Fundstücke #64

Es ist die dritte Woche unseres Praktikums und das erste weinschreiende Kleinkind, das mit uns im Zug fährt.

NakNak* und ich sitzen in Sichtweite, doch nicht direkt in der Szene. Dafür bin ich dankbar, denn mit dem Hund an der Seite ist der Kontakt zu fremden Menschen allgemein und Kindern im Besonderen zwar leichter möglich, aber nicht immer auch stressfreier.

Das Kind windet sich in der Karre, will aussteigen, will selber essen, will selbst den Trinkbecher halten, drückt und drückt sich gegen die Gurte, die es in der Karre halten.

Das Elter sagt Dinge, die nicht an das Kind, sondern die Umsitzenden im Mehrzweckabteil gerichtet sind. Macht mich wütend als es irgendwas mit „Fesselspielen“ sagt und uneindeutig lächelnd in die Runde guckt.
Die Runde drumrum sagt nichts. Später kommt eine ältere Person, die versucht das Kind, das inzwischen in einem Frustschreikreisel rotiert, abzulenken.

Dass wir uns selbst in irgendetwas eingekreiselt haben, merke ich erst, als Elter und Kind aussteigen. NakNak* schleckt unseren Unterarm an, drückt sich gegen unsere Brust. Wir schauen auf die gelbgrünen Wiesen und Felder draußen und lassen unsere Anspannung wie Steinschlag auf den Abteilboden rieseln.

Wir verbieten uns irgendwelche weiteren Gedanken über das Elter, das Kind, die Erziehungsmethoden. Es ist nicht unser Kosmos, wir haben keine Ahnung. Nur die Annahmen, die unser getriggertes Nervensystem generiert.

Dennoch denken wir darüber nach, was für ein Mechanismus das ist, wenn ein Elter auf so eine Art kommuniziert. So als wäre es in einer Mangege zur Darstellung eigener Überlegenheit oder in einer Art Show der Kompetenzbeweise. Und what the fuck- was ist das für ein Sprung von „Eeeh sorry“ zu „Hehe Fesselspiele“?

Das ist doch kein Ausdruck von Kompentenz, da geht es doch nur um Überlegenheitsdemonstration.

Ich komme zu keinem Schluss, dann fährt der Zug in unseren Zielbahnhof ein. Am Abend schaue ich ein YouTube-Video an, in dem ein Kind unter 5 einen Bikini trägt. Was ist das für eine merkwürdige Situation, in der ein Kleinkinderkörper wie ein Erwachsenenkörper sexualisiert und entsprechend bekleidet (oder wie im Zug: geframed) wird?

Geht es dabei um Macht oder um Machtpotenzial? Um die Legitimation einer Kontrolle oder um die Angst vor einem kleinen Tyrannen, dessen größte Tyrannei darin besteht, sich zusehens zu etwas zu entwickeln, das den Eltern gleicht?

Was auch immer es ist, denke Ich, als ich das Video ausschalte, kein Kind kann sich dagegen wehren.
Es gibt keinen Schutz vor geistigen Übergriffen durch sexualisiertes Framing.

destruktiv

In Momenten wie diesem, fällt mir wieder ein, warum ich manchmal Angst davor habe, ein Elter für ein Kind zu sein.

Ich habe Angst vor einem Säugling, der stundenlang brüllt. Ich habe Angst vor einem Kleinkind, das mich kneift, weil es bockig ist. Ich habe Angst vor einem Schulkind, das mir gegen das Schienbein tritt, weil es mich nur gemein und böse und scheiße finden kann.

Eigentlich habe ich aber keine Angst vor dem Menschen in “Säugling”, “Kleinkind” und “Kind”, sondern vor der Destruktivität, die gerade bei Kindern Ausmaße hat, die global sind. Immer. Radikal und durchgehend bis es wieder vorbei ist.
Ich erschrecke mich vor mir selbst, wenn ich spüre wie sich mein Stachelpanzer bildet, mein Sehen verschwimmt, mein Hören ein durchgehendes Rauschen wird, damit ich durchhalte bis es wieder vorbei ist.
So hab ich Menschengewalt und die damit einhergehende Destruktivität immer überstanden und so überstehe ich sie noch heute.

Autodestruktivität ist an der Stelle übrigens etwas völlig anderes und das ist mir vorhin erneut in den Kopf gekommen.
Wenn man sich selbst zerstören oder wenigstens weh tun will, dann heißt das nicht “etwas kaputt machen” oder “etwas zerstören” oder “jemandem weh tun” – dann heißt es “sich behaupten” oder “man tut, was man eben tun muss” oder es ist so ein nonverbales Machtding, in dem man so groß ist, dass man alles wieder unter seine Kontrolle bringt (aka: “Alles in Ordnung bringt”).

Ich habe vorhin gedacht, wie sehr ich hoffe, dass ich nie das Elter eines Kindes werde, das sich selbst zerstören muss und nicht merkt, dass ich nicht es selbst bin. Das merken kann, dass es eine Grenze zwischen sich und mir gibt.

Und dann habe ich gedacht: “Ach guck mal – das ist also dieses “sich abgrenzen””, und spürte, dass meine Angst weniger wurde.
Wenn ich merke, wo meine Grenze ist, dann kann ich auch merken, wie sehr es nicht um mich geht.

Beruhigend.
Hoffentlich vergesse ich das nicht, wenn ich in 10 –15 Jahren einen Kinderschuhabdruck am Schienbein habe.

Kinderbücher mit Behinderung

Ich kann es so gut verstehen, wenn Kinder und ihre Eltern sich mehr Vielfalt in Büchern wünschen, wie Mareike das bei sich im Blog tut.

Für mich fängt es schon bei den Namen, der Hautfarbe und spezifischen Kultur- und/oder Religionseinflüssen in verschiedenen Alltagen an, die mir oft fehlen, aber natürlich fehlen auch die Leben von Kindern, die mit zum Beispiel Down Syndrom und und und und auf die Welt gekommen sind, in aller Regel in Kinderbüchern.
Für meine Eulengeschichte suche ich noch immer einen Verlag und arbeite nebenbei als kleines Ausruh-Eskapismus-Novemberüberstehdings an einer anderen Kindergeschichte. Deshalb stecke meine Nase gerade verstärkt in diese Szene und mir fallen da ein paar Dinge auf, die mitverantwortlich für wenig Diversität in Kinderbüchern sein könnten.

Meine Eulengeschichte ist so ein typisches Stück in Sachen “ein Kind bekommt etwas von einem Erwachsenen erklärt”. Davon gibt es ziemlich viele Kinderbücher, finde ich. Eigentlich kommt kaum ein Kind in Geschichten ohne elterliche/erwachsene Erklärung weg, was auf adultistischen Gesellschaftsstrukturen beruht. Erwachsene denken (und bekommen immer wieder von allen Seiten präsentiert), dass Kinder absolut hilflos sind und Dinge nicht verstehen oder nicht richtig verstehen und immer alles erklärt haben müssen.
Sicher ist das nicht nur falsch – aber in der Repräsentation schlägt es sich dann eben doch auch in Kinderbüchern nieder, in denen es so läuft, wie in meiner Eulengeschichte. Eltern wie Kinder finden sich darin wieder und kaufen solche Geschichten entsprechend (Überraschung- der Kreis ist geschlossen).

Die Eulengeschichte ist allerdings etwas philosophisch und sprachknickerig angehaucht. Da geht es um den Grat zwischen “ausgewachsen” und “erwachsen” sein – um Reife, die manchmal zu vermitteln schwierig ist. Für Kinder, die genau in dem Alter sind, in dem sie lieber stundenlang allein ein Treppenhaus hochklettern wollen, als wie “als sie noch klein waren” getragen zu werden, ist meine Geschichte vielleicht noch nichts. Für Jugendliche, die Dinge tun wollen, die den Handlungen von erwachsenen Personen nahekommen, ist der physische Aspekt des “Auswachsens” vielleicht nicht mehr so greifbar.
Das sind bis jetzt jedenfalls so die Rückmeldungen, die ich mit den Absagen erhalten habe. Es sind die Einschätzungen Erwachsener über die Rezeption von Kindern und Jugendlichen, die sicherlich auch begründet sind, keine Frage. Aber es sind eben nicht die Einschätzungen von den Personen, für die ich die Geschichte geschrieben habe und dieser Aspekt von Perspektive ist es, der eine Rolle spielt und den ich in der Geschichte, die ich jetzt angefangen habe, auch an mir selbst bemerke.

Es geht in der Geschichte um ein Kind, das sich etwas fragt und in einem Traum dann die Lösung findet.
Ich habe bemerkt, dass ich beim Schreiben und Zeichnen immer wieder mich selbst zum Vorbild nehme – obwohl es a) ein Kind ist, das b) einen Rollstuhl benutzt und, das c) in einer Familie (also nicht allein) lebt.
Meine Figur ist weit von meinem (Er-) Leben entfernt und ich sehe die Auswirkungen davon auf meine Ideen. Zum Beispiel wollte ich das Kind im Traum laufen lassen, weil es ja ein Traum ist und ein schöner Traum sein soll. In solchen Momenten bin ich dann froh darum, dass ich so viele Menschen, die Rollis und andere Hilfsmittel nutzen, direkt übers Internet erleben kann, sonst würde ich nicht den Impuls zur Reflektion bekommen haben, was das für eine Quatschidee ist.
Es gibt keinen Grund den Traum so weit von der (Er-)Lebensrealität meiner Figur zu entfernen und so nah an mich selbst heranzubringen, aber die “Verlockung” ist ganz klar da und kommt ja auch nicht aus dem Nichts.

Die “guten” Rolemodels für Menschen, die behindert werden, sind immer* die, die _trotzdem_ (nicht _auch_ ) klar kommen. Es sind immer die, die besonders strahlend von ihrer Lebensfreude und ihrer Kraft sprechen und natürlich “totaaaal normaaaaal” sind.
Sichtbar wird da nicht, dass es sich um Menschen handelt, die ohne (finanzielle) Unterstützungen gar niemals da angekommen wären, wo sie sind. Abhängigkeiten werden nicht als Abhängigkeiten benannt, sondern als Lebensstil oder großartig- fast unmenschlich aufopferungsvolle – Hilfe markiert. So, als hätten diese Personen die Wahl zur Hilfe getroffen, weil sie es wollten – nicht, weil ihr Überleben oder die Sicherung von Lebensqualität und Teilhabe an gesellschaftlichem Leben daran hängt. Also etwas, das man _braucht_ und deshalb will.
Das ist der Unterschied, den Behinderungen jeder Art einfach immer auch mit machen. Die Intension von Entscheidungen, die getroffen werden, haben immer auch mit dem Grad der Abhängigkeit von der Umgebung, in der diese Wahl getroffen wird, zu tun. Natürlich kann ein Rollifahrer zu den Paralympics fahren – wenn er genug UnterstützerInnen* hat, die die Ausrüstung, Hilfsmittel, Training, Transportkosten mitstemmen und er genug Resilienzfaktoren in sich hat, sich durch diese Herausforderung durchzubeißen.
Die Dynamik von Verwertungsinklusion, die derzeit überall gefördert (weil von KapitalistInnen* gefordert) wird, funktioniert auf Diskriminierungsachsen immer gleich und macht keinen Unterschied.

Ich glaube nicht (aber ich irre mich da gern), dass diese “Traum ohne Rollstuhl – Sequenz” bei einem Verlag direkt als schwierig markiert worden wäre, denn da ist ja noch “Heidi”.
Das Heidianime von 1989 – ich liebe es!
Klara war das erste Kind im Rollstuhl, mit dem ich als Grundschulkind in Berührung kam. Dass diese Figur durch das liebevolle Zuwenden und Üben; die gute Alpenluft und ihren Willen am Ende laufen konnte und alle Menschen damit glücklich macht, hat in meinem Bild von Menschen, die Rollstühle benutzen, bis heute eine Spur hinterlassen, an der ich nun als Kinderbuchautorin in Spee herumradiere.

Ich lebe heute allein und Rollstühle sind kein Alltagsgegenstand mehr für mich. Ich bin nicht mehr viel umgeben von Menschen, die körperliche Wuchsrichtungen mit Hilfsmitteln kompensieren (müssen), um sich an andere Menschen bzw. die auf sie und ihre Möglichkeiten ausgerichtete Lebensumgebung, anpassen zu können und ich merke, dass das etwas ist, woran ich mich jetzt aktiv erinnern muss, um nicht eine weitere Geschichte nach dem Heidistrickmuster bzw. mit einer Essenz von “Heidi” zu erzählen.

Das ist ein Faktor, der mich an der Darstellung auch meiner Behinderung nämlich sehr nervt: der Implizit der Veränderbarkeit der Behinderung (und nicht der Lebensumgebung).
Meine Behinderung aufgrund psychischer Faktoren wird immer und immer wieder als eine Phase, ein Lebensabschnitt, als krank (und deshalb von ÄrztInnen* “wegmachbar” oder zum Positiven veränderbar) dargestellt – nicht als etwas, das mich als jemanden sichtbar macht, der aufgrund bestimmter äußerer Faktoren so gewachsen ist. Es wird nicht klar, dass es sich um die Folge von Anpassungsreaktionen handelt, die bis heute und vielleicht auch für immer, wenn auch nicht immer gleich intensiv und umfassend, in mir und meinem Erleben wirken.

In meinen Fantasien über mich selbst, kommt nie drin vor, dass ich ohne Angst bin oder ohne Innens. Wenn ich mir ein Bild von mir in bestimmten Lagen mache – egal, wie fantastisch sie sind: “die Anderen” sind immer da, wie jetzt – meine Belastungsgrenze, meine emotionalen Kapazitäten, sind genauso ausgerichtet, wie jetzt. Meine Lebensumgebung verändert sich- aber ich selbst nicht.
Meine Fantasie sprengt immer nur die Grenzen, die ich auch real sprengen könnte (und sei es in Metaphern) und genau das jetzt bei dieser Kindergeschichte zu beachten.. woah- das ist wirklich überhaupt gar nicht so einfach, wie ich mir das am Anfang vorgestellt hatte.

Ich weiß, dass man in seine Figuren hineinschlüpfen muss, um sie voll und rund wirken zu lassen.
Es ist aber auch klar, dass ich nur so viel “Füllmaterial” mitbringen und positionieren kann, wie ich selbst wahrnehme.
So wird dieses kleine Ausruhprojekt auch eine Lektion in Demut vor meinen Fähigkeiten für mich.

Ich möchte keine Geschichte schreiben in der das Kind besonders ist, weil es den Rolli nutzt, sondern, weil es sich die Frage stellt, die es sich stellt und sich selbst beantwortet. Aber dadurch, dass es den Rolli nutzt (was es tut, gerade weil ich eben keine 08/15 Profitkindergeschichte schreiben möchte) wurde es für meine Vorstellung irgendwie doch wieder beinahe logisch, einen für viele junge wie alte Menschen alltäglichen Gegenstand zu etwas zu machen, das eben nicht so normal ist, dass er auch in einem Traum vorkommt.

Das ist, was Behinderungen zu Behinderungen im Sinne von Hindernissen macht: die eigenen (unreflektierten) Vorstellungen über die Lebensrealitäten anderer Menschen
und das ist, was Kinderbücher dann auch nicht divers macht.

7 Erwachsene

Sie sucht herum und weiß nicht wohin. Sucht das Heute von Gestern und findet nur noch freie Fläche. Ihre Geschichte wird Stück für Stück gefressen von der Karies am Zahn der Zeit.

Stumm ist sie gezwungen zu sehen, dass ihre Schulen und sogar Kindergärten und Heime abgerissen wurden. Es ist nur noch ein leerer Platz, dort wo ihre Worte hallten und in niemandes Kopf zu dringen vermochten.

„Wo ist mein Gesagtes jetzt?“.
Sie steht da und wartet noch immer auf eine Antwort, dreht und wendet ihre Worte wie Steine in ihrem Mund herum. Ab und an beißt sie darauf, um ihre Festigkeit zu prüfen. Sich zu versichern, dass es noch die Gleichen sind wie vor 19 Jahren. Um dem kleinen Herzen, das in ihren Haaren wohnt, sagen zu können, dass sie gewappnet sei, falls doch die Erzieherin wiederkäme und sie nochmal fragte.

Sie steht noch immer an dem mehrschichtig lackiertem Karussell. Versucht zu ergründen, wieviele Farbschichten es bedecken und pult mit ihrem abkauten Fingernagel daran herum. 316455_web_R_K_B_by_mondstein_pixelio.de

„Hier sind wir lang gelaufen. Es war Sommer mit 37°C und sie haben Wasserschläuche hier hingelegt mit Löchern drin. Da konnte man nackig durchlaufen und es war so schön. Es gab Capri- Eis zum Mittag.“

Jetzt ist nichts mehr davon da.
Der Ort an dem die Not aus Versehen sichtbar wurde, existiert nicht mehr.
Es ist, als sei die Chance nun noch endgültiger als damals vergangen.

Das Heute hat das Gestern gefressen.
Was bleibt ist das Mädchen, das erzählte, dass es Monster gibt, die Kinder schlagen und auseinanderreißen.

Das Mädchen, das noch immer da steht und sich fragt, wo sein Gesagtes jetzt ist.

Im Schnitt muss ein (sexuell) misshandeltes Kind, 7 Erwachsene ansprechen, bis es gehört wird