Behinderung #3 – die Relativität von Behinderung – #DisabilityPrideMonth

Als komplex traumatisierter autistischer Mensch werde ich von Dingen, die mich sensorisch überreizen und sozialen Normen, die meine Regulations- und Kompensationsmöglichkeiten stark begrenzen bis verbieten, pathologisieren oder bestrafen, behindert.
Diese Konstellation könnte so verstanden werden, dass ich immer – jeden Tag im Jahr und überall – behindert werde und bin.
Das bin ich jedoch nicht und das hat etwas mit der Relativität von Behinderung zu tun.

Dieser Begriff ist wichtig für die Auseinandersetzung mit der Frage

Wer ist und wird eigentlich wann wie und warum überhaupt behindert?

In Deutschland kann man sich eine Behinderung amtlich anerkennen lassen.
Dazu stellt man einen Antrag bei der zuständigen Behörde[1], schickt ärztliche Atteste oder Stellungnahmen mit und wartet. Manchmal sehr lange. Und dann kommt ein Brief zurück, in dem drin steht, ob die Behörde die Behinderung anerkennt und wenn ja, in welchem Grad. Liegt der Grad der Behinderung (GdB) bei 50, so wird von einer Schwerbehinderung gesprochen. Dann erhält man einen Schwerbehindertenausweis und hat eine Grundlage, um verschiedene Nachteilsausgleiche zu beantragen.

Dieser Vorgang führt bei manchen Menschen zu der Idee: „Aha, ich muss also nur eine Behörde überzeugen, dass ich es wirklich sehr schwer habe und zack bin ich behindert und kann mir auch noch Vorteile einstreichen.“
Behinderung ist jedoch keine bürokratische Kategorie, sondern eine soziale. Sie erscheint – besonders hier in Deutschland – als bürokratische Kategorie, weil behinderte Menschen und ihre Bedarfe hochgradig bürokratisch verwaltet und behandelt werden.
Und Vorteile bringen Nachteilsausgleiche oder auch Ermäßigungen für schwerbehinderte Menschen praktisch nie. Dazu empfehlen wir die aktuelle Podcast-Folge von „Die Neue Norm“ (Link zur Webseite) und meinen nächsten Text, in dem es um Behindertenfeindlichkeit gehen wird.

Keine Behinderung wirkt immer gleich bzw. stellt sich immer gleich dar. Wenn mir ein Daumen fehlt, ist das anders, als wenn einem professionellen Pianisten einer fehlt.
Aber jede behinderte Person muss das immer gleiche kompensieren. Nämlich die negative soziale Reaktion auf die unerwünschte Abweichung von einer wie auch immer definierten Erwartung und dessen Folge(n). Sowohl der Pianist als auch ich, müssten kompensieren, dass es praktisch keine Kleidungsverschlüsse gibt, die ohne Daumen leicht zu benutzen sind und Ähnliches.

Viele Menschen übersetzen „Behinderung“ auch mit „Leiden“ und erleben die Anerkennung ihrer Behinderung auch als Anerkennung ihres Leidens unter den negativen Auswirkungen der Behinderung und ihrer unter Umständen schlechteren Lebensqualität.
Besonders im bürokratischen Anerkennungsprozess führt diese Übersetzung zwangsläufig zu emotionaler Verletzung, Kränkung, bei manchen Menschen auch (Re-) Traumatisierung.
Da es sich um einen reinen Verwaltungsakt handelt, dessen Hauptanspruch die Einordnung von objektiven Sachverhalten ist, kann diese Anerkennung nicht auch auf der emotionalen Ebene erfolgen.

Auch das Leiden unter oder an (einer) Behinderung ist relativ, da hochgradig subjektiv.
Das bedeutet jedoch nicht, dass das Leiden darunter als Faktor die Relativität der Behinderung im Kontext einer bürokratischen Einordnung bestimmt. Also, dass wer am stärksten leidet, den höchsten GdB anerkannt bekommt.
Im Kontext der sozialen Einordnung hingegen gilt das Leiden unter einer Behinderung häufig noch mit am stärksten als maßgebend. Das liegt an der ableistischen Überzeugung nur „nicht behindert“ lebe es sich angenehm und leidensfrei. Die soziale Reaktion darauf ist in der Regel Mitleid, Infantilisierung, Bevormundung und die Einräumung von Schonräumen, die die behinderten Menschen nicht verlassen können, weil dies zu einer anderen negativen Reaktion führt: Dem Vorwurf nur so getan zu haben als bräuchte man Unterstützung/Hilfe (als ob Schonung immer Hilfe/Unterstützung sei), also implizit dem Vorwurf, eine Person und ihre Reaktion ausgenutzt zu haben.

Das Konzept der Relativität von Behinderung verstanden zu haben, ist also notwendig in der Auseinandersetzung mit der Frage danach wann wer warum behindert ist, aber auch bei der Beantragung einer behördlichen Anerkennung. Vor allem für behinderte Menschen, die unter (der) Behinderung leiden und ihre eigenen Ableismen noch nicht konfrontiert und bearbeitet haben.

 

[1] Link zur Webseite „Besser Leben Service“, wo man für jedes Bundesland die passenden Antragsformulare herunterladen kann.

Diagnosen, Kontext, Autismus-Lifestyle

In der ASS-Bubble wird schon wieder über „Lifestyleautisten“ geredet und darüber, dass auch Selbstdiagnosen valide seien. Es scheint die Faker-Diskussion zu sein, die wir bis heute auch in der DIS-Bubble immer wieder beobachten.
Wer ist echt, wer hat wirklich ASS – wie echt ist die Person, die über sich schreibt, sie hätte eine DIS aber keine Diagnose bliblablö
Als Person mit offiziellen Diagnosen ist es natürlich immer leicht, sich dazu so genervt und abwertend zu äußern, wie ich das hier tue. Ich hab die Diagnosen ja, ich muss ja nicht um Anerkennung meiner Probleme/Symptome kämpfen. Ich muss ja nie damit rechnen, dass jemand kommt und mich einen Fake oder eine_n Lifestyleautist_in nennt (und mich damit beleidigt? abwertet?)

LOL
als ob

Als ob es in diesen Diskussionen jemals wirklich um die Diagnosen geht.
Als ob es je wirklich bloß um die Anerkennung der Sorgen, Nöte, Probleme, Besonderheiten oder Individualitäten geht.

Wäre dem so, dann würde es diese Diskussion einmal geben und dann nie wieder, weil es ganz praktische Lösungen für diese Ansprüche gibt. Es geht aber nicht darum und es ist hochproblematisch dies zu negieren oder zu missachten.

Diagnosen sind Begriffe aus dem medizinischen Kontext und in diesem allein funktionieren sie so wie sie sollen.
Ärzt_innen müssen einander vermitteln können, was sie wann wie wo wahrgenommen haben und den Kolleg_innen mit aller den Umständen gebotenen Präzision kommunizieren, in welchen darüber liegendem Kontext sie diese Beobachtungen (am ehesten) einordnen.
Es geht also um zwei Dinge: die an einem Objekt wahrgenommenen Eigenschaften und dessen Verwaltung. Nicht mehr, nicht weniger. Es ist relevant, einen Beinbruch diagnostisch von einer Prellung zu unterscheiden, weil die Verwaltung, also der Umgang mit dem Befund jeweils ein anderer sein muss, um das definierte Hauptziel von Behandler_innen zu erreichen: Heilung und, wo diese nicht möglich ist, Palliation.
Die Diagnose „Beinbruch“ sagt nichts über das subjektive Empfinden dessen aus. Sie sagt nicht: „Tut mehr weh als eine Prellung“ und auch nicht „Birgt schlimmere Konsequenzen als Prellung, Verstauchung, Abschürfung…“ Sie sagt nicht einmal „Dr. XY hat auf dem Röntgenbild einen gebrochenen Knochen gesehen.“, sondern „Dr. XY hat das, was sie_r auf dem Röntgenbild gesehen hat, als Bruch eines Knochens interpretiert.“

Damit sind Diagnosen keine Fakten. Egal, ob sie zutreffend sind oder nicht. Egal, wer sie wann nach welcher Untersuchung/Diagnostik wie und warum formuliert hat, hat keine unumstößlichen Fakten oder Wahrheiten geschaffen, sondern eine Beobachtung zusammengefasst, die von vielen Faktoren beeinflusst wurde und auch nach der Diagnostik weiter beeinflusst wird.

Im Lebensalltag sind Diagnosen gewissermaßen Werkzeuge in Laienhänden. Manche benutzen sie genauso effizient und effektiv wie Mediziner_innen oder auch Forscher_innen und manche benutzen sie, um Probleme zu benennen oder auch zu lösen, die mit anderen Werkzeugen besser zu lösen und auch zu benennen sind. Diagnosen sind extrem präzise, Menschen hingegen extrem diffus. Das, was im medizinischen und auch therapeutischen Bereich mit Diagnosen gemacht wird, ist im Alltag nicht gleichermaßen umsetzbar, weil der gesamte Kontext ganz grundlegend anders funktioniert.
Die (westliche) Medizin ist einer extremen Ordnung unterworfen. Das zeigt sich am weißen Kittel und der Personalhierarchie im Krankenhaus genauso wie daran, dass jede Zelle, jeder körperliche wie seelische Vorgang eine eigene, extrem präzise Bezeichnung, Kategorie und Umgangsvorgabe hat. Jemand sagt jemandem ein Wort und ein Zahnrad greift in das andere, damit eine bestimmte Funktion erfüllt werden kann. Es geht immer um befundete Eigenschaften und ihre Verwaltung. Erkenntnis und Ordnung.
Der zivile Alltag hingegen enthält neben Erkenntnis und Ordnung auch noch die individuelle Bedeutung dessen, da hier der soziale Status miteinander verhandelt wird, der maßgeblich zum Erhalt von Macht ist.

Da Diagnosen im medizinischen und therapeutischen Kontext, der an sich bereits vielen Menschen Autorität und also Macht ver_ortet, so eine im wahrsten Sinne des Wortes bestimmende Funktion hat, erscheint es vielen Menschen logisch, diese Funktion könne genau so auch in den Alltagskontext übertragen werden. Die (vermeintliche) Eindeutigkeit von Diagnosen wird als der Diagnose zu eigen betrachtet – nicht dem medizinischen Kontext, die diese Eindeutigkeit erforderlich macht und entsprechend produziert.
Nun führen Diagnosen aber keinesfalls zu bedeutungslosen Wertungen und Einordnungen im Alltagsleben. Schon gar nicht in einem Alltagsleben, das von Gewalt in verschiedensten Formen definiert ist.

So kann es nicht verwundern, dass die gleichen Diagnosen in den unterschiedlichen sozialen Klassen, Schichten, Gruppen… unterschiedliche Bedeutungen zugeschrieben werden.
Wer prekär lebt und entsprechend kaum Zugang zu adäquater Versorgung/Therapie aber auch zu dem Wissen um die mit der Diagnose benannten Beobachtungen hat, bewertet eine Diagnose ganz anders als Menschen, die selbst Mediziner_innen sind oder Zugang zu Geldmitteln haben, die ihnen Zugänge verschaffen. Aber auch soziale Peergroups bewerten sowohl den Umstand, dass man eine Diagnose hat als auch verschiedene Diagnosen unterschiedlich. Vielleicht ist in einer Gruppe eine DIS zu haben ganz üblich und hat die Bedeutung eines Markers für Zugehörigkeit – in ebendieser Peergroup aber ist es vielleicht ein Ausschlussgrund daneben noch eine andere Diagnose zu haben oder ein anderes Symptomwirken als die meisten in der Gruppe zu haben.

So muss die Diskussion um „Lifestyleautist_innen“ und „DIS-Faker“ als etwas (für) wahr.genommen werden, das mit der Gruppenzugehörigkeit der Diskutanten zu tun hat, aber auch mit der Bedeutung von Diagnosen in diesen Kontexten.

Ich habe meine ersten DIS-Fake-Diskussionen als arme, alleinstehende Person Anfang 20 geführt. In Foren, die praktisch mein einziger Sozialkontakt neben denen zu Täter_innen, Psychotherapeut_innen und unsicher gebundenen Betreuer_innen waren. Ich musste meine DIS sehr eindeutig für diese Gruppe kommunizieren – diese Eindeutigkeit war erforderlich, denn menschliche Diffusion war für die ebenfalls komplex traumatisierten Menschen mit DIS in dieser Peergroup nicht auszuhalten. Ein Trigger, der immer, bei wirklich jedem einzelnen Post mit im Raum stand und von allen mit großem Kraftaufwand vermieden wurde. Jede Person, die diesen Code in, sagen wir, zwei, drei Posts nicht zu übernehmen vermochte, wurde mit einem (traumabedingten) Misstrauen beäugt und oft auch schon des Fakes bezichtigt. Und da man nichts beweisen kann, das man nicht ist, blieb dieses Forum auch immer sehr klein. Sehr exklusiv. Die Administratorin dieses Forums hatte irgendwann eine Hierarchie etabliert, die man, wenn es um andere Inhalte gegangen wäre, sehr leicht als faschistoid erkennen hätte können. Man durfte als „normale_r User_in“ gar nicht mehr anders ein.ordnen als in „Fake“ und „echt“ und selbst „richtig“ eingeordnet zu sein war enorm wichtig. So wichtig, dass man Klinikberichte und Überweisungszettel vorzeigen musste, um nicht gebannt zu werden.
Ich konnte mich dem erst entziehen als mir klar wurde, dass ich in dieser Gruppe für meine Heilung mit Ausschluss bestraft werden würde, denn dann stünde in meinen Zetteln nicht mehr DIS, sondern entweder etwas anderes oder auch gar nichts mehr. Und was sollte ich dann in diesem Forum? Ich war da nicht, um meine Diagnose zu zelebrieren.

Sogenannten „Lifestyleautist_innen“ wird genau das übrigens unterstellt:
Sie wollen „den Lifestyle“, aber ohne die Diagnose. Sie wollen behandelt und anerkannt werden als hätten sie eine, aber haben vielleicht gar keine. Sie wollen für Autist_innen reden, aber die Kämpfe von Autist_innen nicht kämpfen (z. B. den Kampf darum überhaupt gehört (und verstanden) zu werden).
Soweit die Vorwürfe, die ich bisher so wahrgenommen habe.
Für mich zeigen sich darin sehr viele interessante Annahmen. Allein schon die Idee mit einer Diagnose sei ein (erstrebenswerter?) Lifestyle verknüpft, den man wählen könne, weil er sich durch die Diagnose ergibt und nicht durch die Schwierigkeiten/Besonderheiten/Behinderungen/Notwendigkeit zur Kompensation der Dinge, die beobachtet und mit einer Diagnose mit.teilbar gemacht wurden.
Es zeigt sich aber auch hier die soziale Bedeutung der Diagnose. Es gibt Menschen für die eine ASS-Diagnose die gleiche Eindeutigkeit wie Fakten und also gewisse Wahrheiten hat. Und viele dieser Menschen verknüpfen diese Eindeutigkeit mit Autorität und damit der Macht Anspruch auf Vorrechte zu erheben; der Macht (über) andere Menschen zu be.stimmen; der Macht andere Menschen mit der gleichen absoluten Gewalt zu ordnen, wie es die Medizin zum Beispiel tut, um systematisch Wissen zu schaffen und mitzu.teilen.

An dieser Stelle ist wichtig zu verstehen, warum ich immer wieder auf die Autorität der Medizin zu sprechen komme.
Die Medizin und ihre Fachgebiete (zu denen ich hier die Psychologie hinzuzähle, obwohl sie üblicherweise anders kategorisiert wird) sind nicht und waren nie gewaltfrei, heile heile Segen und warme Worte zum Geleit, deshalb haben sie den Stellenwert, den sie heute haben. Ja, Medizin macht vieles gut, was vorher schlimm war, Mediziner_innen sind extrem gut ausgebildete Menschen mit enorm viel Wissen, von dem alle profitieren und die meisten Mediziner_innen setzen ihr ganzes Wissen und Können ein, um zu helfen und zu heilen.
Das löst sie jedoch nicht aus dem Kontext einer Ordnung, in der menschliche Diffusion missachtet, beschnitten, zuweilen sogar negiert werden muss, um zu funktionieren. Und auch nicht aus der Autorität, zu der Mediziner_innen gemacht werden und die manche von ihnen auch wollen/wünschen/einfordern/als natürliches Recht wahrnehmen.
Aber auch nicht aus dem Kontext des Alltagslebens, in dem die Medizin einen auch sozial ordnenden Platz hat.

Medizinisches Wissen gibt Sicherheit durch den Eindruck von Orientierung (durch ihre Ordnung). Menschen, die schwer verständliche medizinische Inhalte vermitteln können, Menschen, die als Erfahrungsexpert_innen sowohl die eigene Erlebenswelt mit einer Krankheit/Störung/diagnostizierbaren Varianz als auch dessen Verortung in der Medizin kennen und mit.teilen können, profitieren von der Rolle der Medizin im Alltagskontext. Sie werden von Geordneten zu Ordnenden. Vom Objekt zum Subjekt in einem Gebilde, das zu Tode erschrecken würde, hätte es nicht schon so viel Gutes für Menschen ermöglicht.

Wer Menschen Diagnosen abspricht oder zuweist, tut das praktisch nie aus Gründen der Verbindung oder Einung, sondern immer aus Notwendigkeiten heraus. Etwa, weil man Diagnosen mit Charaktereigenschaften oder Markern für soziale Zugehörigkeit verwechselt oder weil man die Macht der Autorität ge.braucht. Oder, weil eine Diagnose möglicherweise das einzige ist, das man mit anderen Menschen teilt (oder glaubt zu teilen) und sich (und den eigenen Lifestyle) darüber definiert. Das erscheint manchen Menschen vielleicht erbärmlich, weil eine Diagnose in der Regel sehr wenige Eigenschaften umfasst – aber im Fall einer ASS (und auch einer DIS und anderen „Störungen“) handelt es sich um Clusterdiagnosen, die sehr viel vom Er_Leben einer Person umfassen und benennen.

Problematisch in der Lifestyleautist_innen-Debatte ist für viele Leute der Alltagskontext, in dem sie passiert. In diesem als Betroffene_r (oder Angehörige_r die_r entitled genug ist, sich wie selbst betroffene Menschen zu äußern) aufzutreten und zu bestimmen, wer autistisch ist und wer nicht, negiert, dass Diagnostik eine soziale wie medizinische Ressource ist, die ungleich verteilt und ungleich zugestanden wird – aber auch ein Instrument der Ordnung und damit Gewalt ist.
Menschen, die wissen, dass sie autistisch sind, aber keine Diagnose darüber wollen existieren und die haben jedes Recht sich zu verweigern – und jede Unterstützung zu erhalten, die sie brauchen, um gut zu leben.
Ja, Formalitätendeutschland mit seiner Zettelgewaltwirtschaft konditioniert lehrt uns, dass wir ohne Autorität (ohne Experteninstrumente wie eine Diagnose zum Beispiel) keine Ansprüche erfüllt bekommen, das ist aber keine Aussage über die Legitimität von Ansprüchen an sich. Einigt man sich darauf, dass alle Menschen das Recht auf ein gutes Leben haben, kommt man nicht umhin festzustellen, dass bürokratische Strukturen allein nicht das Mittel sein können dieses Recht durchzusetzen. Schon, weil es auch hier um präzise Ordnung geht, die menschlicher Diffusion nicht entspricht, sie wohl aber verwaltet und also ordnet.

Dies gilt übrigens auch für Menschen, die sich selbst diagnostiziert haben und Menschen, die eine Diagnose erhalten haben, für die ihrer Ansicht nach nicht genug oder die falschen Aspekte ihres Leidens oder Seins einbezogen wurden.
Ja, man bekommt keine kassenfinanzierte Therapie ohne Diagnose, man bekommt aber auch keine Schokolade ohne zu bezahlen. Sich für oder gegen eine Diagnose zu entscheiden bedeutet also auch, sich für oder gegen eine Einbeziehung in Kontexte, die, ob krass oder nicht krass, schmerzhaft oder hilfreich für eine_n selbst, gewaltvoll sind, zu entscheiden.
Es hat derzeit, in diesen unseren gesellschaftlichen Verhältnissen, keinen Sinn sich ohne offizialisierte Diagnose hinzustellen und Umgänge mit sich zu fordern, die Behandlung, Unterstützung oder auch professionelle Pflege beinhalten, wenn man sie vom Staat oder der Krankenversicherung bezahlt bekommen muss. Eine von Expert_innen gestellte Diagnose ist in diesen Kontexten ein Marker mit Funktion – sagt aber wiederum nichts über die Menschen, die sie bekommen haben. Mit allen schlimmen wie vorteilhaften Konsequenzen.

Wo aber hat es Sinn Umgänge zu fordern, ohne eine solche Diagnose vorzuweisen?
Richtig: im nicht medizinischen oder bürokratischen Alltagskontext. In der eigenen Familie, bei Freund_innen, bei Kolleg_innen, in den Bereichen des Lebens, die man selbst mit anderen Menschen gestaltet, ohne von medizinischer oder bürokratischer Ordnung eingeschränkt zu werden.
Diese Kontexte sind die letzten kleinen Räume für Freiheitspraxis, die man in unserer Gesellschaft noch hat und man sollte sie sich meiner Meinung nach unbedingt freihalten von gewaltvoller Ordnung und Gewalt.
In diesen Räumen muss Diagnosen nicht das gleiche Gewicht, die gleiche Bedeutung, zukommen wie im medizinischen oder bürokratischen Kontext. Es muss okay sein, Diagnosen zu benutzen, um sich der eigenen Diffusion anzunähern oder eigene Eigenschaften zu benennen oder zu verstehen und gleichzeitig muss man sich bewusst sein und anerkennen, dass eine Diagnose in diesem Kontext einfach nicht mehr leisten kann als das. Sie kann einfach nicht bedeuten, dass alle Freund_innen darauf reagieren wie Diagnostiker_innen oder Behandler_innen oder, dass Menschen, die ihre Diagnose ausschließlich im Behandlungskontext nutzen oder benutzt erleben, sich den Menschen gleich fühlen, die sie nur im freien, privaten Alltagskontext ge.brauchen.

Ich merke bei mir selbst, dass ich meine ASS Diagnose und ihre Bedeutung für mich im Alltagskontext besonders gut mit erwachsenen Autist_innen besprechen kann, die wie ich erst später im Leben diagnostiziert wurden. Nicht, weil ihre ASS meiner gleicht, sondern weil sich die Erfahrung der Konfrontation und zuweilen radikalen Umdeutung einiger Eigenschaften ähnelt. Es geht also nicht um die Diagnose an sich, erfordert aber die Erfahrung des spät diagnostiziert worden seins. Damit sagen wir nicht, dass andere Leute mit ASS nichts mit uns zu tun haben sollen und erst recht nicht, dass wir Selbstdiagnostik für Lifestyle-Seeking halten, weil nur Autist_in ist, wer vor dem fünften Geburtstag von zwei Psycholog_innen und drei Psychiater_innen diagnostiziert wurde – damit wollen wir aber auf jeden Fall sagen, dass wer dies vertritt, sich aus unserem Freiraum raushalten soll. Denn ja, sicher gibt es irgendwo irgendwen die_r das aus Gründen behauptet, aber hier bei uns, in unserem kleinen Raum für Freiheitspraxis und Leben um des Lebens willen, spielt das keine Rolle und soll auch nie eine spielen.
Das haben wir so entschieden, weil wir das hier so entscheiden können und niemand dabei zu Schaden kommt.
Ja, damit machen wir etwas an der Repräsentation von autistischen Menschen; ja, damit stellen wir uns nicht immer an die Front aller Versorgungskämpfe und ja, vermutlich kreieren wir damit einen ziemlich netten Lifestyle, um den uns andere beneiden. Aber ey – was ist kaputt in deinem Life, wenn du anderen Leuten neidest, dass es ihnen einfach ok geht, sie einfach eingebunden werden, sie einfach mit.teilen dürfen, wie es ihnen mit Dingen geht und was sie sich wie wünschen?

Sicher nicht, dass du eine offizielle Diagnose hast und sie (vielleicht) nicht.

because…

Es hat etwas damit zu tun Haltung zu wahren und sie unmerklich zu verlieren.
Dieses Nichtweinen, Nichtausruhen, Nichtstillhaltenlosrennen. Diese Implosion, über die ich hinwegsehe, als wäre sie nicht da, um doch auf Zehenspitzen drumherum zu tanzen.

Ich will das, ich kann das, ich mach das. Nicht obwohl, sondern weil.
”Because of fucking darum”, wie die andere neulich in den Waldboden spuckte.

Ich halte mein Leben, den bürokratischen Teil meines Lebens, jetzt den vierten Monat in meinen klapprigflatternden Händen und bin dabei irgendwas zwischen Pisas Turm und Jenga unter Kindergartenkindern.
Ich stehe für meine Fehler, Fehl- und Falschangaben gerade, unterzeichne mit einem Namen, der mich Würgen lässt. Ich gehe ans Telefon und rede, auch wenn ich falsch angesprochen werde.
Ich hab aufgehört vor Unrache zu heulen, hab mir das Atmen gegen das Zwerchfell angewöhnt. Ich bin so cool wie Espenlaub und smooth wie Apfelmus.
Und versage mit Pauken und Trompeten.

Wer hätte das gedacht.

Mir helfen Fremde* im Internet besser, als der zuständige Dienst meiner Stadt. Selfpedia– ich danke dir <3

Meine Haltung ist mir aufgefallen.
Vorhin, heute Nachmittag im Schaufenster gegenüber des Geldautomaten, der mir kein Geld ausspuckte.

Ich sehe geschlagen aus.
Nieder geschlagen.
Bucklig, schief und krumm.

Schonhaltung ist der Vermeidungstanz des Körpers.
Meine Körperteile winden sich um Schmerzpunkte herum, schlagen Haken und zurren sich gegenseitig fest. Damit keins, aus Versehen, herunterfällt.

Mir fällt schon was ein. Ich krieg das schon hin. Nicht trotzdem, sondern weil. Atmen. Kopf hoch. Weiter weiter, von stehenbleiben verändert sich nichts, Herzi. Zack Zack.

Mir ist meine Haltung aufgefallen, als ich am Herd stand und bemerkte, dass ich Hartzpanik esse.
Das ist Essen, das es eigentlich gar nicht recht aus der Packung auf den Herd in ein Geschirr in mich hineinschafft, sondern mit geschlossenen Augen und angehaltenem Atem reingedrückt wird, damit man satt ist, bevor alles weg ist.

Mir ist eingefallen, dass ich im ersten Hartzjahr genau so in meiner winzigen “Küche” stand.
Mein Rücken tat weh. Meine Beine. Meine Haut. Aus Gründen, die ich bis heute nicht kenne.

Aber meine Kundennummer. Meine Kundenidentifikationsnummer vom Jobcenter hatte mir ein Haltungskorsett angelegt.
Man nannte es mal ”Stütze”. Aus Gründen, so scheint mir.

Natürlich könnte man es auch Käfig nennen. Sagen, dass wer darin getreten und nieder_geschlagen wird, auch einfach nie die Haltung verlieren kann. Selbst wenn er wollte.

Morgen stelle ich meinen zweiten Eilantrag auf gesetzliche Betreuung.
Morgen rufe ich in der Praxis von einer Medizinerin* an, die sich mit Schmerzbehandlung auskennt.
Morgen wird mir schon was einfallen.

in 50 Tagen sehen wir das Meer
und dann können wir uns immer noch ein neues Darum überlegen