Rezension: heimgesperrt – missbrauch, tabletten, menschenversuche: heimkinder im labor der pharmaindustrie

Dass selbst die Leiter von Bundes- und Landesbehörden zu diesen Besprechungen des Pharmaunternehmens gekommen waren! Was für eine Macht hatte das Unternehmen! Nicht die Wissenschaftler gingen zu den Politikern, sondern umgekehrt. Und die Behördenvertreter bei diesen Besprechungen müssen früher oder später erfahren haben, dass die Impfstoffe des Unternehmens trotz der Bedenken an Heimkindern getestet wurden. Denn ihre Behörden waren in den Publikationen benannt. Sie hätten unmissverständlich klarmachen können, nein müssen, dass die Heimkinder ein Tabu waren. Waren sie so korrumpiert worden von dem Unternehmen? Wollte sie vor der Bevölkerung gut dastehen, weil endlich ein Impfstoff entwickelt wurde? Weil sie die Krise im Griff hatten? Weil die nächste Wahl anstand? Dagegen waren ein paar Heimkinder wohl nicht so wichtig.
Nach ihnen fragte sowieso niemand.

Cover des Buches "heimgesperrt"„heimgesperrt“ ist ein faktenbasierter Roman von Sylvia Wagner in Zusammenarbeit mit Correctiv! .
Wagner, selbst in einem Heim aufgewachsen, versammelt auf 255 Seiten viele Leidens- und Lebensgeschichten anderer ehemaliger Heimkinder und Heimüberlebender und vermittelt einen Skandal, der noch immer zu wenig Aufmerksamkeit von der Öffentlichkeit bekam.

Das Buch ist keine belletristische Blüte, nicht der rührig ausgestaltete Roman, den man befürchten könnte. Der Ton ist sachlich, der Stil schlicht. Wir begleiten die Protagonistin Hannah in ihrer Auseinandersetzung mit der Thematik. Die eigene Aufarbeitung von der Wiederfindung der Mutter, zur Schwester und auch dem Bruder, von dem ihr vorher niemand erzählt hatte. Die Treffen mit anderen Heimkindern. Deren Unzufriedenheit mit dem Runden Tisch 2010, ihre Kämpfe um Opferentschädigung, Anerkennung der Schäden durch die Heimerziehung. (siehe auch SZ-Artikel, vom 9. 12. 2010)
Es sind Kapitel über Lebensrealitäten, die unerträglich viel Gewalt unter dem Deckmantel von christlicher Nächstenliebe und medizinischer Hilfe, aber auch staatlicher Ideologie zwischen den 50er-Jahren bis im Fall der DDR zur Wende sichtbar machen.

Erst am Ende kommt zur Sprache, was der Titel benennt. Die gezielte und offenbar massenhafte Ausbeutung von Heimkindern als Versuchspersonen für Polio- und andere Impfstoffe, Neuroleptika und Psychopharmaka. Wir begleiten die Protagonistin in Archivkeller und Bibliotheken wie zuvor in Gespräche und Situationen der Reflexion und erfahren wie sie auch, von den schrecklichen Taten, der Korruption und der absoluten Kälte denen gegenüber, die Heimkinder waren.
Am Ende steht ihre Dissertation und die Stärkung der Überlebenden in ihren Erzählungen: „Endlich wird uns geglaubt!“

Dieses Buch als Heimkind der 2000er und behinderte Person zu lesen machte mich demütig und dankbar, ob der Gnade der späten Geburt. Dankbar um Reformen, pädagogischen Fortschritt und die Weiterentwicklung des allgemeinen Verständnisses von Kindheit als eigenes Er_Lebenskonzept. Wissend, dass diese Fortschritte noch lange nicht überall Grundlage des Umgangs mit Kindern und Jugendlichen ist. Und auch im vollen Bewusstsein darum, dass meine eigene psychiatrische Geschichte von einer oft unangemessenen Medikalisierung geprägt war.
Aber „Schwachsinn“ oder „sexuelle Verwahrlosung“ oder „Triebhaftigkeit“ waren keine Diagnosen mehr als es mich betraf. Meine uneheliche Geburt nichts, was meine Mutter und mich zwangsläufig auseinanderriss. Aus heutiger Perspektive erscheint es unfassbar, mit welcher elaborierten Gewalt der Staat in Familien und Einzelpersonen hineingriff, um gesunde moralisch „richtig“ bewertete Deutsche in Gesellschaft zu halten und alle anderen – ob behindert geboren oder behindert gemacht, um den abgewerteten Hintergrund zu bestätigen – rauszuhalten. Nicht zuletzt die Beteiligung von NS-„Ärzten“ an den experimentellen Medikamentengaben und „Heil“Behandlungen zeigt, wie die sogenannte „Entnazifizierung“ nach dem 2. Weltkrieg tatsächlich verlief. Die Bewertung von Menschen war noch lange nicht vorbei, der Ausschluss weiterhin aktiv und ohne jede Gnade ganz alltägliche Praxis. Wie die Täter_innen, unter ihnen Nonnen und Mönche, Erzieher_innen und Krankenpfleger_innen, diesen gewaltvollen Umgang für sich persönlich legitimieren konnten, bleibt trotz einiger anmerkender Gedanken auch in „heimgesperrt“ offen. Man bleibt mit dem Eindruck zurück, dass es die breite Solidarität und Wertschätzung der Gesellschaft brauchte, – und also die breite Ablehnung dieser Art der „Hilfs- und Heilungsangebote“ – damit sich etwas änderte.

So kann „heimgesperrt“ als Sammlung von Zeitzeugenberichten und Mahnmal an alle Generationen von jetzt bis in die Zukunft hinein betrachtet werden. Als Erinnerung daran, dass es noch Überlebende dieser Gewalt gibt, die damals wie heute auf die Solidarität aller angewiesen sind, weil ihnen so grundlegendes Unrecht und tiefgreifend schädigende Gewalt angetan wurde, dass Zuhören und Mitfühlen allein in keinem Fall reichen kann.

Wenn man diesem Buch eines wünschen kann, dann viele Leser_innen.
Und viele solidarische Zusammenschlüsse mit Heim- und Psychiatrieüberlebenden, die mit ihren Schadenersatzansprüchen und Forderungen an die Bundesregierung, sich ihrer Schuld angemessen verantwortlich zu zeigen, bis heute allein sind.

„heimgesperrt“ [ISBN 978 394 801 3219] erschien als Taschenbuch, kostet 20 € und kann über den Shop von correctiv! bestellt werden.

 

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Aufarbeitung

War ich wie ein Stein ins Bett gefallen, so rumpelten wir als Schottermasse kurze Zeit später wieder heraus.

”Aufarbeitung”, dachte ich später, als ich meine Hände unter dem kalten Wasserschwall aus der Leitung betrachtete. “Verarbeitung”, dachte ich, als mich dann doch übergeben musste und es nicht zur Toilette geschafft hatte.
“Ich weiß doch auch nicht.”, dachte ich, als ich überlegte, ob mir ein anderer Mensch jetzt gut täte.

Als ich noch geraucht habe, hätte ich mich ans Fenster gestellt und erst der Glut in meiner Hand und dann dem Rauch aus meinem Mund zugesehen. Ich hätte mich in dem Anblick verloren, hätte entspannt und wäre seltsam befriedigt wieder zurück ins Bett gegangen. Ich hätte meine Mutter vor Augen gehabt, wie sie auf dem Balkon steht und auf den Platz vor unserem Wohnkomplex hinunterschaut, als wäre sie eine desinteressierte Königin.

Jetzt stehe ich am Fenster und denke an meine Mutter und könnte kotzen, wenn ich noch etwas anderes als Gallebitter in mir hätte.

“Hasst deine Mutter dich?” hatte ich die Freundin ein paar Stunden zuvor gefragt und sie hatte geantwortet “Ja. Ich glaube, ja.”. Und ich dachte, wie schön es für sie ist, auf so eine Frage so eine klare Idee zu haben.

Ich öffne das Küchenfenster und stelle mir einen Stuhl davor. Nehme NakNak* auf den Schoß und warte darauf, dass mich die regennasse Sommerkälte frösteln lässt.
Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt an Kindern” war so ein Tagesstartthema und die Frage, warum eigentlich andere Leute als ich diese Aufarbeitung machen wollen und von was zu was die Gewalt an Kindern aufgearbeitet werden soll. Was soll das Ergebnis einer Aufarbeitung sein?  Wie kann etwas, das mir passierte, von anderen aufgearbeitet werden?

Ich denke an meine Mutter und an Dinge, die sie getan hat. Sowas wie: mir aus dem Bad zuzurufen, ich hätte irgendwas falsch gemacht und ich solle nur warten bis mein Vater nach Hause kommt. Erst Jahre später hatte ich verstanden, dass auf meinen Vater zu warten nie war, was sie von mir erwartete, um einen Fehler zu berichtigen oder zu entschuldigen. Erst heute bekomme ich eine Ahnung davon, was für eine permanente Enttäuschung ich für meine Eltern gewesen sein muss und warum mir die Verletzungen, die sie uns zugefügt haben immer so kontextlos, unbegründet und ziellos erschienen.

Ich suche einen Hass von ihr auf mich und finde nur einen eigenen Wutkummer um diese Frau, die nie kapiert hat, was für eine infernalische Verwirrung sie mit allem stiftete, was sie an mich heran trug. Die vermutlich zusammen mit meinem Vater nie darüber nachgedacht hatte, was genau wir eigentlich verstehen, wenn zwischen einem Fehler und einer Strafe viele Stunden und Welten liegen. Überhaupt nie darüber nachgedacht haben, was mit uns genau in dem Moment ist – sondern immer ausgerichtet auf das, was aus uns werden soll, gedacht, geplant, hingearbeitet haben.

Langsam krabbelt die Kälte von draußen über meine Haut und ich lasse etwas los.
Wie wir nicht mal “richtig” darunter gelitten haben, dass uns in der eigenen Familie Schmerzen zugefügt wurden, die die Entwicklung des Vieleseins begünstigt haben. Wie wir bis heute nicht darunter leiden, dass das passiert ist, sondern vielmehr Not daran haben, es nicht zu verstehen, sondern nur mehr und mehr dieser toxischen Missverständnisse finden.
Ein Panel in dem Comic “Schattenspringer” hatte unser Problem gut auf den Punkt gebracht: “Willst du mir eine Information oder eine Emotion mitteilen?”.
Noch immer wissen wir nicht, was an der Gewalt an uns von uns aufzuarbeiten sein kann, weil wir nicht wissen, ob sie das getan haben, weil sie bestimmte Gefühle hatten – emotional angefeuerte Intensionen, wie zum Beispiel Hass oder Wut darüber, dass es uns gibt oder, dass wir waren, wie, wer oder was wir waren oder ob es einfach nur der Wunsch nach einem besseren Morgen, an dem alles gut sein würde, war, den sie anders nicht zu erfüllen sahen.

Wir hätten doch dabei geholfen, das zu erreichen. Da wäre doch nie nötig gewesen uns weh zu tun oder uns zu zwingen. Dazu hätte man uns das doch nur erklären müssen. Wir haben doch damals den Golfkrieg im Fernsehen gesehen, haben doch die Hungernden von Somalia gesehen. Wir haben doch gewusst, dass in dieser Welt viele Dinge passieren, die nicht mit einem Morgen, das besser sein soll, zu vereinen sind.

Üblicherweise sind uns die emotionalen Intensionen anderer Menschen nicht so präsent, was dazu führt, dass unsere Bewertung von Handlungen an der Handlung selbst bzw. dem, was sie auslöst, orientiert. Es würde uns nicht sonderlich fertig machen zu erkennen, dass sie uns gehasst haben oder geliebt, oder ob sie ungeduldig waren oder was auch immer. Es tut ja einfach immer weh von einem Elter (oder anderen Menschen allgemein) verletzt zu werden und sich nicht davor schützen zu können – egal, mit welcher Absicht sie es getan haben.
Aber wenn wir ihre Gefühle bzw. ihre emotionalen Intensionen gekannt hätten, wäre da heute mehr Material als “Es ist passiert und ich weiß nicht warum.”.

NakNak* leckt an meiner Hand und draußen beginnen die ersten Vögel zu zwitschern.
Mir ist kalt und ich bin leerentspannt geweint.

Ich schließe das Fenster und schaue auf das angekippte Wohnzimmerfenster der Nachbarin mit chronisch obstruktiver Lungenerkrankung.