böse Mädchen

Malve3 Ich habe über “böse Mädchen” und “fehlende Opfersolidarität” nachgedacht.

Ich lese gerade eine Sammlung von Texten zur Frauenbewegung von 1887 und beobachte (und belächle) Parallelen, die sich mir dabei aufdrängen.
Es geht dabei viel um “du bist FeministIn- du MUSST das doch auch so sehen- das MUSS doch auch dein Ziel sein…” – es geht um den Wunsch/ die Forderung nach Solidarität (Loyalität) zueinander, wenn man das gleiche Ziel hat.

Letztlich scheint es ein grundlegendes Bewegungsproblem zu sein, die Gleichheit von Welt- und Meinungsbild als Grundlage für Loyalität und diese wiederum als Alleinstellungsmerkmal von Solidarität zu betrachten. Wird diese Gleichheit nicht gesehen bzw. anerkannt (oft genug ist sie grundsätzlich ja da, wird aber aufgrund diverser *ismen und ihren begleitenden (Fehl)Schlüssen als nicht geltend gelabelt), wird fast reflexhaft exkludiert.

Das Traurige dabei ist, dass das Ziel der Bewegung in aller Regel eines ist, das aufgrund verschiedener *ismen entstandene (und aufgrund verschiedener *ismen auch nur bestimmten Gruppen so sichtbare und/ oder erlebbare) Miss- Um- stände verändern möchte, doch zeitgleich wiederum in der Bemühung möglichst niederschwellig und „massekompatibel“ zu agieren, diverse (wenn auch andere) *ismen verwendet und in der Folge produziert, was *ismen eben so produzieren: Machtgefälle (Gewalten).
So kann keine 100%ige Loyalität erwartet werden, wenn eine Bewegung gesamtgesellschaftliche Veränderungen anstrebt.

Mir ist wieder eingefallen, was mir einen bitteren Geschmack in den Mund spülte, als ich die Phrase “fehlende Opfersolidarität- also da müssen wir auch hingucken” hörte.
Ich hörte sie nämlich nicht von einem Menschen, der einmal zum Opfer wurde und als solcher sprach, sondern von einer Psychotherapeutin, die eventuell vielleicht einmal zum Opfer wurde, aber als Psychotherapeutin redete, die statt des anderen Menschen davon sprach und von sich dachte/ denkt, sie würde für Menschen, wie den der einmal zum Opfer wurde, sprechen.

Ich hatte mich direkt in dem Moment flüchtig gefragt, ob es bereits “fehlende Opfersolidarität” sei, würde ich (als ehemaliges Opfer und auch offen so auftretend) sagen, dass ich nicht will, dass Menschen von “uns Opfern”, die wir überhaupt keine einheitliche Masse sind, untereinander Solidarität fordern, die selbst in der Verteilung ihrer Solidarität gar nicht hinterfragt werden (dürfen), weil es direkte, wie indirekte Abhängigkeiten von ihnen gibt.
Ich fragte mich, ob es als ein Loyalitätsbruch am gemeinsamen Ziel gelten würde, würde ich verlangen, dass alle FürsprecherInnen einmal bitte immer wieder überprüfen, ob sie in all ihrer Fürsprache, nicht vielleicht doch hier und da eine sehr ausführliche “statt der zu Opfern gewordenen Menschen – Sprache” praktizieren.

In den frühen feministischen Texten, die ich lese, ist ebenfalls eine ausgeprägte “statt- Sprache” zu finden, wie wir sie auch heute noch beim Kaptialfeminismus der A. Schwarzer und dem jüngeren Patriarchatsreproduktionsaktionismus mit Feminismussticker “Pink Stinks” erleben.
Wer eine eigene feministische Haltung und Entwicklungsgeschichte einbringen und mit gewichtet, mitbeachtet sehen will, wird als BewegungszerstörerInnen* markiert und in unzähligen Vorträgen als Negativbeispiel oder “bockiger Widerstand” dargestellt, ohne auf Inhalte einzugehen und diese reflektierend oder selbstkritisch zu diskutieren.
Im “günstigsten Fall” noch “darf” die exkludierte Gruppe dann zusehen, wie der Einfluss von Widerspruch und Aufklärungsarbeit negiert wird, wenn kritisierte Punkte doch verändert werden. Statt- Sprache ist ein Machtergebnis- selbstverständlich werden unterdrückte Stimmen ergo auch ausgenutzt zum eigenen Vorteil.

Wir erleben es, damals wie heute, dass Klassismus, Rassismus, Lookismus, Ableismus und der *ismus, der gesellschaftliche Positionen aufgrund der individuellen Aktivität bzw. Passivität festlegt, bedingte Begüterung zwar als Diskriminierungsfaktor “derer, für die man ja gerade eine Bewegung macht” gesehen wird, aber nicht als Grund und Grundlage dafür, wer Bewegungen jeder Art– das kann feministische, wie allgemein und global emanzipatorische Bewegungen oder auch nur Teilbereiche innerhalb des bestehenden Systems arbeitende betreffen- wie anführt, organisiert, strukturiert und somit definiert.

Ebenfalls unhinterfragt bleibt die inzwischen fast traditionelle Positionierung als FürsprecherInnen* bzw. ihr Einsatz in Gremien, Vorständen und sonstigen Entscheidungszelebrierungsgruppen.
FürsprecherInnen* bewegen sich ebenfalls in einem Abhängigkeitsverhältnis, von dem sie nur dann profitieren, wenn es jemanden gibt, der sonst nicht gehört wird- und auch nur so lange profitieren, bis diese Menschen auf die Idee kommen sich zu emanzipieren und einfordern selbst für sich sprechen zu dürfen.

Unsere Gesellschaft möchte sich auf den Weg in eine inklusive Gesellschaft machen, doch versäumt es tunlichst, die Mechanismen der Exklusion gänzlich und auch an sich selbst zu hinterfragen.
Irgendwann mal habe ich einen Artikel geschrieben, in dem ich unsere Gesellschafts- und Politikstruktur als monotheistisch entlehntes Modell skizziere, das ganz zwangläufig exkludiert, weil es sich pyramidenartig von unten nach oben zuspitzt (elitär wird).
Das heißt, dass wir alle es als selbstverständlich wahrnehmen exkludiert zu werden bzw. zu exkludieren, weil auf dem Weg nach oben selbstverständlich immer etwas verloren geht, was gerade Minderheiten und bereits Mehrfachdiskriminierte betrifft. So wird nur nach oben gerettet (zusammengestrichen), was der Masse, die sich aller *ismen entsprechend als eine solche artikulieren und einbringen kann, entspricht.
Der Rest hat FürsprecherInnen* bzw. die Möglichkeit Fürsprache zu erhalten, indem er sich auf das Grundgesetz beruft, wonach niemand aufgrund von (nicht ausreichend erfassten) Markern diskriminiert werden darf.
Somit wird klar: das System ist exkludierend (und weiß das auch!)- aber die Reißleine “Grundgesetz” bzw. “Menschenrecht”, soll dafür sorgen, dass es nicht zu schlimm wird.

Emanzipatorische Bewegungen, also Bewegungen, Initiativen, Aktionsbündnisse, die sich von etwas lösen möchten, haben einen hohen Abgrenzungsanspruch und definieren sich an oft (noch) nicht mehrheitlich anerkannten Systemen, Werte- und Normenkonstrukten und/oder sogar völlig neuen Definitionen von bestehenden Systemen, Normen und Werten.
Es gibt in aller Regel kein “so und so ist das”, sondern eine sich stetig und nicht überwiegend von Außen eingebrachte, sondern von innen wahrgenommene Weiterentwicklung, die anhand der eigenen Entwicklungsgeschichte und aller darin entstandenen Denk- und Schlussfolgerungsprozesse konstant nachgezeichnet werden kann.

So manches Mal denke ich “böse Mädchen” und möchte sie alle an mich drücken, wenn ich mir diverse Newsletter, Texte oder Vorträge in den Kopf tue und dort über mangelnden Zusammenhalt innerhalb verschiedener feministischer, aber auch anderer Diskurse in denen es um die Rechte diskriminierter Menschen geht, geklagt wird.
Wer klagen muss, der hat die Diskussion verloren- und damit zwar Grund zur Klage, doch nicht zur Kritik an den in der Diskussion aufgebrachten Punkten. Und schon gar nicht an den Persönlichkeiten der VertreterInnen der DiskutantInnen*partei.

Ich mag “böse Mädchen”, weil sie ihre Solidarität im Bezug zum Thema eben nicht an Personenloyalitäten hängen. Sie sprechen für sich, sie sprechen radikal und sie sprechen, obwohl und manche vielleicht auch weil, sie nichts davon haben, außer die Befriedigung nicht still zu sein, wie andere sie gerne (halten) wollen.
Gerade in Bezug auf emanzipatorische Auseinandersetzungen und Bestrebungen, die sich durch emanzipiertes Auftreten von Diskriminierten verändern würden, halte ich es für unabdingbar eben nicht abhängig von einer einzelnen Person oder einem festgesetzten Personenkreis zu sein- die zwar selbst emanzipiert oder weniger diskriminiert sein mag (und eben deshalb gut was an die Massen bringen kann), doch durch das Nutzen dieser Privilegien in die FürsprecherInnen*rolle geht und damit, ob gewollt oder nicht, die für die sie zu sprechen glaubt, zum Schweigen der Diskriminierten bringt und damit “statt- Sprache” übt.

Statt- wie Für- SprecherInnen*, AktionistInnen* mit Privilegien und sogenannte BewegungsanführerInnen* reproduzieren einen Dualismus, der zu weiteren Ausschlüssen führt.
Menschen, die Bewegungen unterstützen, in denen es diese Gefälle gibt, fallen dem Trugschluss anheim, nur als Masse auch zu Recht zu kommen und versäumen den Schritt in die Systemkritik, die ausschließlich auf der (demokratischen (Fehl-)) Annahme beruht, wonach “die Masse” gleich “alle” ist.
So kann jede Bemühung nur im Sand verlaufen, auslaugen, desillusionieren, verbittern lassen.

Jetzt steht es aber im öffentlichen Raum- das Wort “Inklusion”.
Das ist der Hit, mit dem Wort bekommt man die Bude voll. Eine irgendwie randomly mit Minderheitendiskriminierung in Verbindung stehende VertreterIn* ans RednerInnen*pult und bumms haben wir eine Wiederholung, die die Masse konsumieren kann, ohne sie zur Frage an sich selbst werden zu lassen.
Ich frage mich, warum kaum eine der RednerInnen* (bei den Vorträgen, Texten, Selbstdarstellungen von Vereinen, die ich so mitgenommen habe in der letzten Zeit) sich der Frage stellt: “Warum bin ich hier und rede über die Wichtigkeit von Inklusion- und nicht die, die davon profitieren sollen?”

Ich persönlich glaube, dass wahrhaftig emanzipatorische Bewegungen darauf verzichten können, sich mit dem Thema Inklusion auseinanderzusetzen, weil sie weder exkludieren noch inkludieren. Wer mitgeht, geht mit und wird in seinen Bemühungen von Teilhabe und Teilnahme unterstützt. Es gibt keinen Machtgewinn, wenn man folgt, es gibt keinen Machtverlust, wenn sich die Wege der Auseinandersetzung trennen.

Es geht um die Sache und hätte es nicht immer wieder “böse Mädchen” und “fehlende Opfersolidarität” mit Menschen, die Überlebende nur als Opfer wahrnehmen, gegeben, dann hätte so manch eine Bewegung nicht bis heute überdauert, allem fehlenden Kapital, allem fehlenden Standing in der Gesellschaft zum Trotz.

all the storys…

Im Moment geht ein PoetrySlam viral, in dem Julia Engelmann darüber spricht, wie “wir” so drauf sind…
Es ist nicht mein “Wir”. Das wird sich Nadia Shehadeh auch gedacht haben- also setzte sie sich hin und schrieb den Text um.
Ich hab heute jemanden, der mit meinem Hund für mich raus geht.
Also verschieße ich meine Tageskraft, um mein “Wir” in diesen Kontext zu bringen.

___

Eines Tages Baby, werden wir noch mal zusammensitzen und uns sagen, dass wir stark sind, weil wir das heutige Jetzt überlebt haben und unsere Geschichten, die zu erzählen wir versuchen, bis es uns von innen nach außen umstülpt,

noch immer niemand hören will.

Wir brauchen uns nicht mehr zu reflektieren, zu überlegen, wieso denn bloß niemand ein Ohr für uns hat, was wir denn bloß falsch machen
Wir sind die Steine unter den Lebenswaisen

die geheimen Funkelsteinchen in Fragen wie: “Wie nennt man diese Zeit, in der man stirbt bei lebendigem Leib?”
”Depression” würden wir sagen und mit unserem Schimmer die Gedankenwelt eines Anderen erhellen
der ohne Dank weiter an uns vorbei zieht

auf seiner Jagd nach Selbstoptimierung,
Verwachsung
bis zur Verschmelzung mit einer Welt, an die anzupassen wir

Mais2 oh Baby, auch wenn wir alt sind

am Besten nur noch zu Testzwecken, ob der Geschwindigkeit des Scheiterns
versuchen und versuchen

Versuchen müssen
sie sind faul, heben Dinge später auf, warten auf Freitag, sparen sich Dopamin
und, weil sie sie sind
müssen alle sie sein

sie sind eben auch zu faul, die Gedanken zu denken
die zu etwas führen könnten

Und wir?
Wir leben des Rest unseres Lebens, denn was anderes haben wir nicht
und fragen uns was leben, Leben und am Lebenssein ist
und landen immer wieder an der Basis
dem Sein
dem Dasein
und sind immer wieder neu verunsichert

weil sie uns anbrüllen, schubsen, schieben, stoßen

in ihrem Dreck festdrücken mit dem, was sie als Leben und lebenswert bezeichnen
Was sie hoheitsgütig definieren, als mit dem einen,
für sie fremden,
Leben in Würde vereinbar

Wegen all dem Können, dem Machen, dem Werden
dem Sein allein wegen etwas, das gekonnt, gemacht, geworden ist

Oh Baby,
falls wir “alt” noch selbst definieren dürfen, dann werden wir noch immer die Geschichten von Diskriminierung und Ausgrenzung
Ausbeutung
und Gewalt
zu erzählen haben
wie jetzt, wie heute

wo wir uns schon als so alt betrachten, dass wir unsere Hoffnungen, Wünsche und Träume
bereits im Keime demaskieren
und mit Alkohol von uns wischen

bevor wir mit ihnen verschmelzen
und uns ihre Nichterfüllung
die Haut vom Sein reißt

und eine neue Geschichte zu erzählen ist,
die niemand hören will

Schon gar nicht die,
die denken
ohne zu sehen, zu spüren,
unsere Schreie zu hören,

das Leben, dass Menschen führen, sei frei wählbar.

Oh Baby,
während wir alt werden
sind wir Teil ihrer Hamsterräder
haben sie mit unserem Waisensein angeekelt, abgestoßen, angetrieben sich von uns als Lebensform zu entfernen
Bis wir tot sind, werden wir sie erinnern, dass sie
geworden sind, durch ihre Fähigkeit etwas tun zu können
geworden sind, durch ihre Fähigkeit ihr Sein mit Handlungen wie Schleifen zu behängen
die allein
sie frei wählen können

Und, oh Baby, wenn sie alt sind
werden sie sich wünschen
unsere Geschichten gehört zu haben

denn wenn sie alt sind
werden sie mit dem Rest ihres Lebens vor ihren Füßen
an einem Fenster sitzen
und auf jemandes Hand warten

der denkt:
das heb ich später auf
Horror dieser Alltag
hier

im Abstellgleis Wartesaal des Jobcenters Klinikums Gefängnisses
Lebens

zwischen all den Menschen, die den ganzen Tag vor sich hinsabbeln

Sicherheit* unterm Radar

P1010176„Du musst den Täterkontakt abbrechen und dich anonym halten, sonst bist du nicht sicher.“
Das ist so einer der Sätze, mit denen ich in diesem Bundesland empfangen wurde. In einer „anonymen“ Unterkunft für Jugendliche in Not. Mehrere hundert Kilometer zwischen mir und dem, was noch immer einige Innens „zu Hause“ nennen.
Diese Zeit in der Einrichtung war nicht lang- ich glaube nur 3 Wochen- aber sie hat gereicht, um mich bis heute ziemlich wütend zu machen und immer wieder darüber nachzudenken, wie die Wichtigkeit und Funktionsmechanismen von Schutz durch Anonymität vermittelt werden können.

In meinem Fall hatte sich damals schon niemand an meine Seite gestellt und sich dafür eingesetzt, dass ein Antrag auf Amtshilfe in der neuen Stadt passiert, um mich gänzlich (oder zum Teil) abzulösen.
Stattdessen wurde die ganzen Jahre der Jugend- und später auch Erwachsenen-  Hilfe in schöner Regelmäßigkeit meine Wohnadresse, meine Hilfepläne, so wie sämtliche Aktivitäten an ein Amt geleitet, das immer wieder einen Datenfluss in Täterhände lenkte.
Ich hatte das immer wieder gesagt, hatte es immer wieder als Änderungswunsch angebracht. Im Zuge des Betreuungswechsels dann, versuchte ich es mit juristischen Hebeln, um aus der Sache rauszukommen und scheiterte, weil ich zu schwach war.
Ich hätte mindestens eine Strafanzeige gegen die Täter stellen (Recht bekommen) und dann alles Nötige erwirken lassen müssen.
Aber eine Strafanzeige erstattet sich nicht so einfach. Bis heute nicht.

Das Gemeine für mich- der richtig fiese Haken: meine damalige Therapeutin und alle alle alle Bücher und Tipps für  Menschen mit DIS (und Täterkontakten), die ich damals fand, hackten auf mir als die undichte Stelle im Sicherheitsnetz herum.
Immer wieder wurden dort die inneren Abhängigkeits- , Hörigkeits- , (Todes-) Angstdynamiken thematisiert und verdeutlicht, wie wichtig es ist, die innere Kommunikation so weit aufzubauen, dass sich Innens nicht an die TäterInnen wenden und so weiterhin Gewalt erfahren. Wir haben diese Problematik auch gehabt und mussten daran arbeiten. Was in Bezug auf den Abbruch von Täterkontakten wichtig war, schilderte ich bereits in der Serie „
Täter- Kontakte 1- 5 “ 

Der Punkt meines Ärgers über den Satz in der Einleitung und der Buchinhalte ist, dass das einfach nicht alles war und bis heute ist.
Wir erfahren seit einigen Jahren keine Gewalt mehr- doch befreit von destruktiven Verbindungen sind wir erst, seit wir vor dem Gesetz als „erwachsen“ und damit komplett mündig gelten (Also seit dem 27 sten Geburtstag- dies ein Hinweis an Betroffene mit Schwerbehinderung und darauf fußenden Amtshilfen seit der Jugend).

Die Idee von „es kann mir nichts passieren- ich bin anonym und in Sicherheit“ ist Schwachfug.
Wer wissen will- wer es wirklich wissen und herausfinden will, wie mein Passname ist, wo ich wohne und was sonst noch in Bezug auf mich relevant ist- der wird das auch herausfinden. Wer mir wirklich unbedingt Gewalt antun will, wird das tun können und nichts und niemand wird das verhindern. Aber ich kann es etwas schwieriger machen.

P1010183Das Leben in Anonymität hat für mich viele kleine und große Unsichtbarkeiten und mit ihnen Angstmomente, die völlig unvermittelt kommen können; jeden wie auch immer gearteten Kontakt und auch die Art, wie Kontakte geknüpft werden, beeinflussen.
Die Verluste, die ich mit der Entscheidung zum Leben ohne Gewalt, mit neuem Namen und Dunkelfeld „Vergangenheit“ eben auch „gewählt“ habe, sind unfassbar groß und schmerzhaft.
Ich entfernte nicht nur Destruktivität aus meinem Leben- grenzte mich nicht nur von Gewalt in verschiedenen Gewändern ab. Ich war gezwungen zum Messer zu greifen und mir alles was „vorher“ war abzuschneiden. Das Vorher, das auch viele schöne Momente, tolle Menschen und Möglichkeiten umfasst und mich mit viel mehr Leichtigkeit agieren ließe.

Ich bin gestern via Facebook mal wieder über jemanden aus „dem verbotenen Früher“ gestolpert. Die Folge war nicht: „Ach guck an…“ sondern richtig harte 20 Minuten, in denen ich Tränen aus meinen Augen rausschreien wollte und nicht konnte.
20 Minuten, in denen mir erneut diese Gefühle von emotionaler Zwangsaskese zum Wohle meiner Sicherheit durch die Brust jagten. Erinnerungen an „früher“, alle Wünsche, alle Hoffnungen, alles was ich damals … hätte würde wäre wenn

Mein Heute umfasst eine Achtsamkeit und Vorsicht auf allen Ebenen durch mich selbst, aber auch eine Abhängigkeit von Verbundenheitsgefühlen und gut kommunizierten Beziehungen zu den Menschen, die mich umgeben.
Ich kann noch so oft verschweigen, wo ich eigentlich herkomme; wie mein Passname lautet; darauf verzichten meinen supertollen Hund im Internet zu zeigen oder wie ge-ni-al ich meine Haare frisiert habe. Ich kann noch so oft meine Hand abhacken, wenn sie ins Früher telefonieren will, um dort wieder einzuziehen. Ich kann noch so oft ins Facebook schauen und denken: „Ach dieser Mensch hat mir ja nichts getan- ich könnte…“ und dann doch hart bleiben.
Sobald auch nur eine meiner Gemögten, HelferInnen und Verbündeten oder irgendjemand außerhalb meines Kontrollbereichs mich als diejenige welche mit Passnamen XY im Kontext von AB in Stadt CD outet, ist es vorbei.

Alles was ich tun kann ist in einem Heute zu leben, das kein breit bekanntes Früher hat.

Ich muss mich darum bemühen meine Kontakte auf eine Art zu pflegen, die entweder davon geprägt ist, dass diverse Informationen nie Thema werden bzw. „einfach so unbemerkt in ihrem Fehlen sind“ oder bekannt sind mit einem Mit-Verantwortungsbündel obendrauf, das nicht jeder Mensch tragen kann (und/ oder will).
Keine meiner Gemögten weiß alles über mich und die Tatsache, dass sie es auch nicht zu wissen einfordern, entlastet und schützt mich sehr.
Für die Beziehung, die wir haben sind weitere Informationen nicht wichtig- sie wissen aber alle von den Netzen, in denen wir uns bewegen. Sollte mir etwas passieren, wäre niemand von ihnen allein und direkt mitbedroht.
Das Nichtwissen schützt sie also- solange sie nicht-wissen „dürfen“.

Im Falle der Facebookverbindung musste ich so scheißverdammt mutig sein, wie ich es eigentlich gar nicht war in dem Moment. Ich musste fragen: „Kennst du diesen Menschen persönlich?“

Weiß der Mensch, dass wir uns kennen? Muss ich dich jetzt auch aus meinem Leben streichen, obwohl ich dich toll finde und es mir weh täte? Muss ich schon wieder umziehen und alle meine Hilfsnetze umkrempeln, weil du weißt, wo ich wohne?

Ich musste meine Gemögte irritieren, ihr etwas abverlangen, was sie genauso einfach hätte ablehnen wie annehmen können.
Ich musste sie ins Vertrauen- in meine Scheiße ziehen und konnte nichts weiter tun, als zu hoffen, dass sie vollständig begreift, was ich da sage- die ganze Tragweite sieht, ohne davon erdrückt zu werden.
Ich muss ihr vertrauen diese Schwere zu tragen- nicht nur jetzt, sondern noch eine ganze Weile länger, weil für mich etwas daran hängt.
Ich musste sie wissen lassen- sichtbar(er) werden für sie und hoffen, dass sie diese Sichtbarkeit mit mir vor anderen Menschen unsichtbar hält.


Es klingt immer so einfach: Täterkontakt beenden, neuer Name, neue Adresse, Traumatherapie und fertig.
Im Falle organisierter Gewalt ist es damit einfach nicht getan.
Diese Dinge hängen alle an Privilegien- an Sicherheiten, die extrem instabil sind und von nichts und niemandem bedingungslos und durchgängig gewährt werden. Die Realität nach Ausstieg und in Anonymität wird damit nicht gestreift.

Damit ich direkte Gewaltkontakte beenden konnte, brauchte ich eine starke Gemögte, die mich halten und tragen konnte- die an meiner Seite stand und sich selbst in dieser Zeit total zurückstellte- ohne irgendetwas dafür zu verlangen.
Um meinen Passnamen zu verändern muss ich (neben finanziellen Ressourcen) auch darauf hoffen, dass ich in meinem Leben als Opfer von organisierter Gewalt anerkannt werde, auch ohne eine Strafanzeige zu stellen.
Um anonym zu wohnen muss ich mich darauf verlassen, dass sämtliche Ämter und Behörden meine Rechtsanwältin als meine Fürsprecherin akzeptieren und sämtlicher Informationsfluss über ihre Kanzlei läuft- was nicht selbstverständlich ist.
Um meine Geschichte traumatherapeutisch auf- und verarbeiten zu können, hilft nur hoffen und beten, dass ich in meiner Therapeutin einen Menschen habe, der mutig genug ist, mit mir gegen die Krankenkasse vorzugehen und zu kämpfen um für seine Arbeit auch bezahlt zu werden, wenn diese anfängt ihre Richtlinien zu Gesetzen wachsen zu lassen und mir die Behandlung verwehrt.

Unterm Radar zu fliegen heißt „nicht gleich sichtbar und damit geschützt vor suchenden Blicken zu sein“.
Heißt aber auch, dass jede Untiefe der Berg sein kann, an dem ein Leben zerschellt.
Es heißt sich mehr als fünfmal seiner Unsichtbarkeit zu versichern.
Es heißt unsichtbar zu trauern.
Es heißt Sichtbarkeit als ein Privileg einzuordnen, das genauso instabil ist, wie alles andere.

Es heißt, dass eine Ebene der Angst auch dann noch da ist, wenn „eigentlich“ alles* „gut“ und sicher* ist.
Es heißt, dass nichts sicher ist.
Es heißt, dass die Begrifflichkeit der Sicherheit* ein Sternchen braucht, um die Fragilität und Vielschichtigkeit zu markieren, die sie für mich hat.

übers Schweigen schweigen (3)

P1010047Sprache, Sichtbarkeit und Schweigebruch sind Privilegien.
Ich habe nicht mehr viel zu verlieren und die Aussichten auf das, was ich gewinnen kann, rechnen mein Ableben mit ein. Wenn jemand aufhören könnte zu schweigen, dann bin das wohl ich.

Und dann kann ich es nicht, weil Privilegien auch Verantwortungen mit sich ziehen.
Ich schreibe als Betroffene. Schreibe, was andere betroffene Menschen (noch) nicht schreiben (können/ wollen).
Menschen lesen hier und bekommen einen Einblick. Manche basteln sich daraus eine Schablone und versuchen sie auf sich, ihre Mitmenschen oder das Leben zu übertragen.

Manche verstehen meine Sprache auch nicht.
Suchen in dieser Artikelreihe etwas, das mit Absicht gar nicht da ist.
Suchen in mir etwas, das mit Absicht nicht gezeigt ist.
Übergehen das, was sie eigentlich anspringt, weil es das Übliche ist.

Ohne „das Übliche“ als genau das zu sehen, was Schweigen bricht und sichtbar macht.
Übers Schweigen schweigen heißt: Nicht zu sagen, was andere Menschen nicht sagen.

Fortsetzung folgt