die Hängematten im Hof

392095_web_R_K_by_Clara Diercks_pixelio.deDraußen im Hof hingen Hängematten.
Wir durften alle 2 Stunden in den Hof. Rauchen. Kontakt zu Rauchenden von der anderen Station haben. 5 Minuten schaukeln und wieder rein.
Auf Station.
Obwohl ich das Wort „auf“ in Bezug auf „Station“ noch nie verstanden habe.
Ich stieg ja nicht auf etwas drauf, sondern ging viel mehr in etwas hinein.

Sam hatte eine Drogenpsychose.
Oder etwas Ähnliches. Er hatte auf jeden Fall was mit Drogen. Dauernd hatte er seinen Tabakbeutel mit Wasser geflutet und dann den Tabak auf der Heizung trocknen lassen.
Das sollte etwas mit der Stärke machen.
Sam hatte dunkle Haut. Sie rieten ihm deshalb zu Rastas, um das Bild vom jamaikanischen Rastahaschischmann zu vervollkommnen. Sam hatte Halluzinationen von Insekten in seinen krausen Haaren.
Ich glaube, er war froh, wenn er seinen Tabak stark genug bekommen hat.

Diana war schizophren. Und ein bisschen verrückt auch.
Sie hatte mich vor den Hängematten gewarnt. Man könne nie wissen. Sie wuselte, wie eine kleine runde Maus durch den langen Gedärmschlauch in dem sich der Wahnsinn tummelte und doch nur den seltsamen Namen „Station“ trug. Diana hinterließ überall Botschaften. In deutsch, englisch und kauderwelschisch. Geheime Informationen offen zu hinterlassen war ihr Trick. Sie sagte: „Wenn man alles offen schreibt, fangen sie nicht an zu suchen.“ Ich finde das sehr schlau. Bei meinen Rasierklingen hatte das auch immer geklappt. Drei Päckchen klauen kaufen und zwei pseudoverstecken. Ein Drittes suchen sie nicht.
Sie das sind die, die Diana kleine Sender in die Tabletten stecken, damit sie immer wissen, was sie denkt. Deshalb denkt sie oft an Einhörner und Schmetterlinge und nur manchmal daran, wie eklig es aussieht, wenn ihre Gedärme aus den Hängematten quellen.

Tschakkliiien hatte geklaut. Und gelogen. Und mit Jungs rumgemacht. Und sie trug keine ordentlichen Mädchensachen. Und sie hatte ihrer Mutter gesagt, ihr Freund sei ein Kinderficker.
Tschakkliiien gabs gleich drei Mal und in verschiedenen Versionen. Modell Mädelhopper, Modell bunte Doc Martens und Modell Freundschaftsarmband mit Goazeichen. Ich hab zugehört und genickt, wenn sie mir mit glänzenden Augen von irgendeiner Band, einem Konzert oder der Geilheit von Drogen erzählt haben. Sachte von links nach rechts in den Hängematten schwingend, hastig und heimlich noch eine zweite und dritte Zigarette rauchend.
Tschakkliiien kam ins Heim. Der Freund ihrer Mutter kam nicht ins Gefängnis. Schließlich hatte sie ja schon mal gelogen und war deswegen sogar in einer Psychiatrie. Der Freund ja nicht.

Lisa war ein Stöckchen. Ein zittrig zartes Stück Hartholzstock. Sie klapperte ihre Runden im Hof und an den Wänden der Station entlang. Manchmal verwischte sie aus Versehen Dianas Botschaften. Dann huschte sie sachte klickernd in ihr Zimmer und lauschte, wie Diana unter lautem Geschrei über den Flur geschleift und in der Sackgasse- der Endstation Ende von Ende- ausgesetzt wurde.
Lisa aß nicht. Vielleicht weil ihre Holzzähnchen vergammeln, wenn sie Fett oder Zuckerlösung abbekommen. Sie ging zum Essen ins Schwesternzimmer und hob ihren Wollpulli hoch. Sie hatte eine Luke im Bauch, die für Essenseingaben geöffnet und geschlossen wurde.
Sie sagten ihr, sie sei eine wunderschöne Frau. Immer wieder sagten sie ihr, wie schön sie sei. Und wie noch viel schöner sie, mit ein paar Kilos mehr, sein könnte.
Als sie mit einem Herzinfarkt vor einer der Hängematten zusammenbrach, fand ich sie nicht schön. Sie war keine schöne 12 jährige. Sie war ein verhungerndes Kind.

Pätrik und Kevin hatten ADHS. Und viel Langeweile.
Wenn sie keine Langeweile hatten, hatten sie Spaß. Mit Fußball. Kicker. Fangen. Kloppen. Irgendwas mit Actionhelden. Wenn sich keiner um sie kümmerte, hatten sie ADHS.
Ich glaube, sie waren eine Impfung für die Irren. Die Antikörper des Wahnsinns. Eine Dosis krankgeredeter Alltagsschmerz. Sie rüpelten, nervten, witzelten, verärgerten, forderten, ermunterten, johlten und klatschten. Mit Volldampf. Aus allen Poren. Immer.
Warum ständig an ihnen gezogen wurde, habe ich nicht verstanden. Manchmal mussten sie „Dipi“ schlucken. Sie waren die Einzigen, deren Medis nach Süßkram rochen und deren Eltern dauernd angerufen haben.

Ab 19 Uhr war Telefonzeit.
Und freie Rauchzeit. Niemand suchte mich bis 20.30 Uhr. Außer vielleicht Diana, die kontrollieren musste, ob ich nicht gerade von Pferdedärmen erdrückt würde. Man kann ja nie wissen.

Ich guckte in den Himmel und stieß mich immer am Fenster ab. Rauchte bis mir schlecht war. Einmal hatte ich 12 Stück in einer dreiviertel Stunde geschafft. Dann hatte mich Sam gestört, weil er trockenen Tabak zum Rauchen brauchte und ich konnte nicht mehr unterscheiden, ob mir vom Schaukeln oder dem Rauchen schwindelig war.

Für die Irren ist es Telefon- und Wartezeit, für ihre Wärter ein täglicher Parcourlauf mit Hindernissen:
Sam heult, weil der heilige Tabaksaft die Heizung runterläuft und das Telefon zur Abnahme und Weiterreichung klingelt, während Diana mit jedem Ton des Geräts einen spitzen Qiekser von sich gibt, worüber Kevin und Pätrik lautstarkes Gebrülllachen schütten, was eine der Tschakkliiiens zu bändigen versucht.

Ich lag in der Hängematte und schaute ihnen manchmal zu. Inhalierte den Rauch und pustete ihn auf die faustgroße Deoverbrennung auf meinem Unterarm. „Auf Fettgewebe“, dachte ich. Ich dachte immer, es sei Fettgewebe. Meistens war es aber einfach nur die Hautschicht unter dem ledrigen Teil.
Manchmal überlegte ich, was Diana wohl zu so einem Anblick sagen würde. Aber sie war schon so oft im Wartehäuschen der Endstation. Ich wollte nicht, dass sie anfängt zu überlegen, was für Poster sie sich dort aufhängen könnte, um es wenigstens etwas gemütlicher zu haben.

Meine Lieblingshängematte war zwischen zwei Dachpfeilern gespannt. Diese waren rundherum mit Platten gepflastert. Zwischen diese Platten passte genau eine halbe Wilkinson. Schützend eingewickelt, in das Papier der Hülle. Die andere Hälfte passte perfekt in den Hohlsaum der Hängematte.

Das Telefon klingelte nie für mich zwischen 19 und 20 Uhr 30.
Aber ich klingelte zwischen 23 und 1 Uhr nachts nach der Nachtschwester.
Meistens, weil mein Fettgewebe nicht aufhörte zu bluten.

besondertäglich

Gestern haben wir uns Kunst angeschaut. Wir sind aus dem Haus gegangen, haben unsere neuen Gemögten getroffen und sind in der Öffentlichkeit gewesen.
Schwusch!
Das ist etwas, wozu ich mir normalerweise meine rot- güldenen Wonderwomenstiefel sowie meine Kleiderschutzpanzer anziehe und hoffe, die Aufmerksamkeit bei den Menschen, die mich kennen, die ganze Zeit über halten zu können.

Aber gestern schien die Sonne. Es war warm, während ein bisschen Wind ging.
Es war das typische Problem von Menschen, die sich selbst verletzen: Was ziehe ich an? Lang, kurz, welcher Stoff in wie vielen Lagen ist aushaltbar und trägt nicht zu einer übermäßigen Geruchsentwicklung bei? Was passt zusammen und ist dem Anlass angemessen?

Ich war so unangezogen wie schon viele Jahre nicht mehr.
Ein Kleid, das überm Knie endet und dessen Ärmel nur die Schulterkugeln bedecken.
„Mooa das Kleid ist genau richtig jetzt- ich nehm das jetzt. Seide ist gut bei dem Wetter. Die Strumpfhose passt dazu und die Schuhe- ich nehm das jetzt. Ja, ich nehm das jetzt. Ich will das jetzt anziehen.“
[- „Du denkst auch nie an die Anderen, ne? Weißte, das ist, was unsere Kontakte immer so kaputt gehen lässt- die gelten doch gleich als was, was sie nicht sind, wenn sie mit dir so gesehen werden.“]
Schnell über Twitter nochmal gefragt, obs okay für sie ist.
Ist es. Ha! Bätsch!

[- „Du siehst scheiße aus. Lass es. Alle werden dich angucken- eh schon wegen des Zopfes und dann sehen sie die Narben und dann bist du wieder Klopsi von Ballerburg zu Psychohirn- aber das willst du ja, ne? Du willst nicht, dass die Leute etwas Anderes von dir denken, ne?“
– „So willst du gehen? Du siehst nach „Fick mich“ aus. Wenn dich einer anquatscht, haste selber schuld.“
– „Schrecklich- einfach schrecklich. Hässlich.“
– „Das ist zu unsicher. Man sieht zu viel vom Körper. Man soll sich nicht so zur Schau stellen- oder suchst du einen Ehemann? Dann wärst du im Frauenkulturzentrum sicher falsch.“]

Ich schleifte NakNak* durch den Park und wurde wieder unsicher. Aber die Zeit wurde knapp und ich hatte keine Lust mehr mich nochmal in den Kleiderschrank zu setzen und festzustellen, dass das Kleid eben doch das Beste, neben der üblichen Alltagspanzerung, gewesen wäre.
Es war ein besonderer Anlass, es war ein nicht alltägliches Zusammenkommen.

Im Sommer werden wir auch im mehrschichtigen Sichtschutz angequatscht und „angeflirtet“. Die Klamotte spielt dabei keine Rolle, sondern lediglich unsere biologische Weiblichkeit. Für solche Menschen sagt jede Kleidung „Fick mich“. Und einen Ehemann zu finden, hat auch nichts mit dem Aussehen oder dem Zeigen der Körperlichkeit zu tun. Mal abgesehen davon, muss ich mal noch herausfinden, wo das nun wieder herkam. Klingt nach Zeitverschiebung um etwa 60-70 Jahre…

Wir gingen zurück in die Wohnung, in der sich NakNak* uftzend unter die Essecke fallen ließ.

Ja? Nein?
Verdammt- Ja!

Dann fiel mir noch etwas ein, was dieses Gewülst aus innerer Ablehnung und Kommentiererei beenden könnte. Mensch XY nebenan.

„Ist Mensch XY da?“, fragte ich den Besuch, der bei ihm in der Küche stand.
– „Nee, der ist grad was einkaufen.“
Hm… was jetzt? Die pünktliche Bahn hatte ich jetzt schon verpasst, noch später zu kommen ging nicht.
– „Na dann- kannst du mir grad sagen, dass ich nicht komplett furchtbar aussehe?“
[Warg- eines der Teenieinnens. Nein Nein Nein geh weg- jetzt waaaa nicht jetzt.]
„Ach nein gar nicht! Wirklich nicht.“
„Okay, danke- Erklärung kommt später- Tschüüüß“, umgedreht und los! Im Laufen merken, wie dieses Teenieinnen es genießt weniger zu tragen und etwas das wir „halb und halb“ nennen versuchen. Akzeptieren dabei Britney Spears in den Ohren haben.

Die Ausstellung war schön, die flockige Art des jüngeren Innens in meiner Nähe war hilfreich, den Kontakt zu den Gemögten zu halten. Wenn auch weniger hilfreich beim Thema „VulvaArt“ der Ausstellung. Meine Güte- Teenies sind echt unreif, wenn ich das hier grad mal anmerken darf haha

Wir haben jemand Neues kennengelernt, und sind im Anschluss sogar noch in der Öffentlichkeit essen gegangen. Auch so eine Sache gerade. Menschenessen essen, sichtbar sein, kurzärmlig sein, sprechen, denken, interagieren. Die Menschen beobachten, imitieren und das alles mit Nutzung des Sprachzentrums, während man den inneren Händen und Füßen wegstemmt, was sich hochdrücken will.
Merken, wie leicht der Nichtkörpername bei einer Vorstellung gesagt werden kann. Wie gut er in diese Konstellation passt, wie sehr es erleichtert, „die Hannah“ sein zu dürfen und von Anfang an so bekannt zu sein.

Merken, wie gut es tut, vermitteln zu dürfen, dass man nicht gut bitten kann nach Hause gefahren zu werden und nicht alles dahinter auch noch sagen zu müssen. Am Ende sogar ein bisschen vergessen zu können, was man gerade an hat und wie man aussieht.

Zu Hause haben wir uns wieder umgezogen. Aber nur weil sich Wolken am Himmel zeigten und die Nacht kühl zu werden begann. Erst mal ein bisschen in NakNak*s Fell weinen vor Dankbarkeit und das Eindrucksgewirbel im Laufen mit dem Hund verteilen. Es einfach im Park liegen lassen.
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Irgendwann in der Nacht sogar traurig darüber sein, seinen Höhenflug beenden zu müssen, weil der Körper nach Schlaf jammert.

Nein, es war nicht alltäglich. Es war besondertäglich. Schön und nah dran an dem, was wir uns für die Zukunft vorstellen.

Danke ihr Beiden!