die Sichtbarkeit – #AutismAcceptanceMonth

Wenn man Menschen fragt, welche Superkraft sie gern hätten, sagen viele, dass sie gern unsichtbar wären.
Sie versprechen sich davon viel Teilhabe an Interaktionen in Situationen und Kontexten, von denen sie ausgeschlossen wären, könnten andere Menschen ihre Anwesenheit feststellen. Sie versprechen sich davon, andere Menschen authentisch zu erleben. Zu hören, was andere über sie sagen; zu erleben, wie andere handeln, wenn sie nicht von ihnen bzw. ihrer Präsenz beeinflusst werden.

In unserer Gesellschaft geht Sichtbarkeit nie mit der bloßen Feststellung dieser Sichtbarkeit einher. Niemand sieht etwas oder jemanden und lässt es ohne Bedeutung für sich selbst und den eigenen Kontext.
Was in unserer Gesellschaft sichtbar ist, wird von Systemen in Systeme geordnet. Und auch diese Ordnung wird wieder von Systemen in Systeme eingeordnet. Diese Ordnung ist von Bedeutung, weil niemand von uns mit Bedeutungslosigkeit umgehen kann. Selbst die Dinge, die völlig irrelevant, egal, schlicht hinzunehmen sind, müssen wir als irrelevant, egal, schlicht hinnehmbar einordnen, um sie irrelevant, egal, schlicht hinnehmen zu können. Niemand braucht sich einbilden, dass Bedeutungslosigkeit ihm_ihr nichts anhaben kann. Wir sind Gesellschaft, weil wir Bedeutung nicht nur produzieren, zuweisen, verändern können, sondern auch leben.

Viele autistische Menschen wissen, dass sie autistisch sind, weil sie von anderen Menschen gesehen wurden und die sichtbaren Unterschiede zu nicht-autistischen Menschen als Autismus bezeichnet werden. Denn so funktioniert Diagnostik nach DSM und ICD, den Diagnostikhandbüchern für Krankheiten aller Art. Sichtbar Abweichendes gilt als Symptom, aus Symptomen wird Krankheit abgeleitet.
Es gibt keine Symptome von Normalheit.
Das Normale sieht man nur mit dem Herzen gut.
Weil es keine Augen hat.
Und weil es keine Ordnung gibt, die auf das Vorhandensein sichtbarer Eigenschaften verzichtet.

Dass ich autistisch bin, sieht man nicht. Es sei denn, man weiß um die Bedeutung von Dingen in dieser Welt für mich persönlich.
Ich kann meine Sichtbarkeit für andere Menschen in vielen Bereichen steuern und das finde ich großartig. Ich erlebe das als eine erstrebenswerte Superkraft, an deren Perfektionierung ich gezielt arbeite. Obwohl ich weiß, dass es eine Superkraft ist, die mir nicht natürlich inneliegt und die ich hauptsächlich deshalb als erstrebenswert empfinde, weil sie mir zu mehr Teilhabe verhilft als mir die Gesellschaft ermöglicht, wenn sie mich sehen kann.

Möchte ich dennoch als autistischer Mensch gesehen werden? Ja. Natürlich.
Aber bitte lieber mit dem Herzen.

 

P. S. Die Superkraft, die ich gern hätte, ist nie müde zu werden.
Ich würde meinen Kram machen während alle schlafen und meine Freizeit und Sozialitäten erledigen, wenn alle wach sind.

 

 

böse Mädchen

Malve3 Ich habe über “böse Mädchen” und “fehlende Opfersolidarität” nachgedacht.

Ich lese gerade eine Sammlung von Texten zur Frauenbewegung von 1887 und beobachte (und belächle) Parallelen, die sich mir dabei aufdrängen.
Es geht dabei viel um “du bist FeministIn- du MUSST das doch auch so sehen- das MUSS doch auch dein Ziel sein…” – es geht um den Wunsch/ die Forderung nach Solidarität (Loyalität) zueinander, wenn man das gleiche Ziel hat.

Letztlich scheint es ein grundlegendes Bewegungsproblem zu sein, die Gleichheit von Welt- und Meinungsbild als Grundlage für Loyalität und diese wiederum als Alleinstellungsmerkmal von Solidarität zu betrachten. Wird diese Gleichheit nicht gesehen bzw. anerkannt (oft genug ist sie grundsätzlich ja da, wird aber aufgrund diverser *ismen und ihren begleitenden (Fehl)Schlüssen als nicht geltend gelabelt), wird fast reflexhaft exkludiert.

Das Traurige dabei ist, dass das Ziel der Bewegung in aller Regel eines ist, das aufgrund verschiedener *ismen entstandene (und aufgrund verschiedener *ismen auch nur bestimmten Gruppen so sichtbare und/ oder erlebbare) Miss- Um- stände verändern möchte, doch zeitgleich wiederum in der Bemühung möglichst niederschwellig und „massekompatibel“ zu agieren, diverse (wenn auch andere) *ismen verwendet und in der Folge produziert, was *ismen eben so produzieren: Machtgefälle (Gewalten).
So kann keine 100%ige Loyalität erwartet werden, wenn eine Bewegung gesamtgesellschaftliche Veränderungen anstrebt.

Mir ist wieder eingefallen, was mir einen bitteren Geschmack in den Mund spülte, als ich die Phrase “fehlende Opfersolidarität- also da müssen wir auch hingucken” hörte.
Ich hörte sie nämlich nicht von einem Menschen, der einmal zum Opfer wurde und als solcher sprach, sondern von einer Psychotherapeutin, die eventuell vielleicht einmal zum Opfer wurde, aber als Psychotherapeutin redete, die statt des anderen Menschen davon sprach und von sich dachte/ denkt, sie würde für Menschen, wie den der einmal zum Opfer wurde, sprechen.

Ich hatte mich direkt in dem Moment flüchtig gefragt, ob es bereits “fehlende Opfersolidarität” sei, würde ich (als ehemaliges Opfer und auch offen so auftretend) sagen, dass ich nicht will, dass Menschen von “uns Opfern”, die wir überhaupt keine einheitliche Masse sind, untereinander Solidarität fordern, die selbst in der Verteilung ihrer Solidarität gar nicht hinterfragt werden (dürfen), weil es direkte, wie indirekte Abhängigkeiten von ihnen gibt.
Ich fragte mich, ob es als ein Loyalitätsbruch am gemeinsamen Ziel gelten würde, würde ich verlangen, dass alle FürsprecherInnen einmal bitte immer wieder überprüfen, ob sie in all ihrer Fürsprache, nicht vielleicht doch hier und da eine sehr ausführliche “statt der zu Opfern gewordenen Menschen – Sprache” praktizieren.

In den frühen feministischen Texten, die ich lese, ist ebenfalls eine ausgeprägte “statt- Sprache” zu finden, wie wir sie auch heute noch beim Kaptialfeminismus der A. Schwarzer und dem jüngeren Patriarchatsreproduktionsaktionismus mit Feminismussticker “Pink Stinks” erleben.
Wer eine eigene feministische Haltung und Entwicklungsgeschichte einbringen und mit gewichtet, mitbeachtet sehen will, wird als BewegungszerstörerInnen* markiert und in unzähligen Vorträgen als Negativbeispiel oder “bockiger Widerstand” dargestellt, ohne auf Inhalte einzugehen und diese reflektierend oder selbstkritisch zu diskutieren.
Im “günstigsten Fall” noch “darf” die exkludierte Gruppe dann zusehen, wie der Einfluss von Widerspruch und Aufklärungsarbeit negiert wird, wenn kritisierte Punkte doch verändert werden. Statt- Sprache ist ein Machtergebnis- selbstverständlich werden unterdrückte Stimmen ergo auch ausgenutzt zum eigenen Vorteil.

Wir erleben es, damals wie heute, dass Klassismus, Rassismus, Lookismus, Ableismus und der *ismus, der gesellschaftliche Positionen aufgrund der individuellen Aktivität bzw. Passivität festlegt, bedingte Begüterung zwar als Diskriminierungsfaktor “derer, für die man ja gerade eine Bewegung macht” gesehen wird, aber nicht als Grund und Grundlage dafür, wer Bewegungen jeder Art– das kann feministische, wie allgemein und global emanzipatorische Bewegungen oder auch nur Teilbereiche innerhalb des bestehenden Systems arbeitende betreffen- wie anführt, organisiert, strukturiert und somit definiert.

Ebenfalls unhinterfragt bleibt die inzwischen fast traditionelle Positionierung als FürsprecherInnen* bzw. ihr Einsatz in Gremien, Vorständen und sonstigen Entscheidungszelebrierungsgruppen.
FürsprecherInnen* bewegen sich ebenfalls in einem Abhängigkeitsverhältnis, von dem sie nur dann profitieren, wenn es jemanden gibt, der sonst nicht gehört wird- und auch nur so lange profitieren, bis diese Menschen auf die Idee kommen sich zu emanzipieren und einfordern selbst für sich sprechen zu dürfen.

Unsere Gesellschaft möchte sich auf den Weg in eine inklusive Gesellschaft machen, doch versäumt es tunlichst, die Mechanismen der Exklusion gänzlich und auch an sich selbst zu hinterfragen.
Irgendwann mal habe ich einen Artikel geschrieben, in dem ich unsere Gesellschafts- und Politikstruktur als monotheistisch entlehntes Modell skizziere, das ganz zwangläufig exkludiert, weil es sich pyramidenartig von unten nach oben zuspitzt (elitär wird).
Das heißt, dass wir alle es als selbstverständlich wahrnehmen exkludiert zu werden bzw. zu exkludieren, weil auf dem Weg nach oben selbstverständlich immer etwas verloren geht, was gerade Minderheiten und bereits Mehrfachdiskriminierte betrifft. So wird nur nach oben gerettet (zusammengestrichen), was der Masse, die sich aller *ismen entsprechend als eine solche artikulieren und einbringen kann, entspricht.
Der Rest hat FürsprecherInnen* bzw. die Möglichkeit Fürsprache zu erhalten, indem er sich auf das Grundgesetz beruft, wonach niemand aufgrund von (nicht ausreichend erfassten) Markern diskriminiert werden darf.
Somit wird klar: das System ist exkludierend (und weiß das auch!)- aber die Reißleine “Grundgesetz” bzw. “Menschenrecht”, soll dafür sorgen, dass es nicht zu schlimm wird.

Emanzipatorische Bewegungen, also Bewegungen, Initiativen, Aktionsbündnisse, die sich von etwas lösen möchten, haben einen hohen Abgrenzungsanspruch und definieren sich an oft (noch) nicht mehrheitlich anerkannten Systemen, Werte- und Normenkonstrukten und/oder sogar völlig neuen Definitionen von bestehenden Systemen, Normen und Werten.
Es gibt in aller Regel kein “so und so ist das”, sondern eine sich stetig und nicht überwiegend von Außen eingebrachte, sondern von innen wahrgenommene Weiterentwicklung, die anhand der eigenen Entwicklungsgeschichte und aller darin entstandenen Denk- und Schlussfolgerungsprozesse konstant nachgezeichnet werden kann.

So manches Mal denke ich “böse Mädchen” und möchte sie alle an mich drücken, wenn ich mir diverse Newsletter, Texte oder Vorträge in den Kopf tue und dort über mangelnden Zusammenhalt innerhalb verschiedener feministischer, aber auch anderer Diskurse in denen es um die Rechte diskriminierter Menschen geht, geklagt wird.
Wer klagen muss, der hat die Diskussion verloren- und damit zwar Grund zur Klage, doch nicht zur Kritik an den in der Diskussion aufgebrachten Punkten. Und schon gar nicht an den Persönlichkeiten der VertreterInnen der DiskutantInnen*partei.

Ich mag “böse Mädchen”, weil sie ihre Solidarität im Bezug zum Thema eben nicht an Personenloyalitäten hängen. Sie sprechen für sich, sie sprechen radikal und sie sprechen, obwohl und manche vielleicht auch weil, sie nichts davon haben, außer die Befriedigung nicht still zu sein, wie andere sie gerne (halten) wollen.
Gerade in Bezug auf emanzipatorische Auseinandersetzungen und Bestrebungen, die sich durch emanzipiertes Auftreten von Diskriminierten verändern würden, halte ich es für unabdingbar eben nicht abhängig von einer einzelnen Person oder einem festgesetzten Personenkreis zu sein- die zwar selbst emanzipiert oder weniger diskriminiert sein mag (und eben deshalb gut was an die Massen bringen kann), doch durch das Nutzen dieser Privilegien in die FürsprecherInnen*rolle geht und damit, ob gewollt oder nicht, die für die sie zu sprechen glaubt, zum Schweigen der Diskriminierten bringt und damit “statt- Sprache” übt.

Statt- wie Für- SprecherInnen*, AktionistInnen* mit Privilegien und sogenannte BewegungsanführerInnen* reproduzieren einen Dualismus, der zu weiteren Ausschlüssen führt.
Menschen, die Bewegungen unterstützen, in denen es diese Gefälle gibt, fallen dem Trugschluss anheim, nur als Masse auch zu Recht zu kommen und versäumen den Schritt in die Systemkritik, die ausschließlich auf der (demokratischen (Fehl-)) Annahme beruht, wonach “die Masse” gleich “alle” ist.
So kann jede Bemühung nur im Sand verlaufen, auslaugen, desillusionieren, verbittern lassen.

Jetzt steht es aber im öffentlichen Raum- das Wort “Inklusion”.
Das ist der Hit, mit dem Wort bekommt man die Bude voll. Eine irgendwie randomly mit Minderheitendiskriminierung in Verbindung stehende VertreterIn* ans RednerInnen*pult und bumms haben wir eine Wiederholung, die die Masse konsumieren kann, ohne sie zur Frage an sich selbst werden zu lassen.
Ich frage mich, warum kaum eine der RednerInnen* (bei den Vorträgen, Texten, Selbstdarstellungen von Vereinen, die ich so mitgenommen habe in der letzten Zeit) sich der Frage stellt: “Warum bin ich hier und rede über die Wichtigkeit von Inklusion- und nicht die, die davon profitieren sollen?”

Ich persönlich glaube, dass wahrhaftig emanzipatorische Bewegungen darauf verzichten können, sich mit dem Thema Inklusion auseinanderzusetzen, weil sie weder exkludieren noch inkludieren. Wer mitgeht, geht mit und wird in seinen Bemühungen von Teilhabe und Teilnahme unterstützt. Es gibt keinen Machtgewinn, wenn man folgt, es gibt keinen Machtverlust, wenn sich die Wege der Auseinandersetzung trennen.

Es geht um die Sache und hätte es nicht immer wieder “böse Mädchen” und “fehlende Opfersolidarität” mit Menschen, die Überlebende nur als Opfer wahrnehmen, gegeben, dann hätte so manch eine Bewegung nicht bis heute überdauert, allem fehlenden Kapital, allem fehlenden Standing in der Gesellschaft zum Trotz.