25 und 26

Ich sollte nicht davon erzählen. Besonders jetzt nicht, wo wir bald ein Buch veröffentlichen und schon jetzt mehr Menschen deshalb auf diese Seite kommen.
Ich sollte sowas nicht erwähnen. Nicht hier.
Ich sollte an meinem Image arbeiten. Mir mal langsam eins machen, das über den Zufallsgenerator der Perzeption und dem Glücksspiel der Rezeption hinausgeht. Ein Bild von mir, von uns, das zeigbar ist. Sympathisch, nett, interessant, angenehm. So wie man Menschen einfach gerner hat.

Trotz aller Beschäftigung damit, verstehe ich nicht so richtig, wofür so etwas gut sein soll. Image. Gutes Image durch Bildpräsentation.
Das ist nicht die Realität. Das ist nicht echt, aber unheimlich anstrengend. Das ist wie die Erschöpfung nach 6 Stunden Sims 3 mit 8 Familienmitgliedern, davon 6 Kleinkinder und Babys: viel Zeit, viel Kraft – für nix außer den Moment.
Vielleicht ist der Moment sehr wichtig, okay. Aber danach kommen auch noch Momente. Und im Gegensatz zu den Pixeln, denen ich Namen gebe, um sie in eine Geschichte zu verwickeln, bin ich ja auch noch viele Jahre da. Auch nach dem Moment.

Ich sollte nicht erzählen, wie ich in der Schule einen Mitschüler angeschrien hab, dass er sich in sein dummes Knie ficken soll. Weil er ein überheblicher weißer linker Mackerdude ist, dessen verdrogtes Hirn seine Arroganz in unerträgliche Ausmaße verstärkt und, der einfach nur zum Nerven in die Schule kommt.
Ich sollte vielleicht mehr Fokus auf meinen Notenabsturz in dem Fach legen, seit dem Lehrerwechsel, dem absolut ungünstigen Stundenplan. Vielleicht anschaulicher machen, was für ein Alptraum sein absolut sinnbefreites und zuweilen menschenverachtendes Gelaber während des Unterrichts in_jedem_einzelnen_Fach_ für meine Kraftressourcen ist. Vielleicht darüber schreiben, wie es ist, um 5 Uhr morgens aufzustehen, um keine 3 Stunden später alles und jeden wie auf blanke Nervenenden auftreffend wahrzunehmen und an nichts anderes mehr denken zu können als an das, was die Leute jedes Mal sagen: Bleib ruhig – Entspann dich – Reg dich nicht auf – und früher reingeprügelt haben: HIER WIRD NICHT GEHEULT

Es ist eine beschissene Situation, denn Aggression wird so oft entschuldigt, dass auch das als Entschuldigung gelesen werden würde. Dabei gibt es daran nichts zu entschuldigen. Wir haben keine Schuld auf uns geladen. Wir haben ihm gesagt, was er hören wollte – haben auf seine Forderung, ihm ins Gesicht zu sagen, was wir denken, reagiert. Dass diese Wahrheit gewaltvoll und aggressiv ist, liegt in der Natur der Wahrheit. Wahrheit ist nicht zart flauschig und lieb. In der Regel ist Wahrheit brutal, schmerzhaft und abstoßend. Sicher hätten wir eine prosozialere Performance machen können, aber was ist das für ein Anspruch vor dem, was ich in dem Moment überhaupt noch leisten konnte. Mal abgesehen davon, wollen wir mit ihm möglichst überhaupt nicht sozial sein.

Ich war froh, nicht vor ihm und der ganzen Klasse geheult zu haben. War froh nicht schon 20 Minuten vorher vor lauter Frust- und Ohnmachtsgefühlen geheult zu haben. Wenigstens eine Weile dem folgen zu können, was mir früher wie heute als einziges regelmäßig reingedrückt wird: ruhig bleiben, als wär nichts von dem, was da in mir vorgeht real, schmerzhaft oder so unaushaltbar wie es am Ende nun einmal doch ist.

Wir sind kein Mensch, der bei jeder sozialen Belastung gleich anfängt Leute anzubrüllen oder überhaupt aggressiv auftritt. Wir sind auch nicht absolut unfähig, mit Stress und Belastung umzugehen. Oder mit Leuten, die wir nicht mögen. Oder mit Leuten wie ihm.
Es sind diese mehrfach beschissenen Ohnmachtslagen in Kombination mit Schmerzen, die keine Aussicht auf Lösung oder Ende haben.
Es sind Situationen, die in ihrer Struktur unserer Traumatisierung so extrem ähnlich sind.

Ein Stundenplan, der nicht zu ändern ist, Lehrer_innen, die hilflos und also handlungsunfähig sind und alle Verantwortung und Aushalteparolen der Welt auf uns abladen. Ein Begleitermensch, der seit Monaten nicht erreichbar ist. Absprachen und Hilfen, die mit dem Weggang der alten Klassenlehrerin nicht mehr eingehalten bzw. gegeben werden. Das Gefühl von allen reingelegt und verlassen worden zu sein, obwohl wir allen gesagt haben, dass wir das alleine nicht schaffen. Obwohl wir verdammt nochmal wirklich alles, darunter auch Dinge, die an unserem Würdegefühl gekratzt haben, gemacht haben, damit das alle begreifen. Damit genau das nicht passiert.

Und dann der Schmerz.
Für den sind wir allein verantwortlich. Wir müssten früher gehen, öfter nicht da sein, Situation nicht er_leben, um ihn so ertragen zu können, dass wir immer lieb, ruhig und artig sein können. Wir müssten weniger leben, um ihn nicht zu spüren. Oder ein weniger schmerzverursachendes Umfeld haben.
Man hat uns schon oft vorgeworfen uns zu oft zu verkriechen, im eigenen Kleinklein zu bleiben. Oft, weil man nicht so recht glauben kann, das Geräusche, Sprechen, Interagieren auch Schmerzen verursachen kann. Und meistens, weil man die Verbindung zwischen Schmerzen, die wir heute haben und dem Schmerzgedächtnis für Schmerzempfinden aus lebensbedrohlichen Gewalterfahrungen früher in unserem Leben, nicht so recht begreifen kann.

Ich erwähne den Schmerz, weil ich denke, dass das etwas ist, das die meisten Leute nachvollziehen können. Alle hatten mal krasse Zahn-Kopf-Glieder-Körperschmerzen in ihrem Leben. Alle wissen, wie man dann drauf ist. Alle wissen, wie viel zu viel in so einem Moment so ein “Psst!-Nu bleib ma ruhig”- Anspruch ist. Nicht, weil man ein böser Mensch ist oder irgendetwas in einem selbst als Person macht, dass man in diesem Zustand “böses” tut, sondern, weil das eine Möglichkeit von vielen ist. Unser Spektrum reicht von Dissoziation zu absolutem Hyperfokus zu psychosomatischen Phänomenen wie vorübergehender Blind- und/oder Taubheit zu Sprechunfähigkeit zu Anschreien bzw. Rausschreien, was ist. Die meisten dieser Reaktionen kriegen die Menschen um uns herum nicht einmal mit. Und das ist ja der ganze Witz.

Jemand, die_r leidet ohne Ende, Hoffnung und Kraft – aber in sich selbst implodiert und “unsichtbar dysfunktional” ist, wird nie für “böse” gehalten oder für unsozial oder was weiß ich. Solche Leute werden für fähig gehalten mit Stress umzugehen. Ihre Anwesenheit gilt als angenehm, weil nicht störend, da auf Störung hinweisend.
Wer davon abweicht, ist der letzte Arsch, nicht ganz dicht, Täter_in, Aggressor_in, störend und die Person, der man mit aller Macht sagen muss, dass sie doch bitte ruhig sein soll. Unabhängig davon wie ruhig sich die Person sonst verhält. Die Ruhe zu der eine Person fähig ist, wird immer wieder unsichtbar vor ihrer Lautstärke.

Ich frag mich, ob das nicht auch so eine Form der Imagemachung ist. So ganz alltäglich.
Du lernst einmal jemanden kennen und hast vielleicht insgesamt 5 Tage mit der Person verbracht, aber wenn sie dann in den letzten gemeinsamen 2 Stunden etwas macht, was anders ist, dann behälst du sie als so anders in Erinnerung. Dein Bild von ihr verändert sich dahingehend und das wars dann. Nie wieder wirst du die Person so sehen wie vorher. Viel mehr wirst du dein früheres Bild von der Person als Illusion oder Lüge abtun, anstatt dich der Realität zu stellen, in der Menschen einfach mehr sind als das Bild, das du dir von ihnen gemacht hast. Und vielleicht sogar weiter trägst., wenn du so ein Mensch bist, der anderen Leuten keine eigenen Bilder erlaubt oder erlauben oder zumuten will. Als ginge dich das irgendetwas an.

Mein Leben hat diese Realität.
Das Zerfallen und ganz klassische Opferding voller Leiden und Not und das Explodieren, das so oft Täter_innen zugeordnet wird, obwohl es ein ganz genauso reales Opferding ist. In den Diagnosekriterien der PTBS wird das unter “Reizbarkeit” verwurstet. Es gehört dazu. Ist eine Dimension wie die Dissoziation, der heutige Schmerz als Trigger für früheren Schmerz und so viel mehr.

Ich  weiß, ich sollte hier von gar nicht schreiben. Denn Mehrdimensionalität, Komplexität ist schwer. Schwerer als ein Abziehbild in 2D.
Aber mein, unser Leben ist schwer. Ist komplex.
Weil es real ist. Weil wir real sind.