ein Nachmittag mit Erkenntnis

“Jetzt hat sich mein Auge wohl ganz verabschiedet”. Ich denke den Verlust zu einem Klumpen Erkenntniskalk und bröckle ihn mir auf den Schreibtisch.
“Wie gut, dass es ein Projekt ist, das nicht perfekt sein muss und ein bisschen … therapeutisch wert -vollbetankt… auch nicht perfekt sein soll.”.

Trotzdem.
Das Kind zum Auge klebt mir wie eine Fliegenfalle hinter dem Gemüt und schmaucht seinen Unbehagensgnatsch zu einer Aura um mich herum.
Es stresst mich, mich nicht auf meine Sinne verlassen zu können. Es stresst mich, so viele fast lauter “DAS DA” herausbrüllende Kinderinnens auf dem Arm zu haben und gleichzeitig meine Sachen zu regeln.
Ich bin bei meiner Kommentiererei nach innen geblieben, obwohl ich merke, dass ich vor allem mich damit beruhige und nur ab und an etwas davon da ankommt, wo ich es haben will.

Heute Mittag wurde ich, beim Überqueren einer Straße, fast angefahren. Ich hatte nicht gemerkt, dass sich mein Hören zu einem Rauschen verändert hatte. Zusätzlich zum Nichtsmehrsehen auf dem linken Auge.
Immerhin hatte mir der Schreck das Bewusstsein für die Unvollständigkeit meiner Sinneseindrücke ermöglicht.

“Ich glaub, ich hab sie nicht mehr alle”, tippte ich in eine SMS an meine Gemögte.
Sinnesausfälle sind für mich worst case Symptome. Das ist mehr als “Oh ich habe ein bisschen Stress- mal auf den Schlaf, die Ernährung, die Bewegung, die Versorgung des verletzten Innereiengekröses fokussieren”.
Es gehört zu genau der Art apokalyptischer Reiter, wie das Kinderinnen mit dem Auge. Auf ihren Fahnen steht nicht: “Bitte eine Imaginationsübung zur Rettung der inneren Landschaft”, sondern: “So, ich mach das jetzt hier. Ich bin das Notstandsgesetz und ich tue, was ich will. (because of fucking darum)”

Sie forderte mich auf zu fühlen, wo “sie” denn jetzt hinfließen. Ob ich das spüre. Ob ich mich an unsere gemeinsame These erinnere, nach der jedes abgetrennte Wahrnehmen (dissoziierte Inhalte allgemein) als etwas irgendwo neu oder fremd wieder auftaucht.
Was ich spürte, waren knallharte Muskeln, galoppierender Puls und eine Art Machtbewusstsein mit Namen irgendwie genau darunter.
”Mit so einem Selbst- Bewusstsein würde ich auch aufs Hören und doppelgesichertes Sehen verzichten können.”, dachte ich.

Meine Gemögte fragte, was ich noch erledigen müsste und später, ob sich für mich etwas verändert, wenn ich mir das Vorhaben “zum Gericht gehen” nochmal ganz genau in allen nervigen Kontexten und Einzelheiten vorsage.
Ich hatte die schon gar nicht mehr im Kopf. Also noch eine Stufe weiter zurück. Kontext sammeln.

Gerade frisch dem Tod von der Motorhaube gehopst, taub und halbblind, fängt Frau* Rosenblatt erst mal an sich zu überlegen, warum sie eigentlich gerade tut, was sie tut und versucht dabei nur halb so dämlich auszusehen, wie sie sich fühlt. Klassiker since ever.
Es hat aber geholfen. Im Laufen habe ich mir selbst alles nochmal erzählt, mir die Berechtigung für mein eigenes Handeln versichert und nebenbei noch etwas von diesen Inhalten unter meinen Puls geschickt.

Ich konnte die Beamtin im Gericht gut verstehen, die mich fragte, zu wem genau ich denn wollen würde und mir damit aus Versehen fast das Hasenherz hat explodieren lassen.
“Wenn ich auf jemanden wie mich aufpassen müsste, würde ich wohl auch drauf achten meinen Puls nie zu weit absinken, die Muskeln nie ganz entspannt zu lassen…”
Ach Erkenntnis- why so schmerzhaft immer wieder?!

Nur das mit dem Auge klappt so nicht.
Warum weiß ich noch nicht.

Wie gut, dass mein Projekt nicht perfekt sein muss. Wie gut, dass ich dafür auch ein bisschen halbblind sein kann.

 

(und wie- ein bisschen- gut, dass da jemand oder etwas in mir so viel weniger Sicherheiten als ich braucht, um im Fall des Falls auch agieren zu können- das ist so krass wie ein persönliches Hulkbaby)

Dekonstruktion am dissoziierten Selbst? für mich problematisch

Vielleicht hat es etwas damit zu tun, dass ich eine ganze Portion Dekonstruktion, Abgrenzung und Wut aus Gründen wahr- und mitgenommen habe.
Vielleicht ist mein Anspruch zu hoch, meine Forderung falsch oder ach- vielleicht gibt es eine Art “Fuck off”, das einfach über Dekonstruktion, Findung und Wahrung des eigenen Standpunktes hinausgeht.

Ich weiß gar nicht- bewege ich mich im Alltag in einer queeren Szene? in queeren Kontexten? Offenbar nicht.
Bin ich queer? Keine Ahnung. Aber ich mag queer als Label für mich. Neben anderen.

”Bin ich?”, ist meine Frage. Jeden Tag. Mehrfach. Und absolut ohne Ironie oder philosophische Intension.

Vielleicht war es ein Overload für mich, mich gleich mehrere Tage in eine soziale Umgebung zu bringen, in der vieles? alles? über Awareness (Bewusstsein) und Konsens laufen möchte.
Ich habe gemerkt, dass ich den Wunsch nach kollektivem Bewusstsein mit einer fremden und doch total vertrauten Sprachlosigkeit beantworte. Ich wurde reaktiv, habe öfter als nötig die Luft angehalten, hatte ständig Angst jemanden zu verletzen oder Gewalt unbemerkt zu perpetuieren und am Ende gab es diese Angst die soziale Luft zu berühren.
Natürlich habe ich weiter gesozialt – dafür war ich ja im Sommercamp und immer war es am Ende gut und bereichernd.

Aber die Angst war da und arbeitete in meinem Angstgehirn.

Leben triggert und so auch diese Art zu leben in diesem kleinen Zeitraum.
Ich habe mein Innenleben nicht mehr gefühlt und aufgefallen ist mir das erst, als mich jemand das über Twitter fragte, der auch Viele ist.

“Bin ich noch, wenn ich mein Innenleben nicht mehr fühle?” – eine Frage, die mir erst jetzt mit meinem Bewusstsein für mein Viele- sein möglich ist.
Früher habe ich mich das nie gefragt. Ich “war” einfach und all mein Bewusstsein war nach außen gerichtet. Niemanden wütend machen, Balance im Außen haben, Anpassen, einstellen, re-agieren. Es war egal, ob mein Innenleben schreit und ich mit meinem Da-sein wie eine Art Korken auf einem Vulkan sitze. Ich habe nicht gespürt, was ich mir damit antue und es erschreckt mich, nein- es tut mir leid, dass ich es irgendwann nicht mehr gemerkt habe.

Für mich sind die Politiken, mit denen sich die queere Szene ™ auseinanderfetzt; neben- wie durcheinander und gegenübersetzt eine Welt, die ich mit mehr Entfernung betrachte.
Vielleicht.
Ich hab keine Ahnung. Irgendwie ja, irgendwie nein und ganz irgendwie bin ich selbst doch weder Fisch noch Fleisch noch Sojabratling.

Ich bin bewusst für Diskriminierung, Ausschlüsse, Umstände und Gewalten, Gründe für Gefühle von Verletzung und Einschränkung.
Bilde ich mir ein.

Wenn jemand dekonstruiert oder einfach nur kaputtschlagen mag, was mich zusammensetzt, ist das kacke und ein Übergriff, der unbenennbar ist, weil Dekonstruiertes in der Regel noch nicht kollektiv einheitlich benannt und/ oder bekannt ist. Ergo stellt sich das gleiche Problem, wie ich das lange mit dem Körperteil “Vulva” hatte: Was keinen Namen hat, _ist_ nicht.

Besonders krass trifft  mich sowas, weil ich mein ICH als etwas, das ich konstruieren bzw. als Konstruktion wahrzunehmen zum Ziel habe.
Es ist nicht so, dass ich ein Bild von mir (als ein Ich) habe und das nur mal hier ein bisschen und mal da ein bisschen neu sortieren muss oder in einem Kontext neu oder anders positionieren muss.

Vielleicht liegts daran.
Ich hab keine Ahnung.

Ich bin viele Identitätswahrnehmungen- positionierungen- stati und – zustände gleichzeitig.
Vielleicht kam die Angst aus dem Viele gleichzeitig sein- dem alles gleichzeitig passen und genau deshalb wieder nicht passen- sein.

Ich habe den jugendlichen Anarchisten gefühlt, der sich zum ersten Mal irgendwie genau richtig zwischen den Trans*menschen gefühlt hat, und aber gleichzeitig scheiße, weil er meine lila Sneaker und den Jeansrock trug und null zu den Körperpolitiken, feministischer Theorie oder sonst irgendwas sagen oder denken oder meinen oder fragen konnte. Er ist ein Teenager mit Halfcut und selbstgedrehter Kippe im Mundwinkel, der gegen Atomkraft und Kapitalismus ist. Kein queer – feministischer Diskutant, der sich bereitwillig in ein Awarenesshaus setzen würde, um anzuhören, was konkret an seinem Sprachgebrauch oder Sozialverhalten problematisch sein könnte.
Ich hab die Frontfrau und die Hungerkünstlerin gefühlt, die über das vegane Essen und die Körperthemen gestolpert sind und sich inmitten all der Körperpolitik und Selbstbild vs. Fremdbild- Ding zerfaserten, um in Klumpen gegen meinem Frustkummermops am Bauch zu klatschen.
Ich hab mir mein Shabbatgebet verboten, nachdem ich den Aufdruck “GOD FREE YOUTH” unter den Merchartikeln gesehen hab. Er hat mir gefehlt, mein wöchentlicher Moment mit der Schöpfung und dem Ankommen bei mir, als Teil dessen.
Ach da waren so viele kurze Momente, die ich mir alle teils intuitiv und reaktiv runtergewürgt hab, weil klar war, dass sie mit mir allein und einzig meinem (Er-) Leben zu tun hatten und nicht mit der Szene, dem Raum, den Menschen, dem System oder irgendeiner Politik.

Vielleicht komme ich an mir und meinem Stückelselbst zu dem Schluss, dass alle Awareness und Einladung zum Dasein und Ausleben des Selbst nicht funktioniert, wenn keine Grundlage im Individuum selbst ist, auf der ein Standing passieren kann. Wenn ich mich noch so oft und so tiefgreifend fragen muss, ob es mich gibt, ob mein Sein eine Legitimierung fern des Außen hat, ja, dann ist vielleicht auch so ein offener aware-er Raum, einfach nicht der Raum, in dem ich funktioniere ohne in reaktives Unbewusstsein für mich selbst zu fallen.

Vielleicht.