durchhalten, aushalten, stabil, doch beweglich kämpfen

Wir saßen im Auto des Begleitermenschen und hielten der von der Operation noch benommenen NakNak*, die Hand unter den Kopf, als wir begannen uns für eine Zeit des Durchhaltens, Aushaltens, stabil doch beweglichen Kämpfens vorzubereiten.

Das ist jetzt fast einen Monat her und langsam macht es sich körperlich bemerkbar.
Wir schlafen inzwischen mit Körnerkissensocken an Füßen, in denen sich Krämpfe austoben, wenn sie nur im falschen Winkel liegen oder aufgesetzt werden. Werden von links und rechts von Körnerkissen eingerahmt, damit uns die komische Verspannung im unteren Lendenwirbelbereich nicht zum Trigger in der Nacht wird. Lassen die Hände auf einer Wärmflasche ruhen, damit die ständig kalten Finger nicht das nächste Zittern auslösen, das jedes Mal haarscharf an einen Krampfanfall rührt.

Tagsüber denke ich, dass es uns okay geht. Wir stehen um 7 auf, arbeiten die tausend Kleinigkeiten ab, die während der Klinikzeitverschwendung und der Post-Radtourdramatik nicht schaffbar waren und haben dann frei. Wenn es nicht gerade regnet, machen wir unsere Radrunde und versuchen uns mit dem analogen Hier und Jetzt zu verbinden.
Hunderunde, einkaufen, kochen, hier und da ein bisschen Soziales.
Für das administrative Morgen können wir nichts weiter tun als zu warten und zu hoffen, dass wir alles verstehen, was dann und wann vor uns ausgeschüttet wird. Für das Morgen, das wir selbst gewählt haben, müssen wir nur tun, was wir seit Jahren tun.
dapp da dapp da dapp da dapp

Doch daneben ist die Anspannung, die mit der Entlassung aus der psychiatrischen Krisenintervention letztes Jahr leise begann und sich mit jeder weiteren Erschütterung verstärkte. Wie eine zweite Tonspur oder eine alternative Realität. Ein Er.Leben neben meinem.

Praktisch die ganze Zeit haben wir eine Hand zur Faust geballt, wenn wir sie nicht gerade benutzen oder konzentriert auf etwas sind. Unsere Schultern scheinen wie an einem Holzbalken unter der Haut aufgehängt, auf den drauf auch das Stahlrohr gesetzt ist, auf dem unser Kopf steckt. Der Oberarm des rechten Arms tut nur dann nicht weh, wenn der Arm eng an den Körper gewinkelt oder gerade herunterhängend ist. Der rechte Oberschenkel macht nur dann kein Theater, wenn wir auf dem Rad sitzen und ihn beschäftigen.

Jemand riet uns schon zu Massagen. Wir selber machen jeden Tag diesen ganzen Entspannungskram, den wir gelernt haben. Aber es sind nicht die Muskeln, die angespannt sind. Es ist nicht das, was unter der Haut liegt, was sich so verhärtet und durchhält, aushält, stabil doch beweglich kämpft.
Wir haben seit der Klinikentlassung im Mai nochmal 12kg verloren und manchmal kommt es mir vor, als würde ich mich an den nun leichter fühlbaren Knochen festhalten. Die sind nämlich hart und stabil, egal, ob ich gerade erschöpft und emotional vollentleert in ein Zimmer meiner Wohnung starre oder frisch und fit schaffe, was ich mir vorgenommen habe.

Ich weiß, dass uns niemand sagen kann: “Alles wird gut.” oder “Ihr seid sicher.” oder “Ihr könnt loslassen – es ist alles auffangbar.” oder “Ihr könnt vertrauen/zutrauen/euch auf die Erfahrung des Lebens einlassen – es ist okay, nicht alles zu wissen.”. Aber der Wunsch danach ist da, weil wir unsere Erschöpfung spüren und Zweifel aufkommen, ob und wenn ja, wie lange wir noch durchhalten, aushalten, stabil doch beweglich kämpfen können.

Manche Menschen denken, dass es an den einzelnen großen Dingen liegt, die gerade anstehen. Glauben, mit den geregelten, gesicherten Verhältnissen, wird alles wieder gut. Glauben, wenn die Ausbildung in Ruhe anfangen kann, wird alles wieder gut. Glauben, wenn wir einfach mal “mit dem echten Leben” beschäftigt sind, wird alles wieder gut. Wenn unsere Hilfen alle ordentlich installiert sind, wird alles wieder gut.
Doch es sind die random little things, die uns momentan in ihrer Fülle zu erschlagen drohen, denn sie werden immer mehr. Alles keine großen Dinge – aber Dinge, um die man sich kümmern muss. Auch noch. Und nochmal und auch nochmal und ach ja – dies auch noch.

Wir hatten gestern einen Termin mit dem Begleitermenschen, in dem wir über absehbar auftauchende Probleme in der Schule gesprochen haben.
Obwohl wir nicht einmal sicher wissen, ob wir sie überhaupt antreten können und obwohl wir nicht sicher wissen, ob diese Probleme überhaupt auftreten werden.
Unser intuitiver Plan wäre, einfach hinzugehen und zu warten. Einfach kommen lassen und zusehen, dass wir lebendig wieder rauskommen. Einfach sterben und wie Phönix aus der Asche daraus hervor kommen. Wie immer bei so ziemlich allem, was wir tun.

Sich offen damit auseinanderzusetzen, was alles problematisch sein könnte, wurde uns jahrelang mehr oder weniger aktiv verboten.
“Mach dir doch nicht ständig nen Kopf über Dinge, die noch gar nicht passiert sind.” oder “Hör doch endlich mal auf, alles schwarz zu malen” hieß es immer wieder– obwohl wir jedes Mal mit unseren Problemanalysen recht hatten und letztlich immer wieder genau die Katastrophen eingetreten sind, die wir unbedingt schon im Vornherein in ihrer Auftrittswahrscheinlichkeit verringern wollten.

Nun saßen wir mit 30 Jahren vor einer Tafel und erlebten so etwas wie das Schreiben einer schon sehr viel früher möglich gewesenen Geschichte.
Ein Gespräch, in dem die Antwort auf die Frage, was in der Schule problematisch sein könnte, völlig okay auch “andere Menschen” sein darf und ernsthaft ausführlich auseinandersortiert wird, um zu einem Ergebnis zu kommen.
Es tut gut, das erleben zu dürfen. Auch wenn es weh tut zu bemerken, wie gut uns genau das schon vor 23 Jahren getan hätte.

Es bedeutet aber auch weitere random little things to do.
Einen Fahrdienst finden und beantragen. Klärungsbedarfe mit Lehrenden und der Schule als Verwaltungsapparat. So viele Gespräche mit Inhalten, die so persönlich nah für uns sind und am Ende alle etwas von unserer Umgebung fordern, womit wir letztlich noch gar nicht gut umgehen können.
Wir haben so viele Jahre mit Sozialarbeiter_innen, Mediziner_innen und Psycholog_innen über komplexe Traumafolgen gesprochen, dass es an uns vorbeizieht wie eine Fingerübung. Anderen Menschen jedoch zu sagen, dass bei uns ein Autismus vorliegt, fühlt sich an wie das Eröffnen der eigenen Bauchdecke, ohne jede Kompetenz für Selbstschutz.

Und daneben: Bald Schulsachen kaufen? Wenn ja: Welche und wo? Wasserdichte Schuhe kaufen? Wenn ja: Welche und wo? Und wieso hab ich eigentlich noch nichts von der Firma gehört, die NakNak*s neue Kenndecke fertigstellt? Für NakNak* ein Körbchen kaufen oder nicht doch besser eine einfache Decke? Oh G’tt, es gibt noch so viel um NakNak* zu er.klären …

Nächste Woche haben wir noch einmal “Urlaub”.
Doch mit im Gepäck ist wieder das Laptop, wieder das Skizzenbuch und die Dankbarkeit um WLAN in der Ferienwohnung. Wir treffen hoffentlich einen Menschen, den wir schon letztes Jahr gern treffen wollten, können auch dort Rad fahren und werden die Ost- und die Nordsee besuchen. Endlich.
Es ist toll diese Woche zu haben und gleichzeitig erscheint sie mir wie ein schwarzes Loch, das uns aufhält fertig zu werden.
Wir können nicht wirklich entspannen, wenn noch offene Dinge zu tun sind. Da geht es uns wie Forscher und blutigerlaie.

Aber wir wissen und merken, dass wir uns dringend ganz schnell jetzt sofort bald mal endlich entspannen müssen, weil wir uns sonst selbst (mal wieder) in einen Krisenkompensationsstrudel bewegen, einfach nur, weil wir immer weiter und weiter und weiter aushalten, durchhalten und stabil doch beweglich kämpfen.

der Feengarten

Er ist reichlich pink, mein Feengarten.
Zwischen einem Einhorn und zwei zierlichen Feen werden Federnelken und Flammenblumen wachsen. 

Hoffentlich.

Auf meiner Fensterbank steht außerdem noch ein Plastikgewächshaus mit frisch gesäten Mimosensamen.

Ich bin ein Pflanzenhospiz.
Eigentlich.

Aber vielleicht habe ich mich verändert in den letzten Jahren.
Vielleicht kann doch etwas Gutes, Schönes, Lebendiges von mir ausgehen.

Nach der letzten Therapiestunde ging ich nach Hause und starrte das Gesicht im Spiegel an.
Es ist gewachsen in den letzten zwei Monaten, dellig und irgendwie ölig.
Auch wenn die Verbindung problematisch ist: Ich neige zu Kummerspeck genauso wie zum weniger werden, wenn es mir nicht gut geht. Ist halt so.
Bei mir.

Die Klappe zu halten, bei mir zu bleiben mit dem was mich verletzt, tut mir nicht gut. Ist aber sozialkonform. Und sowieso, was andere von mir wollen.
“Sie wollten den Kontakt doch sowieso beenden…”
Ja, “beenden” – Nicht: “nach einer Aktion, die mich retraumatisiert hat ohne eine ordentliche Klärung (und Ent-Schuld-igung) zerfetzen lassen und dann unbewortet im Nirwana der Ignoranz und Selbstgefälligkeit verschwinden lassen”

Wenn andere Menschen mir vermitteln, dass sie nichts mehr mit mir zu tun haben wollen, obwohl eigentlich nur ein gegenseitiges Verständnisproblem da ist, dann ist das auch kein “Kontakt beendet”. Dann ist das: “Ich will nicht mit dir sein. Warum wieso weshalb- nein dieses Verständnis kriegst du nicht von mir erreicht. Geh weg. Ohne Diskussion.”.

Dran bleiben wäre Gewalt. Sich weiter der Hoffnung hingeben, da käme vielleicht doch noch was, sinnlos.

Aber egal.
Macht mal- ich komm klar- Hauptsache euch gehts gut. Hauptsache, ihr fühlt euch bestätigt von weiß G’tt wem oder was. Mir egal.

Nicht.
mampfEgalmampf

Ich hatte am Nachmittag des Therapietages einen Termin beim Betreuungsgericht.
Eine nette Frau erstellte einen Sozialbericht über mich. Uns.

“Und XY unterstützt Sie nicht mehr”, der Kuli glitt zwischen den engen Linien des Vordrucks, “Könnten Ihre Eltern die Betreuung übernehmen? Geschwister?”.

Von jetzt auf gleich wollte ich weinen. Ich setzte dazu an. Alle Kanäle in meinem Gesicht füllten sich. Es wurde eng. Drückte.
Ich atmete die Sachlichkeit der Situation ein und schüttelte ohne Worte den Kopf.

Sie fragte, ob die Gewalt, die meiner “Erkrankung” zu Grunde liegt, mit der Familie zu tun hat.
Ich nickte. Ließ meinen Blick über ihre Ordner schweben.

Draußen knallte es.
Einmal.

Sie fragte, ob es bei der Strafanzeige, von der im Anregungsbogen die Rede ist, darum ginge.

Es knallte draußen.
Ich nickte.

Ein letzter Knall. Ein Kind ließ Luftballons platzen.
“Ist aber schon zu spät jetzt. Für eine Strafanzeige. Ich hatte gedacht, es ginge schneller mit der Betreuung.”.

mampfEgalmampf
Ich habe genug über Strafanzeigen nachgedacht. Ich kann nichts tun und das soll so.

Gestern bin ich mit NakNak* Rad gefahren.
Ich war den ganzen Tag draußen.
Draußen draußen.
Nicht nur: “nicht im Käfig” sondern: “nicht in der Wohnung”.
Der Heuschnupfen macht mich fertig. Die Hitze. Mein Körpergewicht.
In der Therapie ergänzte ich den Begriff des “Hunger”s mit “ich merke meinen Bauch”.

Ich kann ihn im Moment nicht gut ertragen meinen Körper.
Er ist nicht selbst gemacht.
Meine Kontrolle über ihn ist begrenzt.
Ich sehe aus wie die Mutterfrau, als sie eine Krankheitsspitze hatte.
Aufgedunsen.
Bemitleidenswert und abstoßend gleichzeitig.
Für manche Menschen.

Der Fahrtwind war schön.
NakNak* direkt neben mir laufen zu sehen war schön.

Ich habe einen Johannisbeerenstrauch gefunden und ein paar reife Beeren gepflückt.
Bin in einem Bach herumgewatet und dachte ans Meer.

Ich dachte an meine Geschwister. An Verlassenheit.
An Strafanzeigen. An die Therapiestunde.
An das, was ich sagen willwollte und dann doch lieber neben meiner Kehle verstaue und mit jedem geschluckten Bissen weiter ins Nirgendwo presse.

Heute morgen dachte ich, dass ich etwas Schönes möchte.
Fühlen möchte.
Vielleicht auch erschaffen möchte.

Ich dachte daran, dass mein Körper nun 28 Jahre alt wird und ich gerne bald jemanden finden würde, der mit mir sein Leben teilen möchte.
Jemand, der mit mir eine Familie mit Kindern drin gründen möchte. Jemand, den ich aushalten kann.

Dann lachte ich mich aus.
Weil ich mich selbst kaum aushalten kann.

Ich erlebe mich paradox, zerfleddert, durcheinander.
Widersprüchlich.
Hässlich. Irgendwie noch tiefergehend abstoßend.
Und irgendwie denke ich, dass es allen anderen Menschen auf dieser Welt auch so gehen muss mit mir.
Logischerweise.

Gewaltfolgenlogischerweise.

Heute morgen fuhr ich in die Stadt.

Ich säte Samen in einen Feengarten.

 

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alles, außer…

runtergefalleneBlüten Die Sonne scheint in mein Schlafzimmer hinein und ich lasse mich anscheinen.
Ihre Strahlen schütten Wärme auf meinen Rücken, lassen die Schmerzen darin zu kleinen Rinnsalen schmelzen und herunter rinnen.

Ich sitze auf dem Bett. Gebeugt über den Keilrahmen mit seinem stinkenden Acrylbelag und pinsele gegen das Eintrocknen der Farben auf meiner Untertasse an.
Streichle das Maltuch, kitzle die Linien und torkle im Motiv herum.

Mein G’tt was tue ich hier?
Stunden um Stunden vergehen und das Leben schlammt in Brocken an mir vorbei.

Mein Nachbar ist wohl erkältet. Ich höre sein Rotzen und hörte seinen letzten Orgasmus irgendwann letzte Woche.
Die Familie schräg gegenüber, die letztes Jahr herzog, spricht inzwischen nicht mehr ausschließlich Russisch. Jetzt ist es ein Sprachmüsli, das sich im Hof verteilt, wenn sie grillen. Dieses IKEA- Familienmodel, das Federball spielt und am Geburtstag der Tochter, Kakao und Kuchen im Garten kredenzt.
NakNak* ist läufig, doch wenn ich das niemandem sage, ist sie es auch nicht. Dann plötzlich kommt raus, dass der Rüde so oder so nie gut hört.
Ich bade in meinem Hunger und es fühlt sich gut an.
Der Frühling schießt seine Blütenboten in die Welt hinaus und die Insekten heißen sie willkommen. Schmetterlinge finde ich schön. Obwohl sie manchmal behaart sind und lange Fühler haben, wie Weberknechtmägde und andere HmHmHm-Flügler.

Ich denke darüber nach, mein Fahrrad und den Anhänger dazu, fit zu machen. Weiß aber nicht, wohin zu fahren sein könnte.
Meine Muskeln sind zu Stein erstarrt.
Das Bild ist fast fertig. Es fehlen nur noch die Gesichter und die dicken schwarzen Linien um sie herum, die sie bannen und für immer dort halten. Raus aus mir und meinem Leben. Ich fürchte ihre Gesichter.

Aber, alles ist okay. Alles ist im Werden.
Ich habe alles im Griff.

Außer den Pinsel in meiner Hand.

vom Essen und Reden

Rein oder raus
oder liegen lassen?

Reinstopfen oder rauskotzen.
Schweigen oder sprechen.
Oder es lassen wie es ist?

Die Erfahrungen mit „es liegen lassen“ gleichen den Erfahrungen beim Backen der Challah zum Shabbat.
Den Hefeteig stehen zu lassen ist wichtig- genauso wichtig ist es aber, die Schüssel nicht zu vergessen. Sonst gibt es am Ende mehr Luft als Brot.

Und dann steht da wieder die Frage: rein oder raus? Egal, ob sie gut geworden ist oder nicht.
Essen oder raus aus sich halten?
Essen und wieder rausbringen?
Nicht essen und alles stehen lassen? Vor dem Tisch stehen, in die Kerzen gucken und sich fragen: „Was mache ich hier eigentlich?“

Vielleicht ist es ein Muster der Essstörung, das mir auffällt.
Vielleicht habe ich etwas zu lange liegen gelassen und jetzt mehr Luft als Masse im Kopf.

Mir fällt nicht ein, was ich hätte rauslassen können oder in mich hineingefressen habe.
Nur, dass die Gedanken wieder da sind, die ich als so vertrauten Nebenschauplatz erkenne.

Der und der Knochen- den sieht man kaum noch.
Dieses und jenes Lebensmittel hat diese und jene Eigenschaften.
Ich muss…

Ich kenne Essbrechphasen sehr genau. Wenn ich mich ausgekotzt habe, dann auf der körperlichen, wie seelischen Ebene. Ich dachte nicht: „Raus mit dem Essen“ sondern: „Raus damit- es soll weg weg weg“.
Raus mit diesem sperrig klebrig brockigen DAS DA. Umhüllt von Nahrung und nicht näher erkennbar.

Manchmal entpuppte es sich als Gefühl. Oder als Erinnerung.
Immer als ein Klumpen Ungesagtes.

419944_web_R_by_Günter Havlena_pixelio.deWenn ich nichts aß; nichts in mich einbrachte, so brachte ich in der Regel auch andere Dinge nicht in mich ein. Vor allem keine Selbsterkenntnis. Selbst- Bewusstsein hing wie die Waggons an einer Holzlok, gekoppelt an ausschließlich die Gefühle von Hunger und dem Schwinden auf allen Ebenen.
Das ist ein Ein-Weg-Zug. Eingleisig. Mit Hochgeschwindigkeit.
Keine Zeit Worte aneinanderzureihen- kein Platz, um irgendetwas Sagenswertes zu äußern.

Wenn ich mich vollstopfte, nahmen sich die Lebensmittel wie eine Dämmschicht aus. Eine Isolierung um einen Vulkan vor dem Ausbruch. Irgendwann weiß man nicht mehr, was da genau eigentlich ausbrechen könnte. Aber, dass es unbedingt nötig ist zu dämmen, erschien immer wieder in grell blinkender Leuchtschrift.
Vielleicht hatte man irgendwann etwas runtergeschluckt statt es auszusprechspucken, das dann verweste, zu einem Gift wurde, das durch die ersten Dämmschichten zu neutralisieren versucht wurde und dann bloß immer weiter in Schach gehalten werden wollte.

Vielleicht ist die Lautsprache deshalb immer wieder so eine blöde Klippe.
In meinem Mund ist ja auch dauernd irgendwas los. Ein rein- oder rausrasender, mal voll mal gar nicht beladener D-Zug, der Schäden anrichtet und ganz eigentlich von vornherein einem Konstruktionsfehler der Gleisverläufe unterworfen ist.
Vermutlich gibt es deshalb auch immer so ein Verkehrschaos zwischen Gedanken und Worten, Sprachen, Dialekten, Heute und Früher. Anscheinend ist der Bahnhof an dieser Stelle mein persönliches Mainz: alle krank und der Rest im Urlaub am Dissosee.

Und nun?
Ich weiß nicht mal wo der Dissosee liegt- gibts da überhaupt Telefon?
Ich könnte natürlich auch den D-Zug auf ein Abstellgleis stellen. Stünde aber trotzdem noch vor dem alten Problem: rein oder raus- oder abgestellt lassen, und Verwesung oder Luft statt Masse in Kauf nehmen.

Manchmal hilft es wenn ich weine. Aber das braucht ein bestimmtes Weinen.
Nicht so diese Rotzwasservariante, bei der man eher Gefahr läuft zu ersticken und eigentlich nur aufhört, weil man noch müder ist als vorher.
Ich brauche dann mehr so die Laufenlassvariante, bei der sich der Heulrotz in bequemer Ausschnaubposition sammelt und mit einem abschließenden Befreiungströten in ein Taschentuch befördert werden kann, um dann mit Schwung in den Müll gepfeffert zu werden.
So wie eine Art Hurrikan, der alle Bahnhöfe zum Neuaufbau zwingt.

Blöd nur, dass ich gerade nicht weinen kann, weil ich nicht wüsste wieso.

was meine Essstörung mit meiner Freiheit zu tun hat

Ich stand mit zwei Hosen übereinander und Steinen im BH auf einer Klinikwaage und wusste, sie würde eine Zahl anzeigen, die auf einem Aufnahmebogen vermerkt würde. Meine Ärztin würde eine Scheibe aus ihrem Schreibtisch nehmen, ein bisschen hin und her schieben und einen BMI von 18,5 in meine Akte schreiben.

Mindestanforderung an den BMI in der Klinik also erfüllt.
Man würde es im Blick behalten, doch von weitere Wiegeaktionen absehen. Hatte ich doch angegeben genügend zu essen, um das Gewicht mindestens zu halten.

In meinem Kämmerlein wusste ich, dass ich log und wusste auch, dass sie davon ausging, ich sei fixiert auf Zahlen, wie sie. Mein Aussehen und den Körper als manipulierbares Objekt sehen und hätte Kalorientabellen und Nährwerte in meinem Kopf, die ich mir vornähme, sobald es um meine Ernährung ginge.

Ph. Pustekuchen.
Nach damals 7 Jahren Gewichtsachterbahn rauf und runter, war ich von den Zahlen weg. „Anxiety“ und ich waren aufeinander eingespielt und lebten in einer Dynamik miteinander, die ausschließlich reaktiv war (und ist).
Ich wohne allein, esse, hungere, kotze allein.
Ich koche nur, wenn ich einen Job habe und mir frische Lebensmittel durchgängig leisten kann. Ich gebe kein Geld für Zeitschriften aus, auf deren Titel Diäten und neuste Kleiderkollektionen angepriesen werden. Ich suche keine Geschäfte auf, in denen riesige Plakate von normschönen Menschen über den Umkleidekabinen hängen. Nicht nur, weil ich mich dann schlecht fühle, sondern weil ich mir diese Sachen noch nie leisten konnte. Ich habe mit dem Sport im Verein aufgehört, doch nicht weil ich keinen ausufernden Ehrgeiz oder Auftrittskostüme in großen Größen mehr riskieren will, wie damals, als alles anfing, sondern weil es schlicht zu teuer ist.

Als ich damals in die Klinik ging, hatte ich die Möglichkeit zu sagen, dass ich hungrig bin, ohne die Reaktion „Ja, dann essen sie mal was…“ zu kassieren, wie ich es von anderen Außenstehenden erfuhr.
Was für eine Wohltat!
Wir wurden gefragt, was uns satt machen könnte.
Ich habe den Zettel immer noch auf den ein Innen schrieb: Freiheit

Wir sprachen also über Freiheit und Autonomie. Angstfreiheit als Privileg und unsere Möglichkeiten diese für uns zu erlangen.
„Anxiety“ ist Angst und Angst ist etwas, dass uns dazu verleitet, uns ein Gefängnis zu bauen und uns darin sicher zu fühlen. Darin geht es nicht um Normen und Werte, um Anpassung ans Außen oder dergleichen. Uns geht es darinnen einzig darum die Angst nicht zu spüren. Wer keine Angst hat, fühlt sich in der Regel, als hätte er Einfluss und Kontrolle über gewisse Dinge, dabei ist alles was beeinflussbar darin ist, der Grad der Wahrnehmung seiner Angst.
Ich esse und stoße damit an meine Gefängnistür- „Autsch- Waaaa!“
Ich esse nicht und schrumpfe immer weiter von den Stäben um mich herum weg- „Aaaaah- Frieden…“
Ich esse ganz viel und quelle an den Gitterstäben vorbei- „Arghgrmbl- ein stetiger Dauerschmerz, vielleicht wird er irgendwie wegdissoziiert…“

Wir waren damals noch massiv in Gewalt verwickelt und auf keiner Ebene autonom- obwohl wir allein lebten und allein alle unsere Kämpfe zu führen hatten. Behörden bestimmten über uns, die Täter bestimmten über uns. Unser Alltagsleben vermittelte uns durchgängig Abhängig- und Minderwertigkeit. Der freiste Akt war die Nahrungsaufnahme und ausgerechnet den haben wir uns verformt zu etwas, dass uns unter Umständen töten kann.

Wir hatten kein Sozialleben, dass uns mehr als ein „Ich HelferIn hier- Du die Durchgeknallte/ Abhängige/ Bedürftige/ Benutzbare da.“ zeigte.
Während der Therapie in der Klinik kam in einer Sitzung der Satz, Freiheit sei auch, die Freiheit sich mit Menschen zu umgeben, die nicht so mit uns in Kontakt gingen. Zum Beispiel eben die Freiheit in die Klinik zu gehen und zu erfahren, dass man trotz einer Schräglage der Macht auf Augenhöhe angesprochen wird. Als jemand der frei entscheiden kann und darf.

Über diese Erfahrung wurde es uns möglich unsere erste Gemögte kennenzulernen und einen Kontakt zu gestalten in dem eine Schräglage nur im Inneren existiert und nur dort wirkt.
Wir haben unser erstes Picknick mit dieser Gemögten gemacht. Gelernt, dass man auch frei auf einer Wiese sitzen und Camembert auf eine dicke Schicht Butter legen kann. Seine Bissabdrücke im Brot vergleichen und darüber lachen kann- obwohl „Anxiety“ im Innen tobt.
Wir kamen nach einigen Jahren an den Punkt, an dem wir erfahren konnten, dass diese Angst uns nicht tötet, wenn wir sie toben lassen. Wir spürten deutlich, wann sie anfing und endlich auch, dass sie auch wieder aufhört.

Es änderte sich nichts an dem Gefühl minderwertig und zu viel zu sein, die Angst ging nicht weg. Aber der bohrende Hunger, der da war, egal was wann wie und wie viel Nahrung dem Körper zu geführt wurde, wurde gestillt.

Wir nennen es „Leben essen“ und meinen damit „Freiheit konsumieren“.
Es ist eine freie Entscheidung und eigene Wertung innerhalb unseres Rahmens. Selbst wenn wir mehr Geld hätten als jetzt, würden wir uns zwei Mal überlegen, ob ein Besuch im Espritstore und das Gefühl von Hässlichkeit im Vergleich zu Modelplakaten den Wert der Kleidung, die wir dort erwerben können, unterliegt. Wir würden nachwievor keine „Frauen“zeitschriften kaufen, weil wir den sonstigen Informationsgehalt in anderen Zeitschriften höher bewerten. Und wir würden uns auch trotzdem nicht die Biogemüsekiste nach Hause liefern lassen, weil wir das Gefühl von freier Wahl im Super- oder auch Wochenmarkt einfach höher bewerten.

Dieses Gefühl von Freiheitspraxis ist mit großen Ängsten besetzt, doch sie hat mehr Nährwert als Zahlen und Regulierung der Essstörung selbst. Sie lässt uns leben, im Leben wirken, wachsen und das Privileg des Frei-seins von Machtstrukturen in denen wir von außen behandelt werden, als wären unsere inneren, uns zerstörenden, Wahrheiten auch außen wahr, untermauern und ausbauen.

Den Faktor den Nahrung in unserer Geschichte von je her einnahm, habe ich hier bewusst ausgeklammert. Wer Hunger kennt fürchtet ihn, lernt ihn aber auch anders einzuschätzen und mit ihm umzugehen, als jemand der ihn nicht so erfuhr. Unsere Omama hat uns Kinder nicht aus Liebe mit literweise Kakao abgefüllt, genauso wenig wie Täter uns aus Hass haben hungern lassen. Sie haben an uns etwas kompensiert bzw. befriedigt und benutzt. Sie trugen dazu bei, dass sich Ängste entwickelten, doch lösten nicht die Essstörung als solche aus.

„Anxiety“ war und ist also auch, neben allem anderen, was sie ist, ein Teil unserer Autonomie, die wir früher wie heute haben.
Selbst wenn wir real unfrei sind, können wir uns in ihrem Gefängnis frei fühlen.

the day after

Willkommen im Chaos!

Verbrachten wir die Silvesternacht erstmals mehr oder weniger einander bewusst und immer wieder schwankend zwischen dem fest und dem eher halbechten Wissen, dass wir in einer sicheren Umgebung und weit weit über die 90er Jahre hinaus am Fenster stehen und wunderbaren Farbenspielen zuschauen können; so wirr stehe ich nun im Tag danach in einem Gleichnis von Innen und Außen.

Draußen sieht es aus wie bei Hempels unterm Sofa. Abgebrannte Knallkörper, tote Raketen und leere Flaschen an jeder Ecke. Vielleicht klingt das schräg, aber es tröstet mich im Moment, dass es Außen ganz offen unordentlich aussieht. Nicht versteckt in Mülltonnen oder hinter Wohnungstüren oder der Kleidung.

Mensch XY meint, wir würden mit der Umwelt verschmelzen. Uns unsichtbar machen. Hm, ehrlich gesagt kann ich das nachwievor nicht so einfach hinnehmen, denn dass das nicht klappt ist offensichtlich. Ich finde mich immer zu auffällig- durchsichtig- stets “auf”- nackt…
Als ich neulich da in der Straßenbahnunterführung stand, merkte ich sehr wohl wie viele Blicke auf mir landeten, nachdem ich es nicht schaffte meinen Zopf unter der Mütze zu einzurollen. Wenige waren das nicht. Ich kann mir immerhin endlich vor Augen halten, dass es am spektakulären Zopf liegt (und vielleicht an der Angst von mir gleich einen Wachturm oder eine Bibel unter die Nase gehalten zu bekommen) und nicht an der Stickerei auf meiner Stirn: “Mit mir kannst du machen was du willst- du wärst nicht der Erste. Bedien dich ruhig”. Trotzdem. Auffällig ist es. Weit entfernt von verschmolzen und getarnt sein.

Ich bin froh darum mein Chaos hinter meinem Tarnanzug verstauen zu können und bald (wenn ich fertig bin) in einer Wohnung zu wohnen, die ebenfalls alles hinter Schranktüren, Regalvorhängen und Ordnungssystem versteckt, was mich im Chaos versinken lassen könnte. Was mich die Kontrolle über mich verlieren lassen könnte. Was mich mein inneres Chaos nicht nur sehen sondern auch fühlen lassen könnte. Was mich davon enthebt darüber Kontrolle zu haben, wie viel außenstehende Menschen über mich erfahren (was ich selbst nicht einmal weiß).

Doch jetzt gerade ist die 50 Stunden “wach”-Grenze bereits wieder überschritten, meine Ängste den morgigen Tag nicht ordentlich zu nutzen (Hartz und GEZ wollen Zettel sehen, ein Ticket muss gekauft werden und die läufige NakNak* braucht eine andere Route als sonst) wachsen schon wieder wie die Pilze in den Himmel.

Es ist ein Wunderlandsgefühl. Ich stand vorhin vor dem Kleiderschrank und war unfähig etwas “C. Rosenblatt-iges” auszusuchen, weil ich mich riesengroß fett und überdimensional sah, um dann, als ich mich auszog, um unter die Dusche zu gehen, zu schrumpfen und mich winzig klein und zerbrechlich in einem viel zu großen Bad zu fühlen. Plötzlich ist es so, dass ich denke, dass ich die Interaktion mit NakNak* wie ein Gespräch empfinde und ganz genau spüre, wie mein eigenes Fell zu stinken 525735_web_R_K_B_by_Martin Wegner_pixelio.debeginnt. Ich greife, über die Schande des Durstgefühls hinweg, nach einem Glas Wasser, um festzustellen, dass es schon leer viel zu schwer für mich ist und ich es fallen lasse, um dann wiederum meine Muskeln unter der Haut wachsen zu sehen und die Scherben aufzulesen.

Ich fühle mich inkonsistent fest. Chaotisch.

Trage ein Herrenhemd in Größe 56 zu einem Rock mit Rüschen am Saum. Eine Strumpfhose, die von Hello Kitty- Socken an den Füßen gehalten wird. Mein Zopf ist eng an die Kopfhaut geflochten und unter einem elastischen Loopschal versteckt. Erinnerungen tropfen in meine Augen. Gleichsam unkontrolliert tropft es aus ihnen heraus.

Bin ich froh, dass es regnet.
Und, dass alle anderen Menschen und die Umwelt draußen auch so aussehen.

So bin ich in meinem Chaos gleich mit Ihnen. Wenigstens auf diese Art getarnt….