von Gewalt, Vermeidung und Sokrates

“ „Missbrauch ist doch nur Anfassen- geht doch noch“ Aus meiner Kehle kriecht ein krächzender #aufschrei
-„Wo findest du nur immer so einen Mist? Ich bin entsetzt.“

Ein Austausch bei Twitter. Ich fand den Satz in den Kommentaren eines ganz normalen Nachrichtenblogs, der sich in einem Artikel mit dem Thema „sexuelle Misshandlung“ befasste.
Es ist Teil der ganz alltäglichen Debattenkultur im Internet, der ich begegne, seit ich mich auch politisch aktiv mit dem Thema auseinandersetze.

Ich treffe auf Verharmlosung, verbale Gewalt, Leugnung, offenem Anzweifeln am Wahrheitsgehalt der Erlebnisse, die ab und zu geschildert werden. Es ist teilweise eine Hybris der Gewalt, die zum Opfer gewordenen Menschen entgegenschlägt.

Bei manchen denke ich mir, dass es eine gewisse Bildungslücke gibt und auch eine Art „es nicht genau wissen wollen“, also Vermeidungsverhalten.
Etwa bei VerfasserInnen von Sätzen, wie oben. Die Unkenntnis darüber, was der Begriff „sexueller Missbrauch“ eigentlich meint. Tatsächlich kann man anhand des Wortes allein auch keine Herleitung vornehmen- es sagt ja nur etwas von einem falschen Benutzen von Sexualität bzw. ganz eigentlich nur von etwas „Sexuellem“.

Unbildung ist nicht schlimm- dem kann man abhelfen. Dummheit hingegen ist schädlich- und sei es die Dummheit zu glauben, die eigene Unbildung fiele niemandem auf und würde ohne Rückmeldung akzeptiert, wenn sie die Ursache einer Verletzung bei jemandem ist.
Es gibt immer jemanden, der es besser weiß. Und es gibt immer jemanden, von dem man lernen kann, auch ohne bloßgestellt zu werden. Man muss nur bereit, schlau und mutig genug sein, sich dafür zu öffnen. Und sei es vor sich selbst.
Unser StGB ist ausführlich in Bezug auf „sexuellen Missbrauch“, „Nötigung“ und viele spezielle Straftatbestände. Langsam aber stetig öffnen sich zum Opfer gewordene Menschen öffentlich und sprechen oder schreiben über die erlebte Gewalt. Man muss es nur lesen oder zuhören. Und lesen bzw. hören wollen.

Doch das tun leider noch viel zu wenige Menschen, die mit (sexueller) Misshandlung konfrontiert werden. Sei es als selbst betroffener Mensch, noch als peripher betroffener Mensch. Wie schon in einem Artikel geschrieben: ich halte es so, dass jeder, der mindestens mal mit dem Begriff konfrontiert wurde, gleichsam als „betroffen“ gilt, wie der Mensch, der zum Opfer von Gewalt wurde.
Entsprechend meiner Auffassung sind wir also alle alle alle miteinander irgendwie von Gewalt betroffen.

Doch dies von sich zu weisen ist elementar für viele Menschen. Auch gerade für VerfasserInnen solcher und ähnlicher Sätze. Weil ich davon überzeugt bin, dass die größte Antriebskraft zum Handeln von Menschen große Gefühle sind, gehe ich in Bezug auf dieses Verhalten von Angst aus.
Vielleicht einer Art Angst vor Bewusstsein und dessen Auswirkungen auf sich selbst. Dem Bewusstsein von Gefahr, dem Bewusstsein von: Es könnte auch mich (be)treffen. Ich könnte gefordert sein- an mich könnten (zu hohe) Ansprüche gestellt werden- an mich wird Verantwortung heran getragen, der ich nicht entsprechen kann.
Dem Bewusstsein eigener Ohnmachtsgefühle.

Unbewusstsein schützt.
Ich bin oft dankbar dafür, vieles aus meiner Biografie nicht zu wissen. Die Gewalt, der mein Körper und Teile meines Seins ausgesetzt waren, abgespalten zu haben.
Hätte mein Gehirn das nicht gekonnt, wäre ich an einem Schock gestorben. Und damit meine ich nicht den körperlichen Schock. Dissoziation verhindert einen neuronalen Informationsüberflutungsschock.
Deshalb können wir Menschen das. Deshalb tun wir das den ganzen Tag- mal mehr, mal weniger stark. Auch ohne eine dissoziative Störung (die eigentlich den störenden Einfluss der Dissoziation meint) zu entwickeln.

Ich gönne jedem seine Vermeidungsblase. Wirklich jedem. Man kann sie sich schön einrichten und nach außen hin produktiv und gut funktionieren.
Aber sie hat nichts bei anderen Menschen verloren!
Sie braucht auch nicht verleugnet zu werden. Sie ist ein Fakt im Leben jedes Menschen. Niemand ist sich allem gleich bewusst- niemand weiß alles und niemand will alles wissen. Es ist ein Selbstschutz der nötig ist, weil er das eigene Leben auch positiv beeinflusst- und sei es zur Aufrechterhaltung der eigenen Funktionalität.

Doch das heißt nicht, dass es das, was man von sich fernhalten will (und muss) nicht gibt! Das heißt nicht, dass schreckliche Ereignisse nicht passieren.

„Ich weiß, dass ich nichts weiß“ – Sokrates. Bereits vor vielen tausend Jahren.
Eine Erkenntnis die sich alle Menschen vor Augen halten sollten.
Auch, jene, die ihre Augen festzusammen kneifen und sich einen Holzkasten um ihre Vermeidungsblase zimmern.
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Doch auch zu dieser Erkenntnis kommt man nicht ohne einen gewissen Schmerz. Es ist nötig sich dazu selbst zurück zustellen. Es braucht Demut vor eigener Unfähigkeit. Ein Zugeständnis der eigenen Fehlbarkeit und auch Unzulänglichkeit in Bezug auf die Dinge, die uns begegnen.
Es braucht einfach den Schmerz, der einen überkommt, wenn man feststellt, dass man eben doch nicht immer und in Bezug auf alles „Mensch der Lage“ ist. Eben doch nicht alles kontrollieren kann. Eben doch, in manchen Situationen den Dingen ihren Lauf lassen muss. Umstände und auch Zustände einfach mal so lassen muss, wie sie nun (zu diesem Zeitpunkt) einmal sind- auch wenn es schmerzt, auch wenn es einem im ganzen Körper zappeln lässt, doch aktiv einzugreifen.

Manche Menschen haben ihn noch nicht genug erlebt. Manche erleben ihn nie.
Doch das ist kein Grund für Gewalt gegen andere Menschen, in dem man ihnen ihre von der Vermeidung beeinflussten Sicht der Dinge aufzwingt.

Ich schrieb dem Menschen in der Kommentarspalte einen entsprechenden Auszug aus dem StGB und wies ihn darauf hin, dass er Gewalt ausübte, als er den Kommentar verfasste.
Bis jetzt kam keine Antwort.
Ich rechne auch mit keiner. Ich will keine. Ich brauche keine für mich.
Ich habe dem Menschen gegeben, was er  meiner Meinung nach brauchte. Mehr kann ich nicht tun.
Wenn es ihm geholfen hat ein größeres Bewusstsein zu entwickeln, freue ich mich. Wenn nicht, dann trete ich einen Schritt zurück und tröste mich mit der Vorstellung eines kleinen Risses in seiner Vermeidungsblase.
Ich weiß, dass ich nichts weiß. Auch nicht über diesen Menschen.