu können.
Durch die Ignoranz von Zeug_innenschaft als wichtiger Bestandteil des Miteinander (auch und gerade im Fall von Gewalt im Sinne einer Schädigung) wird ignoriert, dass es eine Mitbeteiligung gibt, die neben “das gute zu flauschende Opfer” und “die bösen zu hassenden Täter_innen” steht.

Viele Zeug_innen wollen nichts mit der Gewalt zu tun haben. Manche, weil sie sich nicht der Mitverantwortung stellen wollen. Manche, weil sie selbst ihre Zeug_innenschaft nicht reflektieren. Manche, weil sie keinen Anhaltspunkt für die Relevanz dessen finden können.
Die meisten Zeug_innen halten sich selbst für irrelevant, weil sie innerhalb der offiziellen Dichotomie zur Klärung von Opfer-Täter_innenschaft im juristischen Kontext keine relevante Rolle innehaben.

Für uns sind Zeug_innen hingegen sehr wichtig. Unsere Therapeutin ist für uns neben ihrer Rolle als unsere Begleiterin in unserem Auseinandersetzungsprozess auch eine Zeugin für ebenjenen Prozess geworden. Wir sprechen mit ihr über unsere Gewalterfahrungen und damit wird sie automatisch auch zur Zeugin.
Durch ihre Zeuginnenschaft (unabhängig davon, ob sie uns in unserer Opfer- oder Täter_innenschaft bestätigt oder negiert!) wird die geteilte Erfahrung zu etwas, das tatsächlich war. Sie wird zu etwas, das nicht zu leugnen, nicht zu ignorieren und deshalb auch zu verarbeiten ist.

Letztlich ist es ihre Zeug_innenschaft, die uns selbst davon entlässt eine Bewertung oder reaktive Beurteilung unserer Rolle überhaupt vornehmen zu müssen. In dem Moment, in dem wir die Gewalterfahrung miteinander teilen (bzw. wir sie ihr mit_teilen) entsteht für uns ein Raum gemeinsamer Betroffenheit bzw. ein Raum, in dem wir spüren, dass wir über ein gemeinsames Wissen um eine Erfahrung miteinander verbunden sind. Darüber treten für uns ganz konkrete Umgangsfragen in den Vordergrund, die durch wertungs- und urteilszentrierte Diskurse häufig eher unnötig verzerrt und gestört werden.

Unsere Gemögten, Gemochten und Bekannten sind ihrerseits aber auch wichtige Zeug_innen für uns. Auch mit ihnen teilen wir gemeinsame Kenntnis von Opferschafts- und/oder Gewalterfahrungen (aber natürlich auch vielen anderen Erfahrungen!) und erleben uns darüber miteinander verbunden.
Auch hier entstehen Umgangsfragen, die letztlich sehr gut auch in emanzipatorische Diskurse einfließen.

Ich möchte nicht, dass das Mitteilen meiner Erfahrungen dazu führt, dass sich andere Menschen unfrei in ihren Entscheidungen und Wahlmöglichkeiten fühlen, nur weil wir miteinander verbunden sind. Eine Auffassung der Zeug_innenschaft an der Stelle ist genau deshalb auch hilfreich, gerade, weil sie von der beurteilenden oder wertenden Instanz entbunden sind.

Wir möchten auch nicht, dass unsere Mitmenschen bewerten oder beurteilen, was wir erlebt haben. Weder die Erfahrungen selbst, noch unseren Umgang damit, denn letztlich sind wir die Person, die diese Erfahrungen gemacht hat und mit den Konsequenzen leben muss. Egal, ob bezeugt oder nicht. Egal, ob bewertet oder nicht. Egal, ob beurteilt oder nicht. Egal, ob als wahrhaft anerkannt oder nicht.

Unsere Offenheit mit unserer früheren Opferschaft ist, neben ganz schlichten Versuchen die eigenen Kräfte zu schonen, also eine auch emanzipatorische Umgangsentscheidung.
Wir erwarten keine Rücksicht, keinen Flausch, keine milden Urteile. Wir erwarten, dass unser Erfahrungshintergrund mitbedacht und anerkannt wird – unabhängig von Täter-Opfer-Dichotomie und anderer gewaltkultureller Praxis.
Wir hoffen, dass Zeug_innenschaft etabliert wird. Wir hoffen auf Verbindung und Miteinander.

Wir wollen einen Diskurs, der sich endlich den Umgangsfragen widmet.
Unsere Offenheit ist ein erster Schritt darauf zu.

zu Gewalt legitimierender Gewalt

Meine aktivistische Timeline bemüht sich gerade darum aufzuzeigen, wie rassistisch derzeit über die Gewalt in der Silvesternacht in Köln berichtet wird.
Dort wurden Vergewaltigungen, Belästigungen und Diebstähle angezeigt. Gesprochen wird von Gruppengewalt und von vielen unbestätigten Personenzahlangaben.
NRWs Innenminister Ralf Jäger wird zitiert:  „Wir nehmen es nicht hin, dass sich nordafrikanische Männergruppen organisieren, um wehrlose Frauen mit dreisten sexuellen Attacken zu erniedrigen“.
Und das Rassismus – rape culture – Bingo ist voll wie die Schnauzen der “Frauen gegen Gewalt e.V.”, die sich nun versammeln um sich zu wehren.

Vielleicht liegt es an rosenblattschen Sprachknall – aber ich habe gelernt “sich zu wehren” passiere erst, wenn man angegriffen wird. Agiert man gegen Personen oder Umstände außerhalb eines konkreten Bedrohungsmoments, so handelt es sich weniger um Abwehr zum Zwecke des Selbstschutzes, als um Verstärkung bzw. Etablierung bestehender Abwehrmechanismen. Das kann dann auch mal bedeuten, dass es um Rassismus, rassistische Ressentiments, cissexistische Täter-Opferspaltung und diverse viele (alle) andere mögliche *ismen geht.
Nur halt leider nicht darum, ein gutes und respektvolles Miteinander zu suchen und zu etablieren.

Und eigentlich könnte dieses schon an der Stelle beginnen, wie es kommt, dass es bei Großveranstaltungen, wie einer Silvesterfeier, die durch die Kombination von Menschenmasse, Alkohol und freien Zugang zu Sprengstoffen grundsätzlich hochgefährlich ist, ein ganzes Aufgebot von Polizist_innen und Sondereinheiten bereitsteht – dieses jedoch nicht in der Lage ist, Straftaten jeder Art auch tatsächlich zu verhindern bzw. Täter_innen noch vor Ort auch zu stellen und in Gewahrsam zu nehmen.
Die gleiche Frage stellt sich in Bayern zu jedem Oktoberfest und vermutlich steht diese Frage zu jeder größeren Veranstaltung gleichsam im Raum.

Aber nein – diesmal gibt es die rassistische Nische, die dann auch von Kristina Schröder genutzt wird um von “gewaltlegitimierender Männlichkeitsnorm muslimischer Kultur” zu sprechen, statt davon, wie der Umgang mit Gewalt, ihren Opfern und denen, die sie ausüben, generell so ist.
Es wird “der muslimische Mann” in den Fokus gerückt und wieder einmal ist “der deutsche Ehemann und Vater”, der vielleicht nicht einmal tatsächlich auch ein Mann sondern ein Nongender, Agender, ein was auch immer ist, aus dem Kreis möglicherweise problematisch gewaltlegitimierend sozialisierter Personen gestrichen.
Und wieder einmal sind es weiße deutsche Frauen, die als Schutzobjekt herhalten müssen. Wieder geht es nicht um geflüchtete Frauen, behinderte Frauen, Frauen, die nicht als weiß und deutsch kategorisiert werden, die zu Frauen erklärten Personen, die Transfrauen und und und, die, alle jeden Tag, mit Gewalt konfrontiert sind, die manchmal mit manchmal ohne physische Spuren bleibt.

Die derzeitige Debatte lockt antifeministisch bis pseudomaskulinistisches Pack an, das sich von rechtspopulistischen Figuren wie Birgit –rape culture seems legit – Kelle nur bestätigt fühlen kann und viele Twitteraktivist_innen erleben gerade einen Aufschrei-Flashback. Es ist wie die tausendste Runde Kackscheiße, die weh tut, die verletzt, die zermürbt und letztlich – trotz Grimme online Award und so vielem gutem mehr, das aus dem Hashtag hervor ging – wenig Konkretes in den Köpfen derer, die Verantwortung übernehmen müssten und auch können! stehen ließ.

Ich würde gerne die Silvesterstatistiken der letzten Jahre sehen. Würde gerne überprüfen, ob es sich um ein echtes “mehr Gewalt” handelt, oder um einen Grund “über eine personelle Verstärkung der Polizei sowie eine temporäre Videoüberwachung” zu diskutieren.
Ich möchte eine Auseinandersetzung damit, dass Gewalt – insbesondere sexualisierte Gewalt an Frauen und als “Frauen” (trotz anderer Geschlechtsidentität) benannter Personen – mehr und mehr zu einem gewaltlegitimierendem Grund für Rassismus und andere Formen von Diskriminierung und damit: Gewalt wird, statt zum Anlass sich ganz konkret mit Aufklärungs-, Präventions- , Schutz- und Hilfemaßnahmen für alle Personen gleich auseinander zu setzen.

Hier ein paar Missstände, an denen man sich gleichermaßen abarbeiten kann
– es gibt zu wenig Schutz- und Beratungsstellen für Menschen, die Gewalt erfuhren
– es gibt zu wenig Therapieplätze für Personen, die Gewalt erfuhren und Verarbeitungsprobleme haben
– es gibt zu wenig kultursensible Beratungs- und Hilfsangebote
– es gibt zu wenig gendersensible Hilfs- und Beratungsangebote
– es gibt zu wenig gute und sichere Unterkünfte für geflüchtete Personen
– es gibt eine erbärmliche Rechtslage in Sachen sexualisierter Gewalt
– es gibt erbärmliche Rechtsgrundlagen in Bezug auf alles, was zwischenmenschliche (im Sinne von sozialer) Gewalt angeht
– es gibt zu wenig Menschen, die begreifen, was Rassismus, Sexismus – allgemein Diskriminierung und Gewalt überhaupt ist
– es gibt zu wenig Orte, an denen respektvolles Miteinander für alle gleichermaßen einzuüben ist
– es gibt zu wenig Menschen, die begreifen, dass sie gemeint sind, wenn es um Aufrufe zum angenehmen und inklusivem Miteinander geht

Es gibt so verdammt viel mehr zu tun, als ausgerechnet jetzt seinen Rassismus auf Kosten von Personen, die zu Opfern wurden zu legitimieren!

der Hashtag-Rant

Schlaglicht, #ThereIsNoPerfectVictim und ganz viel Wut im Bauch

In der letzten Zeit lese ich immer wieder Tweets, in denen sich Bystander und Verbündete, Unterstützer_Innen und auch Personen, die selbst zu Opfern wurden, dafür aussprechen, Personen, die zu Opfern wurden, doch bitte mehr Verständnis und Empathie entgegen zu bringen. “Bitte seid doch mal lieb zu den Opfern! Hört doch mal auf die Opfer immer noch weiter fertig zu machen.”
Ich weiß nicht, in was für einer Welt diese Menschen leben. Vielleicht liegts auch nicht daran, dass da eine andere Lebensrealität gelebt wird, sondern einfach mal die Lebensrealität von Personen, die zu Opfern wurden, zu erfassen nie als Forderung formuliert wird. Es wird immer wieder “bitte bitte” gemacht – immer wieder in eine Masse hineingebeten, die einem Bitten erst dann nachkommt, wenn sie die direkte Eigenbeteiligung begreift.

Der Hashtag dreht sich um rape culture/ Gewaltkultur bzw. das Ergebnis ebendieser, dass eine Person, die zum Opfer wurde, sich im Grunde nie “richtig” verhalten kann, um in seiner erfahrenen (von der Person so definierten) Opferschaft anerkannt zu werden. Much Erkenntnis. Guten Morgen.
Doch die Frage, warum es die Anerkennung durch andere Personen braucht, um sich als Opfer anerkannt zu sehen – warum es erneut eine Definition des eigenen Status als Opfer (zum Zeitpunkt XY) durch eine andere Person oder auch durch einen Rechtsspruch braucht, bleibt weiterhin unangetastet.

Gewalt wird erneut zu einem (einzelnen) Vorfall innerhalb eines isolierten sozialen Raumes gemacht, nämlich der persönlichen Lebenserfahrung einer Person, die einzig durch die Bewortung mit dem Begriff “Opferschaft”, als tatsächlich – als wahr-haft gelten kann.
Unter dem Hashtag wird auch perpetuiert, dass diese Bewortung alles gut machen würde. Ein Rechtsspruch, einmal Gewalterfahrung anerkannt und alles ist gut. Oder auch, dass Empathie und Verständnis für das Verhalten von Personen, die zu Opfern wurden, alles leichter oder besser oder einfacher machen würde.

Sicherlich würden sich viele Personen, die gerade vor ihren abgelehnten Opferentschädigungsanträgen sitzen, die sie vor bis zu 10 Jahren stellten und erst nach unzähligen entwürdigenden Befragungen und Begutachtungen, erhalten haben, besser fühlen, wenn auch nur eine einzige Person auf der Welt sagt: “Das ist echt scheiße und es tut mir leid, dass dir das passiert ist.”
Aber als Person, die zum Opfer wurde und eine ganz spezifische Lebensrealität hat, die von einer anderen Person ver.schuld.et wurde, wird sie damit nicht anerkannt.
Von Verständnis kann man keine Schlafstörungen, keine Depression, keine Suchtrisiken, keine verdammte posttraumatische Belastung, kein einziges soziales Stigma, das mit dem, was wir “sexualisierte Gewalt” nennen, einhergeht, los werden, überwinden, wegmachen.

Es ist scheiß egal, ob man als Opfer irgendwo anerkannt ist oder nicht – man hat immer immer immer das Recht darauf respektvoll, empathisch, verständnisvoll und achtsam behandelt zu werden. Immer. Egal, welche Lebenserfahrungen man gemacht hat, egal welche Unrechte und Gewalten in seinem Leben wüten oder gewütet haben.
Als Opferschaft ist ein Zustand zu betrachten – keine Identität, kein Sein.

Vielleicht bin ich inzwischen so sehr im emanzipatorischen Stoff und Denken drin, dass die Wichtigkeit von Anerkennung meiner Gewalterfahrungen durch andere Menschen inzwischen weniger die Relevanz hat, als sie das vor vielleicht 7/8 Jahren hatte. Vielleicht habe ich aber auch einfach das “Bitte Bitte-machen – Spiel” mit unserer Gesellschaft schon zu oft durchgespielt.

Mich macht dieser Hashtag so wütend, weil ich nicht mehr traurig sein kann.
Weil ich einfach nicht mehr darüber weinen kann, dass es keine einzige Sichtbarkeitsbemühung für die Lebensrealitäten von Personen, die zu Opfern wurden, schafft, Opferschaft zu definieren. Weil Mythen verfestigt und nicht gleichsam breit aufgeklärt werden. Weil die Frage danach, wie man einen Alltag miteinander gestalten muss, damit Personen, die zu Opfern wurden, nicht für immer auch Opfer bleiben, ungestellt bleibt. Weil Strafen, Justiz und Wahrheitsansprüche in den Vordergrund gerückt werden, als wären dies die einzig wichtigen Schritte für Personen nach Gewalterfahrungen.

Für mich gibt es keine und wird es auch nie nie nie nie
verdammt nochmal NIEMALS diese eine Gerechtigkeit geben, wie sie unter diesem Hashtag und in so vielen vergleichbaren Aktionen angestrebt wird. Ich und so viele andere Menschen, die als Kinder misshandelt wurden und erst als Erwachsene Worte dafür finden; so viele Menschen, die durch Kriegsverbrechen und alles, was diese für ihre Leben bedeuten, verletzt wurden; so viele Menschen, die gar nicht wissen (und vielleicht bis sie sterben nicht bewusst bekommen können), dass sie “die Opfer” sind von denen hier und da mal in einer Aktion gesprochen wird …
wir leben ein Leben, in dem wir unter Umständen erfahren, dass uns auch dann, wenn uns geglaubt wird, nicht geholfen, nichts entschädigt, nichts wieder gut gemacht wird.

Fragt doch mal die ehemaligen Schüler_Innen der Odenwaldschule, die Menschen, die auf die Misshandlung in verschiedenen kirchlichen Gemeinden aufmerksam gemacht haben; die Menschen, die früher in Kinderheimen untergebracht wurden;, die Menschen, die uns heute als “Holocaust-Überlebende” aus den Zeitungen anschauen, die Menschen, die als “Opfer von Menschenhandel”, als Geflüchtete,
als Hartz 4 – Abhängige in neongelben Fluren von Behörden jeder Stadt auf Zettel warten – geht doch endlich mal da hin und hört zu, worum es eigentlich geht.
Die Masse dieser Menschen sitzt gar nicht da und sagt: “Wenn mir doch nur endlich jemand glaubte…” – die sagt: “Ach, wenn mir doch DIE RICHTIGEN glauben würden…” und das ist ein Unterschied. Das ist der Unterschied, der, weil er politisch ist, so selten auch wirklich gemacht wird.
Weil er so politisch ist, dass er klar macht, dass es auch bei dem was wir „Politik“ nennen, wieder um Gewalt und Opferschaft geht.

Natürlich können wir uns die grauen Wintermonate damit vertreiben einander unser Leid mitzuteilen und dabei auch laut werden. Alles echt kein Thema. Ich finde es gut, wenn Menschen, die zu Opfern wurden, laut werden, sich schwer und sichtbar machen.
Nur diese Reinszenierung der absoluten Abhängigkeit von einer äußeren Definition braucht es nicht, um mit Menschen, die zu Opfern wurden, respektvoll, achtsam, empathisch und wertschätzend umzugehen.
Es braucht eine Bewegung, die diesen Umgang als so wichtig und nötig markiert, wie er für alle Menschen von der Wiege bis zu Bahre immer immer immer – egal was auf dem Weg dazwischen passiert – wichtig und nötig ist.

Perspektive 2

“So sieht sie also aus, werden sie denken”, denkt sie.
“So etwas wie einen “neutralen Blick” auf Menschen gibt es nicht”, weiß sie.

Erwartungen hat sie noch nie erfüllt. Haben wir noch nie erfüllt.
”Steht auf meiner Stirn der Opferbegriff? Rahmt er meine Fettdecke ein? Blinkt er auf meiner Kleidung?”, sie steht inmitten des Körpers und versucht sich doppelter Objektivierung an sich selbst.
Es ist einer dieser Momente, in dem allen, außer ihr, auffällt, dass sie einen Körper betrachtet, der ihr nicht gehört, nicht sie ist, aber von ihr belebt wird. Manchmal. Meistens. Den sie sich als “sich selbst” zu betrachten verpflichtet fühlt.

Es gibt Menschen, die denken, nur schöne Menschen würden vergewaltigt, verkauft, verraten, misshandelt, gedemütigt, verletzt, ausgenutzt.
Sogar AnwältInnen und psychologische BeraterInnen denken so etwas. “N Fetisch gibts für alles- aber bei jemand, der so aussieht, fällts mir schwer das zu glauben…”.
In ihr geht jedes Mal etwas kaputt, wenn sie auf solchen Wegen mit der Tiefe der Gewaltkultur unserer Zeit konfrontiert ist.

Kein Opfer werden. Kein Opfer sein. Sich nicht wie ein Opfer verhalten. Nicht wie ein Opfer aussehen.
Sie hört und sieht diese Botschaften überall. Beim Selbstverteidigungskurs; im Gespräch darüber, wer wie zu einem Job kommt; im Gespräch darüber, was andere Menschen attraktiv an anderen Menschen finden; in der Begründung für Anerkennung verschiedener Leistungen.

“Es ist keine Selbstbezeichnung von mir.”, sagt sie ihrem Spiegelbild. “Es ist ein Wort, dass nicht von denen kommt, die es benennt.”.
Sie nickt und atmet den Duft der Mascara ein.

“Ich bin einfach nur M..
Wörtersucherin und zufällig auch Körper der Gewalterlebnisse hatte.
Irgendwie.”

“Wir sind Viele” ~ Teil 9 ~

Ich wollte mich spontan auf den Raumboden fallen lassen, als das Wort “Cybermobbing” fiel.
Wir saßen im Workshop mit dem Titel “Tatort Kinderseele – Die gesellschaftspolitische Dimension der Verleugnung sexualisierter Gewalt”. Ein Workshop über dessen Teilnahme ich lange, allein schon wegen der Überschrift, gründlich nachgedacht hatte.

Ich bin bis heute davon überzeugt, dass die Gesellschaft ™  gar nicht mal so viel Gewalt verleugnet, wie das bis heute gerne in den Medien ™ die Runde macht, sondern viel eher einfach gar kein einheitliches Verständnis davon hat, was Gewalt ist, welche Formen wann und wo auftreten und – dass sie einen so alltäglichen Stellenwert in sowohl unserer Gesellschaft, als auch unseren Vorstellungen von Moral und allgemeinen Umgang hat, dass die Auseinandersetzung damit einfach immer schwierig und an vielen Stellen undifferenziert ist- obwohl das allgemeine Framing ist: “Gewalt ist schlecht/ böse/ schlimm/ darf nicht sein”

Wir hatten nur eine Tasse Kaffee, viel zu wenig Schlaf und dann auch noch diese Themen. Und dann war ich wiederholt live dabei als über “dieses Internet” gesprochen wurde, als wäre es einzig das Darknet in dem sowohl “Silk Road” als auch andere illegale Plattformen zu Hause sind und auf kleine unschuldige Kinderseelchen, die doch nur ein bisschen unschuldigen Spaß mit dem Smartphone machen, warten, um sie sich einzuverleiben und ihnen Gewalt anzutun.

Ich dachte wieder darüber nach, ob es ein Thema der Generationen ist. Ob man mit dem Internet irgendwie groß geworden sein muss, um nicht nur in Sorge oder mit einem moralischen Zeigefinger in der Höhe damit zu interagieren.
In der ganzen Tagung war ganz oft die “Internet als Raum”- Metapher und so auch der Faden “dort drin in diesem Internet, da sitzen auch TäterInnen und dort lassen Menschen ihre Kinder rein”, obwohl das Internet nichts weiter ist (und auch nie mehr war) als ein Kommunikationsmittel bzw. korrekter ausgedrückt ein Datentransfermittel.

“Cybermobbing” ließ mich wieder an die 90 er Jahre denken. Der Begriff dafür ist heute “virtuelle Gewalt” und dieser ist in meinem persönlichen Empfinden einerseits besser, weil er alle Formen von Gewalt, die via Internet passieren, unter einen Hut bringt (vom unaufgefordert geschickten Pimmelfoto bis zur Hassmail mit Morddrohung) andererseits aber auch schwierig, weil die Gewalt nicht virtuell ist, sondern nur virtuell transportiert wird. Die Einschläge, die sie hinterlässt, sind genau die gleichen, wie es analog/ direkt/ physikalisch transportierte Gewalt tut, was man zum Beispiel am Leidensweg der Amanda Todd sehr gut nachzeichnen kann.

Alles in allem hat mir in der gesamten Tagung, wenn das Thema Internet zur Sprache kam (und das kam es oft), sehr der, für mich persönlich auch sehr wichtige, Leitsatz gefehlt, dass es Menschen sind die Gewalt ausüben und das Internet als Mittel dazu benutzen- und zwar a) Menschen jeden Alters b) in jedem über das Internet verfügbaren Medium und c) mit jeder Intension, die Gewalt haben kann- das Internet als solches, aber weder Brutstätte noch Ursache für Gewalt und ihre Folgen sind.

Wir sprachen über das “Sexting” und darüber, dass das wirklich schlimm ist.

Das Thema hatten wir auch schon im Workshop mit Claudia Fischer am Vortag und mir ist dabei diese Haltung gegenüber den Jugendlichen aufgefallen, bei der ich immer wieder denke: “und genau deshalb kommen sie dann nicht zu Erwachsenen, wenn sie mit sexualisierten Inhalten konfrontiert sind, sie selbst produzieren und verteilen oder jemanden sie sogar nötigt dies zu tun”.
Das war für mich sehr von der Verleugnung getragen, dass Kinder und Jugendliche eine Sexualität haben und natürlich auch leben. Irgendwo darunter war für mich die Kette: “Kinder sind immer unschuldig, rein, sauber und unantastbar wertvoll- aus ihnen selbst heraus kann nichts “Schlimmes” (moralisch Falsches/ Böses) kommen- schon gar nicht, wenn das Umfeld gut ist.”

Dass dieses Umfeld aber mehr beinhaltet, als die Kernfamilie und den Pausenhof, und, dass Medienkompetenz nicht meint “da ist der Knopf zum An- und Ausmachen”, fehlt mir oft, wenn ich mit dem Thema “Sexting”, sexualisierte Gewalt & Internet & Jugendliche zu tun habe.
Für mich persönlich ist Sexting die logische Folge aus (weiblicher) Sexualität als Mittel zum Zweck, die gerade unter Jugendlichen, die in ihrer Entwicklungsphase sehr klar mit den Themen der Außenwirkung und (sexueller) Identität befasst sind, gar nicht Halt machen kann und im Zuge der massiven Konsumkultur mit all ihren Mitbringseln auch gar keinen Platz mehr zur Kritik haben kann. So denke ich, liegt das Entsetzen (?) Erwachsener nicht im Sexting selbst, sondern in der Selbstverständlichkeit und eher positiven Belegung der Jugendlichen, beim Hergeben ihrer Intimität.
Als gäbe es die Option im Internet (wieder die Raummetapher) wirklich intim, geheim, anonym zu agieren. Die Währung des Internet sind Daten und diese Daten sind immer personenbezogen. Wir bezahlen unsere Vernetzung über das Internet immer und immer mehr mit Teilen von uns selbst. Und Jugendliche tun das schon ihr ganzes Leben lang so massiv, wie wir heute, die wir das im Verlauf beobachten.
Privatsphäre ist, wie auch persönliche Intimität ein Mittel zum Zweck und hat mit Selbstwert eher später etwas zu tun. Nämlich dann, wenn auffällt, dass man “im Internet” nur ist, was man produziert, teilt und am Ende für andere Menschen als sich selbst darstellt- was cool ist, wenn Selbst- und Fremdwahrnehmung kongruent sind- nicht aber, wenn dem nicht so ist und eine Abwertung passiert.

Und dann- die Scham, die trotzdem noch irgendwo da ist.
Darf man sich heute noch unverblümt für Sex oder noch eine Stufe darunter: Körperlichkeit schämen, ohne pathologisiert oder aus anderen Gründen darin nicht respektiert zu werden? Was für eine soziale Rolle blüht Menschen, die sagen: “Der letzte Unterwäscheclip von C & A hat mich grad näher an Sex herangeführt, als es der Mitternachtserotikfilm bei Kabel 1 vor 10- 15 Jahren tat.”.
Es ist das Eine als Jugendliche/r da zu stehen und zu sagen: “Ich habe über das Internet Kontakte mit der ganzen Welt und einer von denen, hat mir ein Bild von seinem Penis geschickt und hört nicht auf, mich damit zu ekeln” – das erfordert Mut und ein gutes Verhältnis.
Das Andere ist es aber, Eltern/ Erwachsene/ ein soziales Umfeld auszuhalten, das dann nicht etwa sagt: “Das ist Gewalt und es tut mir leid, dass du diese Erfahrung machen musstest. Hast du das Bild und den Kontakt gespeichert? Ja?- dann komm zack!- wir gehen zur Polizei und blocken dann den Kontakt in deinem Netzwerk (oder reagieren sonstwie irgendwie konstruktiv und gehen in eine Diskussion, wie Netzwerke sicherer nutzbar sind/ werden könnten)” sondern mit höherer Wahrscheinlichkeit sagen: “Mit was für Leuten treibst du dich rum? Was hast DU getan, damit der das macht? Handyverbot- Internet gestrichen… weil ich muss dich schützen.”.

An der Stelle beginnt für mich auch der konstruktive Ansatz in Sachen Strafverfolgung und Verantwortung der DienstleisterInnen und BetreiberInnen von Netzwerken, Diensten, Programmen und Portalen. Wenn man heute zur Polizei geht und solche Dinge anzeigt, dann kann man Glück haben und eben nicht zu hören bekommen: “Ja, du hast es provoziert/ du hast dich unvorsichtig verhalten/ ihr Jugendlichen mit eurer Dummheit- war doch klar… “; man kann aber auch Pech haben und genau dieser Glanzvorführung von “rape culture” zuschauen, um dann aber am Ende immer gleich vor einer Ohnmacht der Justiz zu stehen, die schlicht nicht in der Lage ist, auf diese Art der sexualisierten Gewalt/ sexuellen Belästigung etc. einzugehen, weil die Handhabe fehlt oder die (technischen) Möglichkeiten fehlen, um zum Beispiel zu beweisen, dass der Inhaber des PC dessen IP- Adresse nachweisbar ist, auch derjenige ist, der die Gewalt verübte.

Das ist eine Krux, doch nichts, wovor man weiter ohnmächtig bleiben muss.
Bleiben wir mal beim Sexting, sehe ich schon Möglichkeiten des Umgangs und zwar die, dass den Kindern und Jugendlichen klar gemacht wird, dass ihre Fotos, vielleicht nicht sofort hier in Deutschland aber in den Staaten, in denen die Server stehen, über die ihre Fotos wandern und weitergesendet werden, als illegales pornografisches Material gelten und dies eine Straftat ist. Das ist die Sachebene in der ich mir viel mehr Medienkompetenz in der breiten Masse wünsche, die über: “Ebay, Amazon, große böse Täterlandschaft = Internet” hinausgeht. Die Jugendlichen wissen um ihre Reichweite, sie wissen, was sie damit erreichen wollen und in der Regel wissen sie auch um das Risiko, das sie eingehen. Sie wissen es aber nicht auf allen Ebenen und können in der Regel noch keine so umfassenden Abwägungen anstellen, wie Erwachsene. Das heißt nicht, dass man sie davon entbinden muss- das heißt, dass sie Vorbilder brauchen.

Dann ist da die individuelle Ebene in der es darum gehen muss, Kindern und Jugendlichen eine Sicherheit in Bezug auf sich selbst zu vermitteln. “Du bist deine Daten, aber du bist nicht, was ein Algorhythmus oder sonst irgendjemand aus deinen Daten macht!”.
Damit meine ich nicht “Du musst deine Kinder zu Selbstbewusstsein erziehen” sondern “Es ist wichtig sich seiner selbst bewusst zu sein und genau den Blick dafür zu stärken und als ausschließlich von und für sich selbst als wertig zu schätzen.”.

Generation “Wehr dich doch”, will, dass die Politik alles richtet. Will die Vorratsdatenspeicherung, will Internetpolizei; will, dass wem etwas passiert ist, sich auch wehrt und zur Not auf die VerursacherInnen draufhaut und donnert empört seine rechtschaffende Faust auf den Tisch, wenn das nichts bringt.
Ohne sich zu fragen, ob das einfach vielleicht auch daran liegt, dass Gewalt nicht mit Gewalt zu bekämpfen ist.
Auch nicht in Sachen Internet.

Ich glaube daran, dass wir die gesamtgesellschaftliche Aufgabe haben, Gewalt als solche zu benennen; die Betroffenen zu schützen und zu stärken; die Taten zu ächten und die TäterInnen zur Verantwortung zu ziehen und in Sachen Internet dafür zu sorgen haben, dass jedes Unternehmen sich geschlossen gegen Gewalt und Ausbeutung zu stellen hat- sowohl in der Unternehmensstruktur, als auch im Hinblick darauf, welche Inhalte mit ihrer Hilfe geteilt und so verbreitet werden.
Die Anbieter hinter Internetdiensten und Co. sind in meinen Augen bis heute und auf sehr vielen Ebenen die unsichtbaren MittäterInnen in jedem Fall von Kinderfolterdokumentation und ihrer Verteilung über das Internet, in jedem Fall von Selbstmord eines Menschen nach einem Shitstorm und an jeder Gefährdung eines Menschen, der sich zur Ware macht/ zur Ware gemacht wird (machen lässt), weil er analog keine andere Chance sieht bzw. leben kann, etwas zu erreichen.

Es ist unser Internet und wir haben die Verantwortung es so zu gestalten, dass Gewalt darin keinen Platz hat.
Dazu müssen wir lernen, was genau Gewalt ist und wann wir selbst gewalttätig agieren- egal, über welchen Kanal wir gerade miteinander zu tun haben.

 

Ich war so froh um den Kaffee, den es nach dem Workshop gab und so stolz auf mich, dass ich nicht still geblieben bin.
Aber so langsam breiteten sich auch unangenehme Gefühle in mir aus.