“Anxiety” (im klinischen Rahmen “Essstörung” genannt) wurde im August 1999 geboren. Ihr Debüt gab sie im September des selben Jahres, nachdem uns unsere Musiklehrerin zu verstehen gab, dass wir ihr zuviel waren.
Eins zur Erklärung: seit dieses Gehirn des Lesens mächtig war, fraß es sich durch Bücher und erkor Lehrer zu Göttern, welche vor der Tür zur geistigen Auswüchsigkeit mit der Hand am Knauf stehen.
Diese Lehrerin hatte uns ein Buch geliehen, in dem es um ein Mädchen ging, dass ein schreckliches Geheimnis für sich bewahren musste und sich befreite in dem es sich an einen Erwachsenen wand… ja ziemlich durchsichtig, was dieses Buch mit uns machen sollte, oder? Nun- das hat es auch gemacht- einen besseren Kanal hätte diese junge Referendarin gar nicht erwischen können. Jemand war schwer in sie verknallt, wir haben sie mehrere Male in der Woche im Musikunterricht gehabt und es war ja schon so, dass klar war: “Irgendwie ist das hier alles schlimm- vielleicht…?” [Alter –voll krass- wir haben nich mal gedacht, dass die uns helfen kann oder so- echt das war nur so: “Naja vielleicht is da ja was so.. irgendwie was nich so schlimm is und irgendwie immer so gruselig und neblig”]
Und dann waren wir und die Ahnung des schrecklichen Geheimnisses, die ihr im Vertrauen gesagt wurde, zuviel. Und plötzlich war alles zu viel. Die Ahnung, sie als Person und ihre Ablehnung und deshalb- ganz logisch [nicht wahr Anxiety?]- der Körper.
Dass man selbigen strikt ausmessen und einkategorisieren kann und ihn getrennt vom Inhalt behandeln kann, war ja schon klar. Und als dann im September noch zum ersten Mal für ein Ballettkostüm die Oberweite ausgemessen werden musste und wir allein deshalb ein Erwachsenenkostüm bekommen sollten, klinkte es komplett aus.
Flashlight! Vorhang auf die Königin der irrationalst möglichen Pseudokontrolle und Möchtegernregulation.
Konfektionsgröße 40 bei 1,63m- alle anderen Mädchen hatten 34-40 bei max 1,65m “Auch!” grunzt Anxiety- kleiner sein, weniger Umfang haben… weniger Raum einnehmen
Das Gewicht lag bei 67kg… die anderen schwankten alle so zwischen 50 (!) bis 70kg- Anxiety achtet nicht auf Proportionen, Altersunterschiede, Muskelmasse, Funktionsfähigkeit. Sie sieht nur die Zahl und grummelt “Auch” dem kleinstmöglichen entgegen.
Dann die Kalorien, der tägliche Verbrauch, der tägliche Umsatz, alles soll weniger sein- egal wie. Egal was das bedeutet.
„Anxiety“ ist keine Essstörung in dem Sinne, dass sie das Essen stört.
Es stört das normale Denken, den normalen Blick auf die Zahlen die einen umgeben. Und diese Störung schafft es einen so zu verwirren, dass man dem unterliegt. Es ist eine so unlogische Logik, die aber immer unwiderlegbar erscheint. Die Lehrerin sagt “Also das ist mir zuviel”- total logisch muss das an dem Körperumfang liegen- nicht etwa an dem ausgesprochenen Verdacht der monströs großen Gewalt, die für diese junge Frau einfach nicht fassbar war. Man hatte keine Freunde, keine Verbündeten- gibt ja gar keine andere Erklärung als Konfektionsgröße 40!
Man war seltsam und machte dauernd und überall Probleme und war ungenehm- völlig klar- das kann nur an einer allgemeinen Übermäßigkeit liegen.
Was aber an sich sogar noch fast das Schlimmste war (also jetzt aus heutiger Sicht): als das Gewicht runter ging und man wirklich total knochig (aber im Kinderkostüm- was hatte man sich gefreut!) über die Bühne schwebte, gab es plötzlich Mädchen die Kontakt suchten! Plötzlich kamen die Menschen auf einen zu! Aber da hatte man ja schon seine Pseudofreundin-und man könnte ja alles verlieren, wenn man sie im Stich ließe…
Nunja- die ganzen Hochs und Tiefs will ich jetzt nicht ausbreiten, aber unterm Strich hatte man sich mit “Anxiety” eine Logik angelacht, die jederzeit eine Pseudowelt basteln konnte. Pseudosicherheit, Pseudokontrolle,Pseudoruhe, Pseudokontakte… alles da und jederzeit reproduzierbar.
Auf Kosten des Körpers den man eh nicht mag, der eh nie macht was er soll und der eh allen gehört- nur nicht dem der drinnen steckt. Also… ph!
Wir haben es inzwischen geschafft diese Pseudowelt für uns zu integrieren und als Selbstregulationsmittel zu betrachten. Madame hat ihr Machtgebiet und das ist die Besprechung des Körpers. Ihre Kommentare dazu sind immer da und sie werden wohl nie wieder verschwinden. Egal ob Kleiderkauf, Körperpflege, Krankheit oder gar körperlich gelebte Liebe- zu allem weiß sie etwas zu sagen und wir lassen sie. Wir wissen, was passiert, wenn man sie füttert, also achten wir darauf, das nicht zu tun.
Wovon sich “Anxiety” ernährt? Na- von allem was uns zuviel sein lässt- das so als Grundlage. Die Beilage sind Bemerkungen über die Körperlichkeit- eh total klar- also egal ob mir einer sagt, ich sei dünn oder dick: “Anxiety” hockt in meinem Kopf rülpst herzlich dazu. Was sie auch gerne mal nimmt- so als Snack oder Nachtisch, sind klar dürre Models und Geschichten von anderen Magersüchtigen.
Als wir dieses Jahr erst durch ein Beziehungsende, dann durch das “sich selbst sehen” beim Bürgerdialog im Fernsehen, dann durch den Ex-Vermieter und dann zur Krönung noch obendrauf von der zu dem Zeitpunkt möglicherweise- Therapeutin, die erst soooo offen und nett zu uns war, mit Spitzen in Richtung eines allgemeinen “zu viel seins” konfroniert wurden, hatte “Anxiety” schon Ausmaße eines kleinen Wals und quetsche auch noch das letzte bisschen Ratio zusammen.
Nun ist es ein Kunststück bei einem Gewicht von über 100kg schnell viel abzunehmen und schlanker auszusehen. Hey- ich fands selber voll geil endlich nicht mehr bei den Übergrößen gucken zu müssen.
Und dann kam der letzte Schritt in die Freiheit und die Ära der BÄÄÄMs begann.
Schon trainiert von “Anxiety” (die schon wieder erschlankt war- es war ja keiner da, der sie fütterte) ging es nun richtig los. Die BÄÄÄMs sind Meister der Selbst- s- Zerstörung- sie haben ja auch beim Meister gelernt
[ha wie Doppeldeutig haha]
Man hatte den letzten Schritt in die Freiheit gemacht- böse schlecht verboten- da muss sofort etwas getan werden! BadaBÄÄÄM! Schritt für Schritt wuchsen die Verbote aus dem Boden.
[oh was jetzt- wohin jetzt? Was darf- was nicht- was macht man mal lieber in Vorarbeit, um sich zu gewöhnen- man weiß ja was kommt- nicht mehr essen oder nicht mehr schlafen- such aus- mach- lauf lauf lauf- friere- hab es unbequem- lieber keine Privilegien- man weiß ja nie- vielleicht kommt ja doch…- es gelten die Regeln von…]
und so geht es seit inzwischen 4 Monaten in meinem Kopf zu. Die Arena ist der Körper.
Die Logik ist extrem griffig- sie ist krasser, klarer, sehr viel absoluter, als die der im Vergleich tatsächlich weichgespülten “Anxiety”. Und: im Gegensatz zu “Anxiety”- die ein reines Gedankenkonstrukt ist- langen die BÄÄÄMs im Zweifelsfall einfach selbst zu. Komplett autark, ob ich es will oder nicht, denn sie sind ein Teil meiner Persönlichkeit und können, so wie ich den Körper verwenden.
Ich sitze jetzt hier und habe den Bauch voller Honig, weil ich weiß, dass er nicht erbrechbar ist. Zucker und Energie ist aber nicht erlaubt, weil ich gerade auch endlich (nach, wie ich inzwischen weiß 72 Stunden ohne richtigen Schlaf) mal ein bisschen hatte. Was der Preis für noch bitte etwas mehr Entspannung und Erholung sein wird? Die BÄÄÄMs allein haben den Katalog in sich.
Alles was wir wollen und machen kostet. Und in letzter Instanz kostet es eben Lebenskraft, Blut und Haut. Integrität. Selbstachtung.
Und warum?
Weil wir keinen Zugang zu dieser Logik kriegen.
Weil es keinen Kontakt gibt.
Weil wir Angst haben.
Was ja auch wieder schräg ist: Wir haben Angst vor Innens, die aus lauter Angst in der Arena stehen und um Vergebung für unsere Freiheit kämpfen.
Nein- ich habe keine 45 Kilogramm in 5einhalb Monaten verloren, weil ich magersüchtig bin.
Sondern weil ich eine Scheißangst habe.
Eine Scheißangst die verdammte Hacke so gefühlt berechtigt und real ist, dass, wie es scheint, kein Blatt dazwischen passt.
Aber wie wir ja wissen, sind Scheißängste oft nur genau das:
Angst
Anxiety
und die haben wir ja schon einmal an die Hand nehmen können…
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