der Traum mit Oma und Opa

In letzter Zeit träume ich oft von nahen Menschen, die mir fremd und fern geworden sind, oder nie wirklich nah waren.
Eins meiner Geschwister. Mein Vater. Oma und Opa. Die Person, die unsere Texte auf Informationen scannt, um sie gegen uns zu verwenden. Die Ärztin vom letzten Versuch stationär Hilfe zu bekommen.

Immer wieder wache ich auf und bin mir nicht sicher, wie ich mich fühle. Meistens summt etwas in mir. Versucht irgendein Gedanke sich zu mir durchzudrängeln, doch bleibt stecken und verwest langsam zwischen Morgenroutine und Arbeitsgedanken.
Heute träumte ich von Oma und Opa.
Die noch leben, aber sicher nicht so, wie in meinem Traum.

Dort lebten sie in ihrer Gartenlaube, umgeben vom Grün ihres Obst und Gemüses. Die Sonne schien, der sandige Boden strahlte ihre Hitze an meine hellen Beine. In dem Traum erzählte mir Oma, wie man einweckt und Kirschen entkernt. Noch im Traum wusste ich, dass es kein Erinnerungstraum ist. Einwecken und Entkernen, überhaupt viele Gartenarbeiten, haben wir uns selbst beigebracht. Jemanden, der sich uns auf den Schoß setzt und die Welt erklärt, hatten wir nicht in unserem Leben.
Und doch. Ich ließ es laufen. Drängte mein Bewusstsein zur Seite und lebte mich aktiv in den Traum hinein.
Nicht weil er so heil und schön war. Mehr, weil es die einzige Möglichkeit für mich ist, etwas mit meinen Verwandten zu tun zu haben, ohne Verluste zu erleben oder mir selbst gegenüber inkonsequent und destruktiv zu sein.

Oma war wieder 50, glaube ich. Sie war so alt, wie ich sie als Kind erlebt haben könnte.
Ich glaube nicht, dass Oma und Opa noch einen Garten haben. Sie sind inzwischen auch um die 70 Jahre alt. Glaube ich.
Ich erinnere weder ihre Geburts- noch sonstige Tage, die ihnen wichtig sind. Das ist, was man dann irgendwann bemerkt. Wie wenig man als Kindjugendliche über seine erweiterte Familie weiß und damit auch über die Beziehung zueinander.
Heute würde mich interessieren, wie Oma über Feminismus denkt. Über die DDR. Über Kapitalismus. Über Freiheit. Über Gewalt. Über sich selbst.

In meinem Traum saß ich im Kirschbaum und hielt ein schweres Glas auf dem Schoß. Mit schwarzem Stift  stand “Kirschen” darauf geschrieben. Mein Blick lag auf dem Schnörkelmuster des Löffelstiels in meiner Hand. Der Löffel selbst war so leicht, dass das Gewicht der säuerlichen Früchte, ihn mir leicht in die Fingerkuppen drückte.
Oma und Opa hätten uns nie mit so einem schweren Glas auf den Baum gelassen. Nie.
Meine Großeltern waren nie so sorglos, wie mein Traum von ihnen. Denke ich zumindest.

Von oben konnte ich auf Omas Kopf gucken und ihre schönen Haare anschauen. Schneckenhausmasermuster. Genau wie mein Haar heute. Mittelhellbuntblond, dicht und naturgewellt.
Oma ist fleischig und präsent. Man kann nicht über sie weggucken. Ihre schönen Haare ziehen meinen Blick immer wieder auf ihren Kopf und immer wieder fängt sie an zu sprechen. Mit mir.
Mein Blick auf die schönen Muster schaltet etwas in Oma an. Geschichten, belanglose Satzhüllen, bunte Wörter, die aus ihr herauspurzeln und das mit-ihr-sein bunt machen.
Das ist eine Erinnerung.

Das merke ich daran, das mein Körper sich auf eine tief vertraute Art entspannt und mein Inneres ganz leicht hinein passt.
Wieder schiebe ich mein Bewusstsein zur Seite.
Mein Bewusstsein darum, dass ich da ein Kinderinnen fühle. Eines, dass wir in der Herkunftsstadt zurückgelassen hatten. Vielleicht sogar in diesem Garten. In einer Situation wie dieser, weil es dem Horror woanders nicht gewachsen war.

Am Ende des Traumes fahre ich, auf dem Fahrradgepäckträger sitzend, mit Opa durch die Gartenanlage. Wir sind Rücken an Rücken und meine staubigen Füße fliegen über den Boden. Ich höre eine Flötenmelodie und schaffe es diesmal nicht mein Wachbewusstsein zu verdrängen.
Es ist eine Melodie aus irgendeinem Film oder so.

Als ich wirklich richtig aufwache, bin ich hin- und hergerissen. Bin traurig über das Ende des Traums, traurig über den Verlust meiner Großeltern, mit denen ich heute, selbst wenn wir wieder Kontakt hätten, nie wieder so sein könnte wie damals. Vor vielleicht 25 Jahren.
Ich bin aber auch glücklich sie geträumt zu haben. Dankbar um die Erlebensqualität, die mir dieses Stückchen Zeit mit ihnen geschenkt hat.

Zum Einen, weil es diese eine gute Erinnerung hervorgeholt hat, zum Anderen, weil das Gefühl in Ordnung und Einklang zu sein, auch noch 2 Stunden später in mir schwingen. Als ich am Küchenfenster sitze und dem Gewitter entgegenschaue, das sich – gerade jetzt, wo ich diesen Text niederschreibe – über mir auslässt.

Und, weil ich mich erinnere, dass es um safe spaces ging.
Die ganzen Jahre bis heute geht es mir und uns immer nur darum safe spaces zu haben und behalten zu dürfen.
Räume, in denen Ausdruck und Sein einfach nur sind und auf eine ähnliche Art losgelöst von größeren Kontexten, wie sie Menschen in anderen Lagen für selbstverständlich nehmen.
Wo wir genauso nicht über unsere Außenwirkungen auf andere nachdenken, wie es die Menschen nicht tun, die uns verletzt haben.
Einfach, weil es mal nicht relevant ist für uns. Weil das nicht lebenswichtig ist. Weil es uns nicht angeht – weder auf die Nerven, noch ans Gemüt, noch ins Gewissen.

Einfach sein. In Worten, Bildern, Tönen. Einfach nur so. Ohne Angst um Leib und Leben.
Und nur dann in Kontakt, wenn es wichtig ist. Oder gewünscht. Oder geteilt.
Als Option – nicht als selbstverständlich zu erwartendes Ding.

Gerade klart sich der Himmel über mir auf und ich frage mich, ob der Fehler der war, dieses Gefühl mit_teilen zu wollen. Die Idee von einem Sein zu teilen, in dem man aufschreibt, was man fühlt, weil man es kann und stehen lässt, weil man möchte, dass es bleibt.
Oder, ob der Fehler war zu glauben, dass andere die Fragilität und Zartheit dessen an_erkennen und für uns sein lassen könnten.
Spätestens wenn wir es ihnen sagen. Und obwohl sie uns sehen und bemerken.

Oma hat mich sein lassen.
Wenigstens das eine Mal, an das ich mich durch den Traum neu erinnern kann.
Ich will das in meinem Heuteleben haben.
Genau das.
Als immer und grundsätzlich verlässlich da.
Ohne Bedingungen. Ohne Preis. Ohne Gefahr.
Von jemandem gesehen und doch gelassen werden.

Ich glaube, das ist ein okayer Wunsch. Ein legitimes Verlangen.
Es ist nichts Besonderes.

Der Fehler beginnt dort, wo es jemand besonders macht.
Weil wir besonders gemacht werden.
Und nicht einfach nur anders.

jeden einzelnen Tag

Aktuell ist CSD-Zeit. Wo es möglich ist, wird der Christopher Street Day mit Umzügen, Partypommes und Informationsständen gefeiert.

Wir sind  so wenig in dieser Szene unterwegs, dass ich nicht einmal genau weiß, worum es dabei geht. Ich bin so wenig in der Auseinandersetzung um unser Queersein mit anderen Menschen, dass ich mich in der Regel nicht mitgemeint fühle. Weder vom CSD, noch von anderen special “LGBTQI*”- Dingen.
Es ist mir einfach zu viel L(esbian)G(ay) drin. Zu viele weiße cis gender Leute, die sich selbst nicht als Teil des Problems diverser *- genderfeindlichkeiten reflektieren und glauben, sie seien durch ihr schwul/lesbisch sein davon befreit, diese Leistung zu erbringen.

Neulich las ich von “transsexuellen Bedürfnissen” – als Überschrift zu einem Artikel, in dem es um ein Menschenrecht ging, das trans Menschen bis heute vorenthalten wird. Gesagt habe ich nichts. Kritisiert habe ich nicht. Wo soll man denn bei soviel Ignoranz anfangen? Bei Menschenrechte 101? Bei Gender-ist-ein-Spektrum 101 ? Bei Gewalt-geht-auch-von-dir-aus 101 ?

Viele der heute alten weißen cis Lesben und Schwulen haben sich nie mehr mit diesen Themen befasst, als es ihr direkt mit cis hetero vergleichbarer Lebensbereich nötig gemacht hat. Erst ging es um Strafbarkeit von Sex, dann um die Ehe und Familienglücke. Man argumentiert mit Lebensqualität und Gleichberechtigung, weil man das kann. Und gefühlt exakt nie wird sich damit auseinandergesetzt, warum eigentlich.

Da wird nicht darüber nachgedacht, was überhaupt “Geschlecht” und was “Genital” ist. Da wird sich nicht gefragt, was “gender” als Begriff meint.
So viele alte weiße Lesben halten sich für “keine “echte” Frau”, weil sie denken, bestimmte Körper seien nur bestimmten anderen Körpern bestimmt. So viele alte weiße Schwule halten sich für minderwertig, weil ihnen der gleiche letztlich ebenfalls misogyne Bullshit den Kopf vermüllt.
So viele inter Babys dürfen nie inter bleiben, weil sie direkt nach der Geburt zu Ehren der zweigeschlechtlichen Weltordnung verstümmelt werden. So viele trans Menschen glauben, ihre körperliche Verstümmelung, etwa in Form von Sterilisationen und plastischer Operation, sei der Preis, den das offene Leben ihrer Identität nun einmal erfordert, egal, ob sie überhaupt körperliche Veränderungen an sich wollen.
So viele Queers bzw. Nonbinaries wissen nicht einmal, dass es eventuell bereits ein Wort für ihre Identität gibt.

Zum CSD wird die Toleranz gepredigt und die Unsichtbarmachung von Identitäten umgesetzt. Die Sprachführung schwankt zwischen generischem Maskulinum und dyadistischem Gendern – man gedenkt der getöteten, im Gefängnis eingesperrten Schwulen und Lesben im Ausland, nicht selten mit offensichtlich kolonial rassistischen Entgleisungen in der Sprachführung – man spricht über Kinderwunsch bei Lesben, HIV bei Schwulen – bisschen Party, bisschen Regenbogenflaggengewedel und dann ist wieder Ruhe bis zum nächsten Jahr.

Es sei denn, es kommt zu Massakern, wie zuletzt im Nachtclub “Pulse” in Orlando. 50 Menschen sind gestorben und etwas mehr sind verletzt worden. 50 und mehr Menschen, deren Identität und Lebensrealität nicht nur schwul oder lesbisch, sondern auch nonbinary bzw. queer war.
Die deutschen Zeitungen schreiben jedoch was? Richtig: “Schießerei im Schwulenclub”. Allenfalls kommt da noch der Einwand, das man die Lesben nicht vergessen dürfe.

Dass eine schwarze Person, als Act für den Abend angekündigt war, dass sich auch queere und andere nonbinary Personen dort aufhielten; dass der Club allgemein für alle gender der Community der nicht hetero und cis Personen, offen war, wurde erst durch die Community, die sich über die social media-Kanäle mitteilte, sichtbar.
Wie kann man so etwas in der Berichterstattung unterschlagen? Wie kann man so relevante – ja, auch Straftatmotiv relevante! – Aspekte in seiner journalistischen Tätigkeit vergessen?!
Wie zum ***** kann man “vergessen” zu erwähnen, dass das nicht nur eine Schießerei in irgendeinem beliebigen Nachtclub war, sondern in einem Nachtclub, in dem sich eine mehrfachdiskriminierte und daher hochgradig gefährdete Personengruppe trifft, um mal abzuschalten, sich auszudrücken, sich sicher zu fühlen, Spaß zu haben, Sozialleben zu pflegen?!

Niemals wird dieser Aspekt vergessen, wenn in Schulen oder Universitäten, in Supermärkten oder Kinos eine Schießerei passiert. NIEMALS.

Wird die LGBTQI*- Community angegriffen spricht man nicht darüber. Man spricht nicht einmal in seinen Solidaritäts- und Trauerbekundungen drüber, um was für eine strukturell und sozial ausgegrenzte Personengruppe es sich handelt und wie krass die Zerstörung solcher safe spaces für diese Community ist.
Wenn weiße cis VertreterInnen  betrauern und bekunden, geht es um Toleranz und Freiheit.
Die TOLERANZ, die man trotzdem noch übt und die FREIHEIT, die man zu verteidigen gedenkt.

Wie zynisch das ist, merkt wohl nur die Community, die bis heute um Akzeptanz und Freiheit durch wahrhafte Gleichberechtigung kämpfen muss.
Denn wie viel die Toleranz und die Freiheit der weiß cis Anderen für die Sicherheit mehrfachdiskriminierter Queers und Nonbinaries wert ist, erlebt die Community nicht nur dann, wenn irgendjemand in ihre safe spaces eindringt, um sie abzuschlachten, sondern jeden einzelnen Tag, an dem sie unsichtbar gemacht bleibt.