durchhalten, aushalten, stabil, doch beweglich kämpfen

Wir saßen im Auto des Begleitermenschen und hielten der von der Operation noch benommenen NakNak*, die Hand unter den Kopf, als wir begannen uns für eine Zeit des Durchhaltens, Aushaltens, stabil doch beweglichen Kämpfens vorzubereiten.

Das ist jetzt fast einen Monat her und langsam macht es sich körperlich bemerkbar.
Wir schlafen inzwischen mit Körnerkissensocken an Füßen, in denen sich Krämpfe austoben, wenn sie nur im falschen Winkel liegen oder aufgesetzt werden. Werden von links und rechts von Körnerkissen eingerahmt, damit uns die komische Verspannung im unteren Lendenwirbelbereich nicht zum Trigger in der Nacht wird. Lassen die Hände auf einer Wärmflasche ruhen, damit die ständig kalten Finger nicht das nächste Zittern auslösen, das jedes Mal haarscharf an einen Krampfanfall rührt.

Tagsüber denke ich, dass es uns okay geht. Wir stehen um 7 auf, arbeiten die tausend Kleinigkeiten ab, die während der Klinikzeitverschwendung und der Post-Radtourdramatik nicht schaffbar waren und haben dann frei. Wenn es nicht gerade regnet, machen wir unsere Radrunde und versuchen uns mit dem analogen Hier und Jetzt zu verbinden.
Hunderunde, einkaufen, kochen, hier und da ein bisschen Soziales.
Für das administrative Morgen können wir nichts weiter tun als zu warten und zu hoffen, dass wir alles verstehen, was dann und wann vor uns ausgeschüttet wird. Für das Morgen, das wir selbst gewählt haben, müssen wir nur tun, was wir seit Jahren tun.
dapp da dapp da dapp da dapp

Doch daneben ist die Anspannung, die mit der Entlassung aus der psychiatrischen Krisenintervention letztes Jahr leise begann und sich mit jeder weiteren Erschütterung verstärkte. Wie eine zweite Tonspur oder eine alternative Realität. Ein Er.Leben neben meinem.

Praktisch die ganze Zeit haben wir eine Hand zur Faust geballt, wenn wir sie nicht gerade benutzen oder konzentriert auf etwas sind. Unsere Schultern scheinen wie an einem Holzbalken unter der Haut aufgehängt, auf den drauf auch das Stahlrohr gesetzt ist, auf dem unser Kopf steckt. Der Oberarm des rechten Arms tut nur dann nicht weh, wenn der Arm eng an den Körper gewinkelt oder gerade herunterhängend ist. Der rechte Oberschenkel macht nur dann kein Theater, wenn wir auf dem Rad sitzen und ihn beschäftigen.

Jemand riet uns schon zu Massagen. Wir selber machen jeden Tag diesen ganzen Entspannungskram, den wir gelernt haben. Aber es sind nicht die Muskeln, die angespannt sind. Es ist nicht das, was unter der Haut liegt, was sich so verhärtet und durchhält, aushält, stabil doch beweglich kämpft.
Wir haben seit der Klinikentlassung im Mai nochmal 12kg verloren und manchmal kommt es mir vor, als würde ich mich an den nun leichter fühlbaren Knochen festhalten. Die sind nämlich hart und stabil, egal, ob ich gerade erschöpft und emotional vollentleert in ein Zimmer meiner Wohnung starre oder frisch und fit schaffe, was ich mir vorgenommen habe.

Ich weiß, dass uns niemand sagen kann: “Alles wird gut.” oder “Ihr seid sicher.” oder “Ihr könnt loslassen – es ist alles auffangbar.” oder “Ihr könnt vertrauen/zutrauen/euch auf die Erfahrung des Lebens einlassen – es ist okay, nicht alles zu wissen.”. Aber der Wunsch danach ist da, weil wir unsere Erschöpfung spüren und Zweifel aufkommen, ob und wenn ja, wie lange wir noch durchhalten, aushalten, stabil doch beweglich kämpfen können.

Manche Menschen denken, dass es an den einzelnen großen Dingen liegt, die gerade anstehen. Glauben, mit den geregelten, gesicherten Verhältnissen, wird alles wieder gut. Glauben, wenn die Ausbildung in Ruhe anfangen kann, wird alles wieder gut. Glauben, wenn wir einfach mal “mit dem echten Leben” beschäftigt sind, wird alles wieder gut. Wenn unsere Hilfen alle ordentlich installiert sind, wird alles wieder gut.
Doch es sind die random little things, die uns momentan in ihrer Fülle zu erschlagen drohen, denn sie werden immer mehr. Alles keine großen Dinge – aber Dinge, um die man sich kümmern muss. Auch noch. Und nochmal und auch nochmal und ach ja – dies auch noch.

Wir hatten gestern einen Termin mit dem Begleitermenschen, in dem wir über absehbar auftauchende Probleme in der Schule gesprochen haben.
Obwohl wir nicht einmal sicher wissen, ob wir sie überhaupt antreten können und obwohl wir nicht sicher wissen, ob diese Probleme überhaupt auftreten werden.
Unser intuitiver Plan wäre, einfach hinzugehen und zu warten. Einfach kommen lassen und zusehen, dass wir lebendig wieder rauskommen. Einfach sterben und wie Phönix aus der Asche daraus hervor kommen. Wie immer bei so ziemlich allem, was wir tun.

Sich offen damit auseinanderzusetzen, was alles problematisch sein könnte, wurde uns jahrelang mehr oder weniger aktiv verboten.
“Mach dir doch nicht ständig nen Kopf über Dinge, die noch gar nicht passiert sind.” oder “Hör doch endlich mal auf, alles schwarz zu malen” hieß es immer wieder– obwohl wir jedes Mal mit unseren Problemanalysen recht hatten und letztlich immer wieder genau die Katastrophen eingetreten sind, die wir unbedingt schon im Vornherein in ihrer Auftrittswahrscheinlichkeit verringern wollten.

Nun saßen wir mit 30 Jahren vor einer Tafel und erlebten so etwas wie das Schreiben einer schon sehr viel früher möglich gewesenen Geschichte.
Ein Gespräch, in dem die Antwort auf die Frage, was in der Schule problematisch sein könnte, völlig okay auch “andere Menschen” sein darf und ernsthaft ausführlich auseinandersortiert wird, um zu einem Ergebnis zu kommen.
Es tut gut, das erleben zu dürfen. Auch wenn es weh tut zu bemerken, wie gut uns genau das schon vor 23 Jahren getan hätte.

Es bedeutet aber auch weitere random little things to do.
Einen Fahrdienst finden und beantragen. Klärungsbedarfe mit Lehrenden und der Schule als Verwaltungsapparat. So viele Gespräche mit Inhalten, die so persönlich nah für uns sind und am Ende alle etwas von unserer Umgebung fordern, womit wir letztlich noch gar nicht gut umgehen können.
Wir haben so viele Jahre mit Sozialarbeiter_innen, Mediziner_innen und Psycholog_innen über komplexe Traumafolgen gesprochen, dass es an uns vorbeizieht wie eine Fingerübung. Anderen Menschen jedoch zu sagen, dass bei uns ein Autismus vorliegt, fühlt sich an wie das Eröffnen der eigenen Bauchdecke, ohne jede Kompetenz für Selbstschutz.

Und daneben: Bald Schulsachen kaufen? Wenn ja: Welche und wo? Wasserdichte Schuhe kaufen? Wenn ja: Welche und wo? Und wieso hab ich eigentlich noch nichts von der Firma gehört, die NakNak*s neue Kenndecke fertigstellt? Für NakNak* ein Körbchen kaufen oder nicht doch besser eine einfache Decke? Oh G’tt, es gibt noch so viel um NakNak* zu er.klären …

Nächste Woche haben wir noch einmal “Urlaub”.
Doch mit im Gepäck ist wieder das Laptop, wieder das Skizzenbuch und die Dankbarkeit um WLAN in der Ferienwohnung. Wir treffen hoffentlich einen Menschen, den wir schon letztes Jahr gern treffen wollten, können auch dort Rad fahren und werden die Ost- und die Nordsee besuchen. Endlich.
Es ist toll diese Woche zu haben und gleichzeitig erscheint sie mir wie ein schwarzes Loch, das uns aufhält fertig zu werden.
Wir können nicht wirklich entspannen, wenn noch offene Dinge zu tun sind. Da geht es uns wie Forscher und blutigerlaie.

Aber wir wissen und merken, dass wir uns dringend ganz schnell jetzt sofort bald mal endlich entspannen müssen, weil wir uns sonst selbst (mal wieder) in einen Krisenkompensationsstrudel bewegen, einfach nur, weil wir immer weiter und weiter und weiter aushalten, durchhalten und stabil doch beweglich kämpfen.

der Feengarten

Er ist reichlich pink, mein Feengarten.
Zwischen einem Einhorn und zwei zierlichen Feen werden Federnelken und Flammenblumen wachsen. 

Hoffentlich.

Auf meiner Fensterbank steht außerdem noch ein Plastikgewächshaus mit frisch gesäten Mimosensamen.

Ich bin ein Pflanzenhospiz.
Eigentlich.

Aber vielleicht habe ich mich verändert in den letzten Jahren.
Vielleicht kann doch etwas Gutes, Schönes, Lebendiges von mir ausgehen.

Nach der letzten Therapiestunde ging ich nach Hause und starrte das Gesicht im Spiegel an.
Es ist gewachsen in den letzten zwei Monaten, dellig und irgendwie ölig.
Auch wenn die Verbindung problematisch ist: Ich neige zu Kummerspeck genauso wie zum weniger werden, wenn es mir nicht gut geht. Ist halt so.
Bei mir.

Die Klappe zu halten, bei mir zu bleiben mit dem was mich verletzt, tut mir nicht gut. Ist aber sozialkonform. Und sowieso, was andere von mir wollen.
“Sie wollten den Kontakt doch sowieso beenden…”
Ja, “beenden” – Nicht: “nach einer Aktion, die mich retraumatisiert hat ohne eine ordentliche Klärung (und Ent-Schuld-igung) zerfetzen lassen und dann unbewortet im Nirwana der Ignoranz und Selbstgefälligkeit verschwinden lassen”

Wenn andere Menschen mir vermitteln, dass sie nichts mehr mit mir zu tun haben wollen, obwohl eigentlich nur ein gegenseitiges Verständnisproblem da ist, dann ist das auch kein “Kontakt beendet”. Dann ist das: “Ich will nicht mit dir sein. Warum wieso weshalb- nein dieses Verständnis kriegst du nicht von mir erreicht. Geh weg. Ohne Diskussion.”.

Dran bleiben wäre Gewalt. Sich weiter der Hoffnung hingeben, da käme vielleicht doch noch was, sinnlos.

Aber egal.
Macht mal- ich komm klar- Hauptsache euch gehts gut. Hauptsache, ihr fühlt euch bestätigt von weiß G’tt wem oder was. Mir egal.

Nicht.
mampfEgalmampf

Ich hatte am Nachmittag des Therapietages einen Termin beim Betreuungsgericht.
Eine nette Frau erstellte einen Sozialbericht über mich. Uns.

“Und XY unterstützt Sie nicht mehr”, der Kuli glitt zwischen den engen Linien des Vordrucks, “Könnten Ihre Eltern die Betreuung übernehmen? Geschwister?”.

Von jetzt auf gleich wollte ich weinen. Ich setzte dazu an. Alle Kanäle in meinem Gesicht füllten sich. Es wurde eng. Drückte.
Ich atmete die Sachlichkeit der Situation ein und schüttelte ohne Worte den Kopf.

Sie fragte, ob die Gewalt, die meiner “Erkrankung” zu Grunde liegt, mit der Familie zu tun hat.
Ich nickte. Ließ meinen Blick über ihre Ordner schweben.

Draußen knallte es.
Einmal.

Sie fragte, ob es bei der Strafanzeige, von der im Anregungsbogen die Rede ist, darum ginge.

Es knallte draußen.
Ich nickte.

Ein letzter Knall. Ein Kind ließ Luftballons platzen.
“Ist aber schon zu spät jetzt. Für eine Strafanzeige. Ich hatte gedacht, es ginge schneller mit der Betreuung.”.

mampfEgalmampf
Ich habe genug über Strafanzeigen nachgedacht. Ich kann nichts tun und das soll so.

Gestern bin ich mit NakNak* Rad gefahren.
Ich war den ganzen Tag draußen.
Draußen draußen.
Nicht nur: “nicht im Käfig” sondern: “nicht in der Wohnung”.
Der Heuschnupfen macht mich fertig. Die Hitze. Mein Körpergewicht.
In der Therapie ergänzte ich den Begriff des “Hunger”s mit “ich merke meinen Bauch”.

Ich kann ihn im Moment nicht gut ertragen meinen Körper.
Er ist nicht selbst gemacht.
Meine Kontrolle über ihn ist begrenzt.
Ich sehe aus wie die Mutterfrau, als sie eine Krankheitsspitze hatte.
Aufgedunsen.
Bemitleidenswert und abstoßend gleichzeitig.
Für manche Menschen.

Der Fahrtwind war schön.
NakNak* direkt neben mir laufen zu sehen war schön.

Ich habe einen Johannisbeerenstrauch gefunden und ein paar reife Beeren gepflückt.
Bin in einem Bach herumgewatet und dachte ans Meer.

Ich dachte an meine Geschwister. An Verlassenheit.
An Strafanzeigen. An die Therapiestunde.
An das, was ich sagen willwollte und dann doch lieber neben meiner Kehle verstaue und mit jedem geschluckten Bissen weiter ins Nirgendwo presse.

Heute morgen dachte ich, dass ich etwas Schönes möchte.
Fühlen möchte.
Vielleicht auch erschaffen möchte.

Ich dachte daran, dass mein Körper nun 28 Jahre alt wird und ich gerne bald jemanden finden würde, der mit mir sein Leben teilen möchte.
Jemand, der mit mir eine Familie mit Kindern drin gründen möchte. Jemand, den ich aushalten kann.

Dann lachte ich mich aus.
Weil ich mich selbst kaum aushalten kann.

Ich erlebe mich paradox, zerfleddert, durcheinander.
Widersprüchlich.
Hässlich. Irgendwie noch tiefergehend abstoßend.
Und irgendwie denke ich, dass es allen anderen Menschen auf dieser Welt auch so gehen muss mit mir.
Logischerweise.

Gewaltfolgenlogischerweise.

Heute morgen fuhr ich in die Stadt.

Ich säte Samen in einen Feengarten.

 

P3200106

alles, außer…

runtergefalleneBlüten Die Sonne scheint in mein Schlafzimmer hinein und ich lasse mich anscheinen.
Ihre Strahlen schütten Wärme auf meinen Rücken, lassen die Schmerzen darin zu kleinen Rinnsalen schmelzen und herunter rinnen.

Ich sitze auf dem Bett. Gebeugt über den Keilrahmen mit seinem stinkenden Acrylbelag und pinsele gegen das Eintrocknen der Farben auf meiner Untertasse an.
Streichle das Maltuch, kitzle die Linien und torkle im Motiv herum.

Mein G’tt was tue ich hier?
Stunden um Stunden vergehen und das Leben schlammt in Brocken an mir vorbei.

Mein Nachbar ist wohl erkältet. Ich höre sein Rotzen und hörte seinen letzten Orgasmus irgendwann letzte Woche.
Die Familie schräg gegenüber, die letztes Jahr herzog, spricht inzwischen nicht mehr ausschließlich Russisch. Jetzt ist es ein Sprachmüsli, das sich im Hof verteilt, wenn sie grillen. Dieses IKEA- Familienmodel, das Federball spielt und am Geburtstag der Tochter, Kakao und Kuchen im Garten kredenzt.
NakNak* ist läufig, doch wenn ich das niemandem sage, ist sie es auch nicht. Dann plötzlich kommt raus, dass der Rüde so oder so nie gut hört.
Ich bade in meinem Hunger und es fühlt sich gut an.
Der Frühling schießt seine Blütenboten in die Welt hinaus und die Insekten heißen sie willkommen. Schmetterlinge finde ich schön. Obwohl sie manchmal behaart sind und lange Fühler haben, wie Weberknechtmägde und andere HmHmHm-Flügler.

Ich denke darüber nach, mein Fahrrad und den Anhänger dazu, fit zu machen. Weiß aber nicht, wohin zu fahren sein könnte.
Meine Muskeln sind zu Stein erstarrt.
Das Bild ist fast fertig. Es fehlen nur noch die Gesichter und die dicken schwarzen Linien um sie herum, die sie bannen und für immer dort halten. Raus aus mir und meinem Leben. Ich fürchte ihre Gesichter.

Aber, alles ist okay. Alles ist im Werden.
Ich habe alles im Griff.

Außer den Pinsel in meiner Hand.