die Entscheidung für das (eigene) Leben

Jemand hat mich gefragt, ob ich die Entscheidung für das Leben, das am Leben sein wollen, wichtig finde. Formuliert ist es als ein Satz, gefragt wird darin nach zwei Dingen. Das ist meine Antwort:

Ich war im Krankenhaus aufgewacht und wusste nicht, was passiert war. Doch überrascht hat es mich nicht mehr. Verängstigt. Besorgt. Erschreckt. Ich war Anfang 20 und das war der 5. oder 6. Suizidversuch, der so unerwartet endete, wie er geschah. Ich betrachtete die Infusionen, fühlte mich vergewaltigt, nachdem ich bemerkt hatte, dass ein Katheter in meiner Blase lag; dachte die gleichen Dinge wie jedes Mal: Ja, danke, dass ich das jetzt erleben darf.
Eine Ärztin kam, war nett und hilflos. Ich sagte meiner damaligen Therapeutin Bescheid, die war verständnisvoll und hilflos. Meine damalige Freundin war froh und hilflos. Meine Betreuerin holte mich ab und blieb un.be.greifbar für mich.

Ich war damals vor allem müde. Kaputt. (Le)Er(ge)schöpft. Eingeklemmt zwischen dem Versuch mich zu betäuben und gleichzeitig zu machen, was ich als das „nach dem Ausstieg“ verstanden hatte. Irgendwas mit krasser Freiheit und Selbstbestimmung und jetzt volle Power ins Leben bliblablö.
Die Hilflosigkeit der Menschen in meinem Leben machte mich wütend. Der Umstand, dass sie auf irgendetwas Äußeres zu warten schienen – irgendeine Erlaubnis, irgendeine Idee oder Lösung, die vom Himmel fallen sollte, jedoch nie fiel – und mich so lange zappeln, hängen, ließen. Ich verstand einfach nicht, warum sie mich immer wieder verlassen. Warum gehen sie weg von mir – warum gibt es in unserem Kontakt so etwas wie Feierabend, Therapiestundeneinheiten, einen Alltag, in dem ich nicht dabei sein darf? Warum lassen sie es zu, dass meine Woche aus 165 Stunden Not und 3 Stunden Kontakt besteht, in dem nichts gegen die Not getan wird? Werden kann? Soll? Muss?

Meine Suizidalität, dachte ich, sei daran schuld, dass sie alle immer wieder weggehen. Dass ich nirgendwo bleiben darf, wo ich sein will, sondern immer wieder hingeschickt werde, wo ich nicht sein will. Zum Beispiel die Psychiatrie, die Notaufnahme, das Gespräch mit irgendeiner Psychologin beim Krisendienst, die weder weiß, was eine DIS ist, noch die Kapazitäten hätte mich richtig zu behandeln, wenn sie es wüsste.
Also entschied ich mich dagegen. Ab sofort würde ich nicht mehr suizidal sein. Ich würde leben und das durchziehen. Ich würde mir eine Beschäftigung suchen, das waren dann meine Tiere, die Pflegestelle, die Therapie, die Betreuung, meine Freundin. Ich selbst spielte keine Rolle mehr darin. Ich hatte mich mit der Entscheidung suizidiert, und zwar auf die Art, die von außen mit Verbindung, Kontakt, allgemeinem Wohlwollen belohnt wird.
Und dann kam NakNak*.
Die mich gebraucht hat. Die mich gewollt hat. Und zwar ganz. Nicht nur irgendwie ein bisschen für kurz und andere Leute können sich eh besser um sie kümmern als ich, sondern ganz und gar. Für immer.

Ich entschied mich für sie und ihr Leben und damit auch für meins. Ich wollte, dass sie es gut hat und darüber lernte ich, was nötig ist, damit ich es gut habe. Ich lernte mit ihr in Kontakt zu gehen, mit ihr zu kommunizieren, auf ihre Gefühle zu achten und ihre Bedürfnisse zu erfüllen – und warum es mir so schwerfiel, das Gleiche bei mir zu schaffen.

Erst in der Auseinandersetzung mit Gewalt und Macht habe ich verstanden, wie radikal meine Entscheidung für mein Weiterleben war. Und wie sehr ich mich irrte als ich dachte, ich könne mich für das Leben entscheiden. Denn so funktioniert das Leben nicht.
Das Leben selbst ist keine Entscheidung. Leben ist. Leben ist Existenz. Leben ist Leben ist Dasein ist Präsenz ist Gegenwart. Hier, Heute, Jetzt ist Leben. Ob ich da bin oder nicht, ändert daran nichts. Leben ist immer, ich bin nur kurz. Sich für das Leben zu entscheiden, ist also nur eine Entscheidung für die Wahrnehmung der Gegenwart in aller Gleichzeitigkeit. Etwas, wozu wir komplex traumatisierten Menschen dauernd aufgefordert werden, um zu begreifen, dass wir gerade nicht sterben oder in Gefahr sind zu sterben.
Mir hat in all den Jahren nie eine Therapeutin mal gesagt, dass man in dem Moment das Leben auch mal in seiner Gänze zu erfassen versuchen könnte. Gegenwart wird oft extrem klein gedacht, weil wir Menschen so einen extrem kleinen Einflussbereich haben und uns nicht so gern damit konfrontieren wollen. Und naja, wer gerade aus einem Traumawiedererleben orientiert werden soll, di_er muss vielleicht wirklich auch nicht damit konfrontiert werden, dass das so ist. Aber mir hat erst das wirklich geholfen. Der Gedanke, dass ich selbst Leben bin, weil ich lebe und dass mein Er.leben etwas ist, das neben dem Er.leben ganz vieler anderer Menschen, Tiere, Pflanzen passiert. Gleichzeitig. Jetzt. Manchmal miteinander, manchmal getrennt voneinander.

Für nichts und niemanden außerhalb von mir ist wichtig, dass ich weiterlebe. Das Leben braucht mich nicht, um zu sein. Die Gesellschaft kann auf Menschen wie mich auch gut verzichten. Alles geht weiter, wenn ich nicht bin. Das Leben ist und ist und ist und wird immer sein. Das sagt aber nichts über mein Erleben des Zeitraumes, in dem es mich gibt. Oder darüber, was ich darin darf oder kann oder will. Wenn ich Gutes erleben will, dann kann ich Entscheidungen dafür treffen und mein Handeln danach ausrichten. Und überwiegend werde ich dann auch Gutes erleben. Nicht immer. Nicht immer sofort. Klar, wir Menschen sind einfach begrenzt und wir machen es uns mitunter unfassbar schwer die grandiose Schönheit, die Gutheit, die so umfassende Allesgleichzeitigkeit des Lebens zu fühlen und zu verkörpern.
Aber wenn ich mich nicht dafür entscheide, was ich erleben will, dann brauche ich mich auch nicht für mein am leben sein zu entscheiden. Dann ist es einfach nur anstrengender mürbender Kampf gegen meine eigene Existenz und damit ein unaushaltbarer Widerspruch zu dem Umstand, dass ich geboren wurde. Das ist auch Leben. Aber keins das ich er.leben wollte. Nicht mehr.

Also ja. Ich halte es für wichtig. Es war der wichtigste Entscheidungsprozess meines Lebens und ohne ihn wäre ich nicht da, wo ich jetzt bin.

Perfektionismus

Jemanden, die_r Fehler und Lücken schnell sieht und sie benennt, wird oft als perfektionistisch und kontrollierend gerahmt.
Perfektionismus gilt als etwas, mit dem man Kontrolle ausübt oder herstellen möchte. Über sich oder über alles und alle im direkten Umfeld. Oft schwingen dabei Ideen mit, in denen es um das Selbstbild der perfektionistischen Menschen geht, manchmal aber auch Ideen darum, dass (komplex) traumatisierte Menschen mit ihrem Perfektionismus die Konfrontation mit dem Bewusstsein um die Ohnmacht und den globalen Kontrollverlust während traumatischer Erfahrungen vermeiden.

Perfektionismus kann aber auch ein Werkzeug sein, die Menge und Art zwischenmenschlicher Interaktion zu kontrollieren, das habe ich vor Kurzem an mir reflektiert. Die meisten Menschen stecken sehr viel Interaktion und Kommunikation über Fehler, Mängel, Imperfektion. Für Sieger_innen gibt es 5 Minuten Angeguckt werden auf einem Podest, für Verlierer_innen eine unabsehbar lange Zeit, in der das Versagen besprochen und bearbeitet wird. Beides ist mir unangenehm, denn beides bedeutet Druck. Beides bedeutet eine unkontrollierbare Aufmerksamkeit auf mich, die_r sich selber in einem ständigen Kampf um Kontrolle über die eigene Körper_Sprache und das eigene Selbst befindet.
Mache ich etwas einfach perfekt, dann ist eindeutig, wann diese Aufmerksamkeit endet und dass sie mit hoher Wahrscheinlichkeit nett gemeint ist (also keine Lebensgefahr bedeutet, obwohl mein traumatisierter Körper mir das vielleicht so rückmeldet).
Unter neurotypischen Menschen kann man nie nichts machen. Immer immer immer bedeutet irgendwas irgendwas und immer werden Annahmen formuliert, die eine Absicht implizieren. Etwa: „Du willst immer die_r Beste sein, um jemand besseres zu sein.“ oder „Du willst nur positive Aufmerksamkeit, damit niemand deine negativen Seiten bemerkt.“ oder „Du musst dich perfekt fühlen, um deine Annahme alle anderen seien weniger wichtig/richtig/gut, als du zu bestätigen.“
So klar eingerahmte Absichten wie die, die ich_wir tatsächlich verfolgen, werden mir_uns oft nicht geglaubt. Unter anderem, weil man Absichten an sich nicht wahrnimmt (zum Beispiel durch Verhaltens_Beobachtung), sondern die wahrgenommenen Reize mit der eigenen neurotypischen Lebenserfahrung, sozialen Werten und ihren Maßstäben und daraus resultierenden Erwartungen vermischt. So wird aus „Hannah rückt ein Bild gerade“ ein „Hannah kontrolliert ihre Umgebung, indem sie bestimmt wie ein Bild an der Wand zu hängen hat.“ oder eben aus „Hannah will die volle Punktzahl erreichen“ ein „Hannah will mal wieder die Geilste von allen sein.“

Perfektionismus wird häufig negativ gerahmt. Viele Menschen halten perfektionistische Menschen für dumm, weil diese etwas versuchen, was sie für unmöglich halten, weil es extrem anstrengend ist und es die Idee gibt, man hätte mehr Energie für „die wirklich wichtigen Dinge“ (wobei mir nach wie vor schleierhaft ist, was das konkret für Dinge sein sollen), würde man nicht immer in allem perfekt sein wollen. Dass es bei perfektionistischem Verhalten vor allem darum gehen könnte, den Kontakt zu Menschen zu reduzieren, die sich weder für den individuellen Begriff von Perfektion interessieren noch gleichermaßen wertschätzen (und also gar nicht auf die Idee kommen, wie sehr sich die Anstrengung dann eben doch lohnt) wird in aller Regel ausgeblendet.

Auch, dass „unter Perfektionismus zu leiden“ an sich oft gar nicht der Punkt ist, wenn perfektionistische Menschen leiden.
Perfektion macht einsam, weil sie überwiegend als Leistung(sergebnis) und weniger als Momentum wertgeschätzt wird. Ich für mich glaube, dass es kein Gefühl gibt, dass mir mehr Sicherheitsgefühle, mehr Ruhe, Gelassenheit und Entspannung vermittelt als das Wissen darum, dass etwas perfekt ist, einfach, weil ich weiß, dass ich in dem Moment absolut für mich und mit mir bin und sein darf – und niemandes Erwartung enttäusche oder eine andere Gefahr übersehe, der ich dann schutzlos ausgeliefert bin.
Wenn ich früher darunter gelitten habe, etwas nicht perfekt zu schaffen, dann habe ich darunter gelitten, dass ich eine Aufgabe, eine Herausforderung durchhalten muss, obwohl am Ende dieses Moment der Ruhe und „MitMir-Samkeit“ ausbleiben würde und sich vor mir ein unüberblickbarer Zeitraum von Sprechen und interagieren müssen vor mir ausbreitet. Von dem ich weiß, dass ich ihm nicht gewachsen bin, dass ich ihn nicht durchqueren kann, ohne mich selber zu verlieren und der in mir den Wunsch zu sterben aufkommen lassen wird, um mich entziehen zu können – und mit all dem allein, ungesehen, unverstanden, ohne jede Hilfe oder Rettung zu sein.
Mir in solchen Momenten zu sagen, dass man nicht in allem perfekt sein kann, war niederschmetternd für mich, denn das bedeutete ja, dass ich mich damit würde abfinden müssen, dass ich in meinem Leben überwiegend leiden muss, weil das eben so ist. Weil es anders ja gar nicht geht.

Zusammen mit dem, was mir_uns über die Gründe für die Gewalt an uns gesagt wurde, war das unfassbar schlimm.

 

surreal

IMG_20140107_090507 Langsam kroch das Licht ins Zimmer. Schnitzte Umrisse schärfer, nuancierte Farben, verkündete den neuen Tag.
Ich hätte mir gewünscht, dass jemand bei mir ist.

War das echt? Dieses Gestern?
Wann spürte ich, dass es ein Kampf auf existenzieller Ebene wurde und diesen Kampf, mit den üblichen Empfindungen von Endlosigkeit inmitten der Krise, abgelöst hatte?

Ich hatte ein Zugticket gekauft.
Fühlte mich selbstsicher und stark, weil ich es geschafft hatte, eine Fahrkarte zu kaufen, die mich nicht “nach Hause” brächte. Weil ich mit einem Bahnmitarbeiter sprechen konnte. Weil ich sagen konnte, bezahlen konnte, machen konnte, was ich wollte.
Ich überlegte im Rausgehen, wo die kleine gelbe Eule hängen könnte. Wann ich die Ohrringeulen wohl tragen könnte.

Und dann trat ich wie Hans- guck- in- die- Luft in ein schwarzes Wurmloch und strudelte in der Art Angst, die mit Schweißflecken und Zittern einhergeht, zurück in die Innenstadt. Konnte nicht abrufen, wo ich war. Schickte meine SOS Signale durchs Handy. Ließ das Batsignal über den Himmel streifen und heulte in vielstimmigen Sirenen in den Äther.

Waren das Minuten oder Stunden? In welchem Intervall zerfaserfloss ich dort zwischen Spiegelwand und Juwelier? Wie lange kann ein Mensch in der Fußgängerzone still herumstehen, bis er auffällt?

“Sie hat gesagt, sie hat artig da im Wartezimmer gewartet und niemanden gestört. Hat sie sich da reingeschlichen oder wie war das?”. Es war die laute Gemögte. Die starke mutige, missachtende, die eigentlich irgendwie doch gar nicht mehr so richtig gemögt ist. Aber irgendwie doch. Oder nicht? Oder? Und wieso fragt sie mich, was ein anderes Innen wie gemacht hat, wenn doch sie die Quelle ist, die mir etwas sagen muss?
Es ist surreal.
Der arme Mensch im Wort „Therapeutin“.

Alles, was wir an dem Abend taten, war surreal.
Schmerzen, Muskelkrämpfe, beißender Dursthunger, Putz- und Spülmittel, Katzen, die ihre Köpfe schnurrend in meine Hand hineindrückten, NakNak* die ängstlich und verwirrt an meiner Seite war, eine wabbelige Körpergrenze und der dringdrängend notnötigende Zug zum Fenster. Später zu den Messern im Abwaschwasser.

Sie versteht die Bezeichnung “Gemögte” nicht.
Dabei war sie doch der Grund, weshalb wir nicht mehr von “FreundInnenschaften” sprechen.
Sie findet die Bezeichnung blöd.
Meine echten Gemögten mögen es.

Sie drängte zu trinken und zu essen.
Und ich war dankbar um diesen Druck von außen. Ich hatte schon lange weder gegessen noch getrunken.
”2 Tage sind schon gefährlich!”, hatte sie geeindringlicht und verständnislos den Kopf geschüttelt.

Was hätte ich ihr mehr sagen können als, dass ich das weiß? Es ging eben nicht. So einfach.
Mitternacht war es dann, als sie mich dann zu Hause absetzte.
Nicht einmal fragte, wie es mir inzwischen ginge.
Ob der Zug zum Fenster noch da sei.
Früher hätte sie gefragt und keine Antwort gelten lassen. So oder so, hätte ich bei ihr schlafen müssen.
Früher.
Wann ist das Früher zu Ende gewesen?

Mir tut jedes Wort, jeder Gedanke weh.
Trotzdem muss ich schreiben.
Muss ich sortieren.

“Ob das eine Art selbstverletzendes Verhalten ist?”, klirrte ein Gedanke auf den Boden und scheppert metallisch lachend von links nach rechts.

existent

“Ich bin so müde”

– “Ich weiß mein Herz.”

“Schaffen wir das?”

– “Ich weiß es nicht.”

“Aber wir versuchen, ja?”

– “Ja mein Herz. Wir versuchen.”

 

Ja, wir versuchen unser Leben zu retten.
Nennen wir es kämpfen ist es gelogen, denn aktiv sind wir nicht.
Wir sind.
Wir sind existent.
Immer noch.
Einfach so.

Mehr ist Überleben einfach nicht.

Es hat keine Dramatik.
Keine Massen an Blut. Keine Schreie. Keine Tränen.

Es ist ein Muskel der rhythmisch zuckt.SONY DSC
Biostrom der durch Nerven flitzt.

Einfach so.
Existenz geht so einfach.

Leben muss man schaffen.
Leben muss man versuchen.