die Sichtbarkeit – #AutismAcceptanceMonth

Wenn man Menschen fragt, welche Superkraft sie gern hätten, sagen viele, dass sie gern unsichtbar wären.
Sie versprechen sich davon viel Teilhabe an Interaktionen in Situationen und Kontexten, von denen sie ausgeschlossen wären, könnten andere Menschen ihre Anwesenheit feststellen. Sie versprechen sich davon, andere Menschen authentisch zu erleben. Zu hören, was andere über sie sagen; zu erleben, wie andere handeln, wenn sie nicht von ihnen bzw. ihrer Präsenz beeinflusst werden.

In unserer Gesellschaft geht Sichtbarkeit nie mit der bloßen Feststellung dieser Sichtbarkeit einher. Niemand sieht etwas oder jemanden und lässt es ohne Bedeutung für sich selbst und den eigenen Kontext.
Was in unserer Gesellschaft sichtbar ist, wird von Systemen in Systeme geordnet. Und auch diese Ordnung wird wieder von Systemen in Systeme eingeordnet. Diese Ordnung ist von Bedeutung, weil niemand von uns mit Bedeutungslosigkeit umgehen kann. Selbst die Dinge, die völlig irrelevant, egal, schlicht hinzunehmen sind, müssen wir als irrelevant, egal, schlicht hinnehmbar einordnen, um sie irrelevant, egal, schlicht hinnehmen zu können. Niemand braucht sich einbilden, dass Bedeutungslosigkeit ihm_ihr nichts anhaben kann. Wir sind Gesellschaft, weil wir Bedeutung nicht nur produzieren, zuweisen, verändern können, sondern auch leben.

Viele autistische Menschen wissen, dass sie autistisch sind, weil sie von anderen Menschen gesehen wurden und die sichtbaren Unterschiede zu nicht-autistischen Menschen als Autismus bezeichnet werden. Denn so funktioniert Diagnostik nach DSM und ICD, den Diagnostikhandbüchern für Krankheiten aller Art. Sichtbar Abweichendes gilt als Symptom, aus Symptomen wird Krankheit abgeleitet.
Es gibt keine Symptome von Normalheit.
Das Normale sieht man nur mit dem Herzen gut.
Weil es keine Augen hat.
Und weil es keine Ordnung gibt, die auf das Vorhandensein sichtbarer Eigenschaften verzichtet.

Dass ich autistisch bin, sieht man nicht. Es sei denn, man weiß um die Bedeutung von Dingen in dieser Welt für mich persönlich.
Ich kann meine Sichtbarkeit für andere Menschen in vielen Bereichen steuern und das finde ich großartig. Ich erlebe das als eine erstrebenswerte Superkraft, an deren Perfektionierung ich gezielt arbeite. Obwohl ich weiß, dass es eine Superkraft ist, die mir nicht natürlich inneliegt und die ich hauptsächlich deshalb als erstrebenswert empfinde, weil sie mir zu mehr Teilhabe verhilft als mir die Gesellschaft ermöglicht, wenn sie mich sehen kann.

Möchte ich dennoch als autistischer Mensch gesehen werden? Ja. Natürlich.
Aber bitte lieber mit dem Herzen.

 

P. S. Die Superkraft, die ich gern hätte, ist nie müde zu werden.
Ich würde meinen Kram machen während alle schlafen und meine Freizeit und Sozialitäten erledigen, wenn alle wach sind.

 

 

Diagnosen, Kontext, Autismus-Lifestyle

In der ASS-Bubble wird schon wieder über „Lifestyleautisten“ geredet und darüber, dass auch Selbstdiagnosen valide seien. Es scheint die Faker-Diskussion zu sein, die wir bis heute auch in der DIS-Bubble immer wieder beobachten.
Wer ist echt, wer hat wirklich ASS – wie echt ist die Person, die über sich schreibt, sie hätte eine DIS aber keine Diagnose bliblablö
Als Person mit offiziellen Diagnosen ist es natürlich immer leicht, sich dazu so genervt und abwertend zu äußern, wie ich das hier tue. Ich hab die Diagnosen ja, ich muss ja nicht um Anerkennung meiner Probleme/Symptome kämpfen. Ich muss ja nie damit rechnen, dass jemand kommt und mich einen Fake oder eine_n Lifestyleautist_in nennt (und mich damit beleidigt? abwertet?)

LOL
als ob

Als ob es in diesen Diskussionen jemals wirklich um die Diagnosen geht.
Als ob es je wirklich bloß um die Anerkennung der Sorgen, Nöte, Probleme, Besonderheiten oder Individualitäten geht.

Wäre dem so, dann würde es diese Diskussion einmal geben und dann nie wieder, weil es ganz praktische Lösungen für diese Ansprüche gibt. Es geht aber nicht darum und es ist hochproblematisch dies zu negieren oder zu missachten.

Diagnosen sind Begriffe aus dem medizinischen Kontext und in diesem allein funktionieren sie so wie sie sollen.
Ärzt_innen müssen einander vermitteln können, was sie wann wie wo wahrgenommen haben und den Kolleg_innen mit aller den Umständen gebotenen Präzision kommunizieren, in welchen darüber liegendem Kontext sie diese Beobachtungen (am ehesten) einordnen.
Es geht also um zwei Dinge: die an einem Objekt wahrgenommenen Eigenschaften und dessen Verwaltung. Nicht mehr, nicht weniger. Es ist relevant, einen Beinbruch diagnostisch von einer Prellung zu unterscheiden, weil die Verwaltung, also der Umgang mit dem Befund jeweils ein anderer sein muss, um das definierte Hauptziel von Behandler_innen zu erreichen: Heilung und, wo diese nicht möglich ist, Palliation.
Die Diagnose „Beinbruch“ sagt nichts über das subjektive Empfinden dessen aus. Sie sagt nicht: „Tut mehr weh als eine Prellung“ und auch nicht „Birgt schlimmere Konsequenzen als Prellung, Verstauchung, Abschürfung…“ Sie sagt nicht einmal „Dr. XY hat auf dem Röntgenbild einen gebrochenen Knochen gesehen.“, sondern „Dr. XY hat das, was sie_r auf dem Röntgenbild gesehen hat, als Bruch eines Knochens interpretiert.“

Damit sind Diagnosen keine Fakten. Egal, ob sie zutreffend sind oder nicht. Egal, wer sie wann nach welcher Untersuchung/Diagnostik wie und warum formuliert hat, hat keine unumstößlichen Fakten oder Wahrheiten geschaffen, sondern eine Beobachtung zusammengefasst, die von vielen Faktoren beeinflusst wurde und auch nach der Diagnostik weiter beeinflusst wird.

Im Lebensalltag sind Diagnosen gewissermaßen Werkzeuge in Laienhänden. Manche benutzen sie genauso effizient und effektiv wie Mediziner_innen oder auch Forscher_innen und manche benutzen sie, um Probleme zu benennen oder auch zu lösen, die mit anderen Werkzeugen besser zu lösen und auch zu benennen sind. Diagnosen sind extrem präzise, Menschen hingegen extrem diffus. Das, was im medizinischen und auch therapeutischen Bereich mit Diagnosen gemacht wird, ist im Alltag nicht gleichermaßen umsetzbar, weil der gesamte Kontext ganz grundlegend anders funktioniert.
Die (westliche) Medizin ist einer extremen Ordnung unterworfen. Das zeigt sich am weißen Kittel und der Personalhierarchie im Krankenhaus genauso wie daran, dass jede Zelle, jeder körperliche wie seelische Vorgang eine eigene, extrem präzise Bezeichnung, Kategorie und Umgangsvorgabe hat. Jemand sagt jemandem ein Wort und ein Zahnrad greift in das andere, damit eine bestimmte Funktion erfüllt werden kann. Es geht immer um befundete Eigenschaften und ihre Verwaltung. Erkenntnis und Ordnung.
Der zivile Alltag hingegen enthält neben Erkenntnis und Ordnung auch noch die individuelle Bedeutung dessen, da hier der soziale Status miteinander verhandelt wird, der maßgeblich zum Erhalt von Macht ist.

Da Diagnosen im medizinischen und therapeutischen Kontext, der an sich bereits vielen Menschen Autorität und also Macht ver_ortet, so eine im wahrsten Sinne des Wortes bestimmende Funktion hat, erscheint es vielen Menschen logisch, diese Funktion könne genau so auch in den Alltagskontext übertragen werden. Die (vermeintliche) Eindeutigkeit von Diagnosen wird als der Diagnose zu eigen betrachtet – nicht dem medizinischen Kontext, die diese Eindeutigkeit erforderlich macht und entsprechend produziert.
Nun führen Diagnosen aber keinesfalls zu bedeutungslosen Wertungen und Einordnungen im Alltagsleben. Schon gar nicht in einem Alltagsleben, das von Gewalt in verschiedensten Formen definiert ist.

So kann es nicht verwundern, dass die gleichen Diagnosen in den unterschiedlichen sozialen Klassen, Schichten, Gruppen… unterschiedliche Bedeutungen zugeschrieben werden.
Wer prekär lebt und entsprechend kaum Zugang zu adäquater Versorgung/Therapie aber auch zu dem Wissen um die mit der Diagnose benannten Beobachtungen hat, bewertet eine Diagnose ganz anders als Menschen, die selbst Mediziner_innen sind oder Zugang zu Geldmitteln haben, die ihnen Zugänge verschaffen. Aber auch soziale Peergroups bewerten sowohl den Umstand, dass man eine Diagnose hat als auch verschiedene Diagnosen unterschiedlich. Vielleicht ist in einer Gruppe eine DIS zu haben ganz üblich und hat die Bedeutung eines Markers für Zugehörigkeit – in ebendieser Peergroup aber ist es vielleicht ein Ausschlussgrund daneben noch eine andere Diagnose zu haben oder ein anderes Symptomwirken als die meisten in der Gruppe zu haben.

So muss die Diskussion um „Lifestyleautist_innen“ und „DIS-Faker“ als etwas (für) wahr.genommen werden, das mit der Gruppenzugehörigkeit der Diskutanten zu tun hat, aber auch mit der Bedeutung von Diagnosen in diesen Kontexten.

Ich habe meine ersten DIS-Fake-Diskussionen als arme, alleinstehende Person Anfang 20 geführt. In Foren, die praktisch mein einziger Sozialkontakt neben denen zu Täter_innen, Psychotherapeut_innen und unsicher gebundenen Betreuer_innen waren. Ich musste meine DIS sehr eindeutig für diese Gruppe kommunizieren – diese Eindeutigkeit war erforderlich, denn menschliche Diffusion war für die ebenfalls komplex traumatisierten Menschen mit DIS in dieser Peergroup nicht auszuhalten. Ein Trigger, der immer, bei wirklich jedem einzelnen Post mit im Raum stand und von allen mit großem Kraftaufwand vermieden wurde. Jede Person, die diesen Code in, sagen wir, zwei, drei Posts nicht zu übernehmen vermochte, wurde mit einem (traumabedingten) Misstrauen beäugt und oft auch schon des Fakes bezichtigt. Und da man nichts beweisen kann, das man nicht ist, blieb dieses Forum auch immer sehr klein. Sehr exklusiv. Die Administratorin dieses Forums hatte irgendwann eine Hierarchie etabliert, die man, wenn es um andere Inhalte gegangen wäre, sehr leicht als faschistoid erkennen hätte können. Man durfte als „normale_r User_in“ gar nicht mehr anders ein.ordnen als in „Fake“ und „echt“ und selbst „richtig“ eingeordnet zu sein war enorm wichtig. So wichtig, dass man Klinikberichte und Überweisungszettel vorzeigen musste, um nicht gebannt zu werden.
Ich konnte mich dem erst entziehen als mir klar wurde, dass ich in dieser Gruppe für meine Heilung mit Ausschluss bestraft werden würde, denn dann stünde in meinen Zetteln nicht mehr DIS, sondern entweder etwas anderes oder auch gar nichts mehr. Und was sollte ich dann in diesem Forum? Ich war da nicht, um meine Diagnose zu zelebrieren.

Sogenannten „Lifestyleautist_innen“ wird genau das übrigens unterstellt:
Sie wollen „den Lifestyle“, aber ohne die Diagnose. Sie wollen behandelt und anerkannt werden als hätten sie eine, aber haben vielleicht gar keine. Sie wollen für Autist_innen reden, aber die Kämpfe von Autist_innen nicht kämpfen (z. B. den Kampf darum überhaupt gehört (und verstanden) zu werden).
Soweit die Vorwürfe, die ich bisher so wahrgenommen habe.
Für mich zeigen sich darin sehr viele interessante Annahmen. Allein schon die Idee mit einer Diagnose sei ein (erstrebenswerter?) Lifestyle verknüpft, den man wählen könne, weil er sich durch die Diagnose ergibt und nicht durch die Schwierigkeiten/Besonderheiten/Behinderungen/Notwendigkeit zur Kompensation der Dinge, die beobachtet und mit einer Diagnose mit.teilbar gemacht wurden.
Es zeigt sich aber auch hier die soziale Bedeutung der Diagnose. Es gibt Menschen für die eine ASS-Diagnose die gleiche Eindeutigkeit wie Fakten und also gewisse Wahrheiten hat. Und viele dieser Menschen verknüpfen diese Eindeutigkeit mit Autorität und damit der Macht Anspruch auf Vorrechte zu erheben; der Macht (über) andere Menschen zu be.stimmen; der Macht andere Menschen mit der gleichen absoluten Gewalt zu ordnen, wie es die Medizin zum Beispiel tut, um systematisch Wissen zu schaffen und mitzu.teilen.

An dieser Stelle ist wichtig zu verstehen, warum ich immer wieder auf die Autorität der Medizin zu sprechen komme.
Die Medizin und ihre Fachgebiete (zu denen ich hier die Psychologie hinzuzähle, obwohl sie üblicherweise anders kategorisiert wird) sind nicht und waren nie gewaltfrei, heile heile Segen und warme Worte zum Geleit, deshalb haben sie den Stellenwert, den sie heute haben. Ja, Medizin macht vieles gut, was vorher schlimm war, Mediziner_innen sind extrem gut ausgebildete Menschen mit enorm viel Wissen, von dem alle profitieren und die meisten Mediziner_innen setzen ihr ganzes Wissen und Können ein, um zu helfen und zu heilen.
Das löst sie jedoch nicht aus dem Kontext einer Ordnung, in der menschliche Diffusion missachtet, beschnitten, zuweilen sogar negiert werden muss, um zu funktionieren. Und auch nicht aus der Autorität, zu der Mediziner_innen gemacht werden und die manche von ihnen auch wollen/wünschen/einfordern/als natürliches Recht wahrnehmen.
Aber auch nicht aus dem Kontext des Alltagslebens, in dem die Medizin einen auch sozial ordnenden Platz hat.

Medizinisches Wissen gibt Sicherheit durch den Eindruck von Orientierung (durch ihre Ordnung). Menschen, die schwer verständliche medizinische Inhalte vermitteln können, Menschen, die als Erfahrungsexpert_innen sowohl die eigene Erlebenswelt mit einer Krankheit/Störung/diagnostizierbaren Varianz als auch dessen Verortung in der Medizin kennen und mit.teilen können, profitieren von der Rolle der Medizin im Alltagskontext. Sie werden von Geordneten zu Ordnenden. Vom Objekt zum Subjekt in einem Gebilde, das zu Tode erschrecken würde, hätte es nicht schon so viel Gutes für Menschen ermöglicht.

Wer Menschen Diagnosen abspricht oder zuweist, tut das praktisch nie aus Gründen der Verbindung oder Einung, sondern immer aus Notwendigkeiten heraus. Etwa, weil man Diagnosen mit Charaktereigenschaften oder Markern für soziale Zugehörigkeit verwechselt oder weil man die Macht der Autorität ge.braucht. Oder, weil eine Diagnose möglicherweise das einzige ist, das man mit anderen Menschen teilt (oder glaubt zu teilen) und sich (und den eigenen Lifestyle) darüber definiert. Das erscheint manchen Menschen vielleicht erbärmlich, weil eine Diagnose in der Regel sehr wenige Eigenschaften umfasst – aber im Fall einer ASS (und auch einer DIS und anderen „Störungen“) handelt es sich um Clusterdiagnosen, die sehr viel vom Er_Leben einer Person umfassen und benennen.

Problematisch in der Lifestyleautist_innen-Debatte ist für viele Leute der Alltagskontext, in dem sie passiert. In diesem als Betroffene_r (oder Angehörige_r die_r entitled genug ist, sich wie selbst betroffene Menschen zu äußern) aufzutreten und zu bestimmen, wer autistisch ist und wer nicht, negiert, dass Diagnostik eine soziale wie medizinische Ressource ist, die ungleich verteilt und ungleich zugestanden wird – aber auch ein Instrument der Ordnung und damit Gewalt ist.
Menschen, die wissen, dass sie autistisch sind, aber keine Diagnose darüber wollen existieren und die haben jedes Recht sich zu verweigern – und jede Unterstützung zu erhalten, die sie brauchen, um gut zu leben.
Ja, Formalitätendeutschland mit seiner Zettelgewaltwirtschaft konditioniert lehrt uns, dass wir ohne Autorität (ohne Experteninstrumente wie eine Diagnose zum Beispiel) keine Ansprüche erfüllt bekommen, das ist aber keine Aussage über die Legitimität von Ansprüchen an sich. Einigt man sich darauf, dass alle Menschen das Recht auf ein gutes Leben haben, kommt man nicht umhin festzustellen, dass bürokratische Strukturen allein nicht das Mittel sein können dieses Recht durchzusetzen. Schon, weil es auch hier um präzise Ordnung geht, die menschlicher Diffusion nicht entspricht, sie wohl aber verwaltet und also ordnet.

Dies gilt übrigens auch für Menschen, die sich selbst diagnostiziert haben und Menschen, die eine Diagnose erhalten haben, für die ihrer Ansicht nach nicht genug oder die falschen Aspekte ihres Leidens oder Seins einbezogen wurden.
Ja, man bekommt keine kassenfinanzierte Therapie ohne Diagnose, man bekommt aber auch keine Schokolade ohne zu bezahlen. Sich für oder gegen eine Diagnose zu entscheiden bedeutet also auch, sich für oder gegen eine Einbeziehung in Kontexte, die, ob krass oder nicht krass, schmerzhaft oder hilfreich für eine_n selbst, gewaltvoll sind, zu entscheiden.
Es hat derzeit, in diesen unseren gesellschaftlichen Verhältnissen, keinen Sinn sich ohne offizialisierte Diagnose hinzustellen und Umgänge mit sich zu fordern, die Behandlung, Unterstützung oder auch professionelle Pflege beinhalten, wenn man sie vom Staat oder der Krankenversicherung bezahlt bekommen muss. Eine von Expert_innen gestellte Diagnose ist in diesen Kontexten ein Marker mit Funktion – sagt aber wiederum nichts über die Menschen, die sie bekommen haben. Mit allen schlimmen wie vorteilhaften Konsequenzen.

Wo aber hat es Sinn Umgänge zu fordern, ohne eine solche Diagnose vorzuweisen?
Richtig: im nicht medizinischen oder bürokratischen Alltagskontext. In der eigenen Familie, bei Freund_innen, bei Kolleg_innen, in den Bereichen des Lebens, die man selbst mit anderen Menschen gestaltet, ohne von medizinischer oder bürokratischer Ordnung eingeschränkt zu werden.
Diese Kontexte sind die letzten kleinen Räume für Freiheitspraxis, die man in unserer Gesellschaft noch hat und man sollte sie sich meiner Meinung nach unbedingt freihalten von gewaltvoller Ordnung und Gewalt.
In diesen Räumen muss Diagnosen nicht das gleiche Gewicht, die gleiche Bedeutung, zukommen wie im medizinischen oder bürokratischen Kontext. Es muss okay sein, Diagnosen zu benutzen, um sich der eigenen Diffusion anzunähern oder eigene Eigenschaften zu benennen oder zu verstehen und gleichzeitig muss man sich bewusst sein und anerkennen, dass eine Diagnose in diesem Kontext einfach nicht mehr leisten kann als das. Sie kann einfach nicht bedeuten, dass alle Freund_innen darauf reagieren wie Diagnostiker_innen oder Behandler_innen oder, dass Menschen, die ihre Diagnose ausschließlich im Behandlungskontext nutzen oder benutzt erleben, sich den Menschen gleich fühlen, die sie nur im freien, privaten Alltagskontext ge.brauchen.

Ich merke bei mir selbst, dass ich meine ASS Diagnose und ihre Bedeutung für mich im Alltagskontext besonders gut mit erwachsenen Autist_innen besprechen kann, die wie ich erst später im Leben diagnostiziert wurden. Nicht, weil ihre ASS meiner gleicht, sondern weil sich die Erfahrung der Konfrontation und zuweilen radikalen Umdeutung einiger Eigenschaften ähnelt. Es geht also nicht um die Diagnose an sich, erfordert aber die Erfahrung des spät diagnostiziert worden seins. Damit sagen wir nicht, dass andere Leute mit ASS nichts mit uns zu tun haben sollen und erst recht nicht, dass wir Selbstdiagnostik für Lifestyle-Seeking halten, weil nur Autist_in ist, wer vor dem fünften Geburtstag von zwei Psycholog_innen und drei Psychiater_innen diagnostiziert wurde – damit wollen wir aber auf jeden Fall sagen, dass wer dies vertritt, sich aus unserem Freiraum raushalten soll. Denn ja, sicher gibt es irgendwo irgendwen die_r das aus Gründen behauptet, aber hier bei uns, in unserem kleinen Raum für Freiheitspraxis und Leben um des Lebens willen, spielt das keine Rolle und soll auch nie eine spielen.
Das haben wir so entschieden, weil wir das hier so entscheiden können und niemand dabei zu Schaden kommt.
Ja, damit machen wir etwas an der Repräsentation von autistischen Menschen; ja, damit stellen wir uns nicht immer an die Front aller Versorgungskämpfe und ja, vermutlich kreieren wir damit einen ziemlich netten Lifestyle, um den uns andere beneiden. Aber ey – was ist kaputt in deinem Life, wenn du anderen Leuten neidest, dass es ihnen einfach ok geht, sie einfach eingebunden werden, sie einfach mit.teilen dürfen, wie es ihnen mit Dingen geht und was sie sich wie wünschen?

Sicher nicht, dass du eine offizielle Diagnose hast und sie (vielleicht) nicht.

Ich wünsch mir auch was

608348_web_R_K_B_by_Petra Bork_pixelio.deGerade geht bei „Mama arbeitet“ die „Wünsch dir was“ Parade ab.

Das Leben ist ja nun kein Ponyhof und wenn man jeden Cent wie ein Kreisel zu drehen gezwungen ist, tut man das, was kostenlos ist, um so öfter: träumen und wünschen.
Eine meiner liebsten Ausruhspielchen sind „Was wäre wenn- Geschichten“. Entsprechend meiner Hartz4 Realität, kommt natürlich auch oft vor, was ich mit
1.000€
10.000€
100.000€
1.000.000€
und unbegrenzt viel Geld anstellen würde und was sich dann verändern würde.
Die letzten beiden Punkte sind selbst hinzugefügt und schreibe ich einfach auf, weil es mir gerade nicht so gut geht, es mir aber sicher während des Schreibens davon gut gehen wird.

Also, 1.000€
Damit würde ich alles, was mir meine Gemögten und Verbündeten ausgelegt haben, zurückzahlen. Das sind so verteilt auf verschiedene Leute (und das schon zum Teil einige Jahre lang) um die 500€.
Vom Rest würde ich mir mein Buchmanuskript ausdrucken lassen, damit ich es besser visualisieren kann. Da kommen etwa 150€ zusammen.
Dann würde ich noch etwas für die Phoenixreisen dieses Jahr zur Seite legen und den Rest von der Stromjahresendabrechnung fressen lassen.

10.000€
Die würde ich mir erst mal auszahlen lassen. Einfach für den Spaß am Schweißausbruch des Sparkassenmitarbeiters.
Dann würde ich den Tiefkühlschrank für NakNak*s Fleisch richtig ganz voll bestellen mit allen Menüs, die ich ihr gerne gönnen würde, aber nie kann, weil die fertigen Päckchen einfach teurer sind, als die, die ich immer bestelle. Da käme ich auf etwa 250€.
Außerdem würde ich ihr ein Geschirr kaufen, dass ihr auch richtig passt. Sie ist ja nun mal so ein Spargelchen: Zu groß (hoch) für Größe S und zu dünn für Größe M. Es würde eins aus Leder sein, das schön lange hält und nicht zum Himmel zu stinken beginnt, wenn sie mal damit in den See hopst.
Es wäre eine Sonderanfertigung und kostet bestimmt so um die 150€ (ich würde vermutlich nach dem günstigsten Angebot schauen, obwohl es nicht nötig ist- eigentlich blöd).
Dann würde ich mich erkundigen, was HauslehrerInnen so kosten. Vielleicht würde ich jemanden finden, der mich für die verbliebenen 9.600€ bis zum Abitur bringt? (In einer Welt, in der ich 10.000€ einfach mal so zur Verfügung hätte, würde so ein Unterricht natürlich auch anerkannt vom Schulamt).
Wenn das nicht ginge, würde ich die Geschichte mit der zweiten Fremdsprache über die VHS abkaspern und den Rest vermutlich verspenden, damit meine Sorgen über das plötzliche Ende des Geldes aufhören können, mich zu nerven.

100.000€
Ich würd umziehen. Mir ein Haus kaufen und ein zwei meiner Gemögten die Wahl lassen, ob sie in die Anliegerwohnungen da drin, ziehen wollen. So ein Haus hatte ich schon mal gesehen und es kostete gerade mal 70.000€. Vom Rest würde ich Solaranlagen und eine Einrichtung kaufen, die sehr lange hält. Dann wär auch schon alles weg.

1.000.000€
Die würd ich mir erst recht auszahlen lassen. Just for fun und um zu sehen, ob es sich, wenn ich wieder arm bin, lohnen könnte die Bank zu überfallen und die Forderung nach einer Million zu stellen.
Dann würde ich planvoller an die Ausgabe gehen. 100.000€ würde ich auf ein Sparbuch legen, um sowohl meine eigene Therapie, als auch die Therapie jener zu finanzieren, die mir am Herzen liegen. (2 Jahre kosten etwa 10.000€- ich weiß nicht, wie lange ich, oder die anderen Menschen brauchen, deshalb plane ich das so großzügig).
Dann würde ich der Initiative Phoenix Mittel für eine wissenschaftliche Mitarbeiterin stellen, denn ich hätte keine Zeit mehr, um die Umfrage auszuwerten. Ich weiß nicht genau was das kostet, als plane ich da auch mal 100.000€ ein.
Vom Rest würde ich das „Nachwachshaus“ realisieren, das sich gänzlich selbst versorgen würde, um so unabhängig wie möglich zu bleiben und ergo unkorrumpierbar von den Einflüssen, die die Menschen, die dort einen Platz finden sollen, erst zu Opfern hat werden lassen.
In meiner Phantasie kommen dann irgendwann Menschen, die nicht wie ich durch Zufall an eine Million gekommen sind, sondern diese Summe in der Portokasse haben, um es nachzumachen. Dann gäbe es irgendwann ganz viele dieser Häuser und die Veränderung der Welt kann ihren Lauf nehmen.

Unbegrenzt viel Geld
Ich glaube, ich würde dauernd welches verschenken, an Menschen, die es nötig haben.
Ich selbst, würde mir eine Bibliothek wie in „die Schöne und das Biest“ mit einem Katakombenkeller wie in „die Stadt der träumenden Bücher“ bauen (lassen). Vermutlich würde ich sie tatsächlich lieber selbst bauen wollen. Darin gäbe es dann alle Bücher meiner Amazon Wunschliste (75€ teuer- muhahaha was für ein Witz, mit soviel Geld im Nacken) und ich würde erst mal alles lesen, was mir zwischen die Finger kommt. Ich würde mir Essen von der Hausküche bringen lassen und wenn ich keine Lust mehr zu lesen habe, selbst schreiben. Wenn ich mich richtig gut fühle, dann würde ich aus der Bibliothek heraus zu den Menschen, die mit mir dort im Nachwachshaus wohnen, gehen und sie bei der Erkundung der Welt begleiten.

Vielleicht würde sich irgendwann eine Art Sattheit einstellen, die mich träge macht oder dazu verleitet mit dem Geld Dinge kaufen zu wollen, die man nicht kaufen kann. Dann würde ich versuchen, mich in eine Lage zu bringen, in der ich wieder weniger Geld zu Verfügung hätte und bemerke, was ich alles noch nicht kann und lernen will.
Dann will ich bestimmt noch mehr Sprachen, viele handwerkliche Dinge und wissenschaftliche Theorien lernen, so wie jetzt gerade. Ich würde es mir beibringen lassen und dann darüber schreiben.

Außerdem würde ich vermutlich mit all dem Wissen im Kopf einige Dinge außerhalb meines Notwendigkeitsbereiches verändern.
Wenn ich unbegrenzt viel Geld hätte, könnte ich zum Beispiel so viel verschenken, wie ich will und die Menschen würden nichts mehr tun, weil sie Geld verdienen müssen um frei zu sein und gut versorgt.
Vermutlich bräuchten wir dann eine grundsätzliche Neuordnung der Welt. Es würde ja trotzdem immer Dinge geben, die wir brauchen- und sei es das Klo, das wir alle benutzen.
Irgendjemand müsste es ja schließlich bauen und das Abwassersystem in Schuss halten.

Das wäre sicher eine spannende Phase und vielleicht käme am Ende dabei heraus, dass wir gar kein Geld benötigen, weil wir ja so oder so irgendwie zu den Dingen kämen, die wir für unser Überleben brauchen.
Vielleicht würde ich das Ende dieser Phase nicht erleben, aber ich habe so die Idee, dass ich bis dahin in aller Ruhe in meinem Schwebekobelsesselbett, mit NakNak* am Bauch liege und meinen Kopf satt mache, indem ich lese.
Vielleicht würde ich so sterben, sachte schaukelnd, friedlich einschlafend, nachdem ich in einem Buch die letzte Seite gelesen habe. Ohne Sorge um meine Gemögten, die Menschen die schlimm gelitten haben, bevor das Geld unnötig wurde, ohne Angst vor Kleinigkeiten, wie damals, als ich noch zur Therapie gehen musste.

Mein Testament würde beinhalten, dass das Geld unbegrenzt weiter zur Verfügung steht für alle, die Lust haben, wie Dagobert Duck im Geld zu schwimmen oder dem alten System hinterher trauern.

Ich mag die Vorstellung ohne Existenzangst zu leben.
In der Realität vergeht keiner meiner Tage, ohne diesen Schuss durch Mark und Bein, weil ich Angst um mein Leben habe. Da sind Dinge, die mich an früher erinnern und mir die gleiche Todesangst, wie damals fühlen lassen. Da ist Hartz4, das mich immer unfrei und abhängig hält und mich jederzeit ohne jeden Handlungsspielraum stehen lassen kann, um mich zu sättigen.
Da sind die Tage, an denen ich mich so unwürdig und nieder fühle, dass ich mir nicht einmal Kontakt mit meinen Gemögten erlauben kann und so wieder Angst vor der Einsamkeit habe.
Jetzt in der Armut, würde ich mir nur Dinge kaufen, die mich von der Angst befreien könnten.
In einer Welt in der Freiheit normal und gleich verteilt wäre, gäbe es vielleicht auch noch so etwas wie Furcht, doch es bräuchte keine richtigen Ängste mehr, denn alles könnte irgendwie umgesetzt werden und das „Schlimmste“ was passieren könnte, wäre noch nicht fertig mit irgendetwas zu sein, bevor man stirbt.