und Stille

Dass man nie allein ist. War. Das ist mir gerade eingefallen.

Sie nennen es Kraft der Familie°, Stärke der Gemeinschaft, einer für alle. Und deshalb gehen die Missionierenden nie allein. Sie kommen nie alleine und halten mir den Wachtturm hin und fragen, ob ich mal etwas lesen möchte. Sie stehen auch nie wirklich allein in der Stadt und halten die klitzekleinen Heftchen in der Hand. Ein paar Meter weiter stehen die anderen.
Und unterstützen.

Wenn sie nach Hause gehen, fragen sie einander, wie die Gespräche mit den Menschen waren. Worum ging es, was war das für ein Mensch, hat er seine Wohngegend genannt, damit wir ihn mal besuchen können? Was hast du gedacht? Hat dich das Gespräch im Glauben gestärkt oder geschwächt?

Es gibt keine Momente am Tag, in denen sich eigene Gedanken verfestigen können. Wenn man nie allein ist, dann ist Einsamkeit der Tod.
Dann wird Stille zu etwas, dass einem den Kopf von innen nach außen totätzt. Also erzählt man sich, was einem zuerst einfällt.
Man betet. Und merkt nicht, dass man bittet. Irgendwann: bettelt.

Der “Sch…”- Laut ist groß. Schande. Schuld. Scham. “Sch!”.

Das ist der Laut unter dem sich die Mehrsamkeit, die Gruppe, die Unterstützung, zu Kontrolle und Doktrin verwandeln.
Der Punkt, an dem man merkt, das man nicht gehen kann. Nicht unbemerkt. Nicht ohne einen “Sch”-Laut zu provozieren. Es ist eine Angst vor diesem Laut- nicht vor den Menschen, die ihn ausstoßen.

Manchmal ist man ohne sie irgendwo. Dann hat man einen Tinnitus aus “Sch!”-Geräusch.
Man wird hilflos, weil man nicht mehr hören, nicht mehr reagieren kann.
Dann ist es die Gruppe, die Familie°´, die die Last des “Sch!” von einem nimmt. Psalmenweise. Mit Budenzauber. Lichtershow.

Zusammen mit anderen.

Man kann nie bündeln. Man kann niemanden allein lieben oder hassen, ignorieren oder in Gedanken haben.
Wenn man interagiert, dann schließt man die Person, die Macht und die Familie° mit ihrem Auge auf und den Händen in, dem Kontakt, dem Wort, dem Moment zwischenmenschlicher Privatheit, gleich mit ein.

Man lernt das Fasern nach außen und trägt es in sich hinein.

Sie kommen seit Wochen und klingeln bei mir.
Zeugen Jehovas.

Zwei. Es sind immer zwei. Nicht einmal mein “Ich möchte in den nächsten Wochen bitte keinen Besuch bekommen”, kann ich bündeln auf eine Person. Ich muss es abschwächen durch die Aufteilung auf zwei Personen. Ich sage es der Einen und entschuldige mich bei der Zweiten.

Sie wissen nicht, dass ich das “Sch!” in ihrem Kopf hören kann.
Besonders, wenn da Stille ist.

Sicherheit* unterm Radar

P1010176„Du musst den Täterkontakt abbrechen und dich anonym halten, sonst bist du nicht sicher.“
Das ist so einer der Sätze, mit denen ich in diesem Bundesland empfangen wurde. In einer „anonymen“ Unterkunft für Jugendliche in Not. Mehrere hundert Kilometer zwischen mir und dem, was noch immer einige Innens „zu Hause“ nennen.
Diese Zeit in der Einrichtung war nicht lang- ich glaube nur 3 Wochen- aber sie hat gereicht, um mich bis heute ziemlich wütend zu machen und immer wieder darüber nachzudenken, wie die Wichtigkeit und Funktionsmechanismen von Schutz durch Anonymität vermittelt werden können.

In meinem Fall hatte sich damals schon niemand an meine Seite gestellt und sich dafür eingesetzt, dass ein Antrag auf Amtshilfe in der neuen Stadt passiert, um mich gänzlich (oder zum Teil) abzulösen.
Stattdessen wurde die ganzen Jahre der Jugend- und später auch Erwachsenen-  Hilfe in schöner Regelmäßigkeit meine Wohnadresse, meine Hilfepläne, so wie sämtliche Aktivitäten an ein Amt geleitet, das immer wieder einen Datenfluss in Täterhände lenkte.
Ich hatte das immer wieder gesagt, hatte es immer wieder als Änderungswunsch angebracht. Im Zuge des Betreuungswechsels dann, versuchte ich es mit juristischen Hebeln, um aus der Sache rauszukommen und scheiterte, weil ich zu schwach war.
Ich hätte mindestens eine Strafanzeige gegen die Täter stellen (Recht bekommen) und dann alles Nötige erwirken lassen müssen.
Aber eine Strafanzeige erstattet sich nicht so einfach. Bis heute nicht.

Das Gemeine für mich- der richtig fiese Haken: meine damalige Therapeutin und alle alle alle Bücher und Tipps für  Menschen mit DIS (und Täterkontakten), die ich damals fand, hackten auf mir als die undichte Stelle im Sicherheitsnetz herum.
Immer wieder wurden dort die inneren Abhängigkeits- , Hörigkeits- , (Todes-) Angstdynamiken thematisiert und verdeutlicht, wie wichtig es ist, die innere Kommunikation so weit aufzubauen, dass sich Innens nicht an die TäterInnen wenden und so weiterhin Gewalt erfahren. Wir haben diese Problematik auch gehabt und mussten daran arbeiten. Was in Bezug auf den Abbruch von Täterkontakten wichtig war, schilderte ich bereits in der Serie „
Täter- Kontakte 1- 5 “ 

Der Punkt meines Ärgers über den Satz in der Einleitung und der Buchinhalte ist, dass das einfach nicht alles war und bis heute ist.
Wir erfahren seit einigen Jahren keine Gewalt mehr- doch befreit von destruktiven Verbindungen sind wir erst, seit wir vor dem Gesetz als „erwachsen“ und damit komplett mündig gelten (Also seit dem 27 sten Geburtstag- dies ein Hinweis an Betroffene mit Schwerbehinderung und darauf fußenden Amtshilfen seit der Jugend).

Die Idee von „es kann mir nichts passieren- ich bin anonym und in Sicherheit“ ist Schwachfug.
Wer wissen will- wer es wirklich wissen und herausfinden will, wie mein Passname ist, wo ich wohne und was sonst noch in Bezug auf mich relevant ist- der wird das auch herausfinden. Wer mir wirklich unbedingt Gewalt antun will, wird das tun können und nichts und niemand wird das verhindern. Aber ich kann es etwas schwieriger machen.

P1010183Das Leben in Anonymität hat für mich viele kleine und große Unsichtbarkeiten und mit ihnen Angstmomente, die völlig unvermittelt kommen können; jeden wie auch immer gearteten Kontakt und auch die Art, wie Kontakte geknüpft werden, beeinflussen.
Die Verluste, die ich mit der Entscheidung zum Leben ohne Gewalt, mit neuem Namen und Dunkelfeld „Vergangenheit“ eben auch „gewählt“ habe, sind unfassbar groß und schmerzhaft.
Ich entfernte nicht nur Destruktivität aus meinem Leben- grenzte mich nicht nur von Gewalt in verschiedenen Gewändern ab. Ich war gezwungen zum Messer zu greifen und mir alles was „vorher“ war abzuschneiden. Das Vorher, das auch viele schöne Momente, tolle Menschen und Möglichkeiten umfasst und mich mit viel mehr Leichtigkeit agieren ließe.

Ich bin gestern via Facebook mal wieder über jemanden aus „dem verbotenen Früher“ gestolpert. Die Folge war nicht: „Ach guck an…“ sondern richtig harte 20 Minuten, in denen ich Tränen aus meinen Augen rausschreien wollte und nicht konnte.
20 Minuten, in denen mir erneut diese Gefühle von emotionaler Zwangsaskese zum Wohle meiner Sicherheit durch die Brust jagten. Erinnerungen an „früher“, alle Wünsche, alle Hoffnungen, alles was ich damals … hätte würde wäre wenn

Mein Heute umfasst eine Achtsamkeit und Vorsicht auf allen Ebenen durch mich selbst, aber auch eine Abhängigkeit von Verbundenheitsgefühlen und gut kommunizierten Beziehungen zu den Menschen, die mich umgeben.
Ich kann noch so oft verschweigen, wo ich eigentlich herkomme; wie mein Passname lautet; darauf verzichten meinen supertollen Hund im Internet zu zeigen oder wie ge-ni-al ich meine Haare frisiert habe. Ich kann noch so oft meine Hand abhacken, wenn sie ins Früher telefonieren will, um dort wieder einzuziehen. Ich kann noch so oft ins Facebook schauen und denken: „Ach dieser Mensch hat mir ja nichts getan- ich könnte…“ und dann doch hart bleiben.
Sobald auch nur eine meiner Gemögten, HelferInnen und Verbündeten oder irgendjemand außerhalb meines Kontrollbereichs mich als diejenige welche mit Passnamen XY im Kontext von AB in Stadt CD outet, ist es vorbei.

Alles was ich tun kann ist in einem Heute zu leben, das kein breit bekanntes Früher hat.

Ich muss mich darum bemühen meine Kontakte auf eine Art zu pflegen, die entweder davon geprägt ist, dass diverse Informationen nie Thema werden bzw. „einfach so unbemerkt in ihrem Fehlen sind“ oder bekannt sind mit einem Mit-Verantwortungsbündel obendrauf, das nicht jeder Mensch tragen kann (und/ oder will).
Keine meiner Gemögten weiß alles über mich und die Tatsache, dass sie es auch nicht zu wissen einfordern, entlastet und schützt mich sehr.
Für die Beziehung, die wir haben sind weitere Informationen nicht wichtig- sie wissen aber alle von den Netzen, in denen wir uns bewegen. Sollte mir etwas passieren, wäre niemand von ihnen allein und direkt mitbedroht.
Das Nichtwissen schützt sie also- solange sie nicht-wissen „dürfen“.

Im Falle der Facebookverbindung musste ich so scheißverdammt mutig sein, wie ich es eigentlich gar nicht war in dem Moment. Ich musste fragen: „Kennst du diesen Menschen persönlich?“

Weiß der Mensch, dass wir uns kennen? Muss ich dich jetzt auch aus meinem Leben streichen, obwohl ich dich toll finde und es mir weh täte? Muss ich schon wieder umziehen und alle meine Hilfsnetze umkrempeln, weil du weißt, wo ich wohne?

Ich musste meine Gemögte irritieren, ihr etwas abverlangen, was sie genauso einfach hätte ablehnen wie annehmen können.
Ich musste sie ins Vertrauen- in meine Scheiße ziehen und konnte nichts weiter tun, als zu hoffen, dass sie vollständig begreift, was ich da sage- die ganze Tragweite sieht, ohne davon erdrückt zu werden.
Ich muss ihr vertrauen diese Schwere zu tragen- nicht nur jetzt, sondern noch eine ganze Weile länger, weil für mich etwas daran hängt.
Ich musste sie wissen lassen- sichtbar(er) werden für sie und hoffen, dass sie diese Sichtbarkeit mit mir vor anderen Menschen unsichtbar hält.


Es klingt immer so einfach: Täterkontakt beenden, neuer Name, neue Adresse, Traumatherapie und fertig.
Im Falle organisierter Gewalt ist es damit einfach nicht getan.
Diese Dinge hängen alle an Privilegien- an Sicherheiten, die extrem instabil sind und von nichts und niemandem bedingungslos und durchgängig gewährt werden. Die Realität nach Ausstieg und in Anonymität wird damit nicht gestreift.

Damit ich direkte Gewaltkontakte beenden konnte, brauchte ich eine starke Gemögte, die mich halten und tragen konnte- die an meiner Seite stand und sich selbst in dieser Zeit total zurückstellte- ohne irgendetwas dafür zu verlangen.
Um meinen Passnamen zu verändern muss ich (neben finanziellen Ressourcen) auch darauf hoffen, dass ich in meinem Leben als Opfer von organisierter Gewalt anerkannt werde, auch ohne eine Strafanzeige zu stellen.
Um anonym zu wohnen muss ich mich darauf verlassen, dass sämtliche Ämter und Behörden meine Rechtsanwältin als meine Fürsprecherin akzeptieren und sämtlicher Informationsfluss über ihre Kanzlei läuft- was nicht selbstverständlich ist.
Um meine Geschichte traumatherapeutisch auf- und verarbeiten zu können, hilft nur hoffen und beten, dass ich in meiner Therapeutin einen Menschen habe, der mutig genug ist, mit mir gegen die Krankenkasse vorzugehen und zu kämpfen um für seine Arbeit auch bezahlt zu werden, wenn diese anfängt ihre Richtlinien zu Gesetzen wachsen zu lassen und mir die Behandlung verwehrt.

Unterm Radar zu fliegen heißt „nicht gleich sichtbar und damit geschützt vor suchenden Blicken zu sein“.
Heißt aber auch, dass jede Untiefe der Berg sein kann, an dem ein Leben zerschellt.
Es heißt sich mehr als fünfmal seiner Unsichtbarkeit zu versichern.
Es heißt unsichtbar zu trauern.
Es heißt Sichtbarkeit als ein Privileg einzuordnen, das genauso instabil ist, wie alles andere.

Es heißt, dass eine Ebene der Angst auch dann noch da ist, wenn „eigentlich“ alles* „gut“ und sicher* ist.
Es heißt, dass nichts sicher ist.
Es heißt, dass die Begrifflichkeit der Sicherheit* ein Sternchen braucht, um die Fragilität und Vielschichtigkeit zu markieren, die sie für mich hat.

Familie mit Sonderzeichen

“Hannah, darf ich dich was fragen?”
Wir sitzen am Küchentisch und trinken Kaffee. Draußen schneit es leicht, die Kinder liegen flach für einen Mittagsschlaf und Hannes liest im Wohnzimmer. Eva sitzt mir gegenüber und schaut mich an.
Ich nicke, obwohl ich schon spüre, wie sich mein Rücken verhärtet und sich seine Panzerstacheln hervorschieben. Mir wird schlecht, die gelöste Ruhe und das Gefühl in einer sicheren Hütte, in einer Schneekugel zu sitzen, verdünnen sich.
”Was ist mit deiner Familie? Du bist immer so allein, das geht doch nicht. Was ist passiert?”, sie schaut mich freundlich an.
Und sie hat keine Ahnung.

Als wir in das Leben von Eva und Hannes eintraten, ging es um die Religion. Austausch, Fragen und einfach das Wissen, dass der Shabbat für uns nicht immer so ein Trauerspiel sein muss, sondern auch in Gemeinschaft sein kann, wenn wir und sie es möchten. Nun, nach mehr als einem Jahr in dem wir sie besuchen und mehr als 4 Jahren die wir uns allgemein kennen, geht es auch um Gemeinsamkeit. Langsam kommen diese Fragen.
Hannah, was ist mit deiner Familie?
Hannah, warum trägst du im Sommer lange Sachen?
Hannah, warum hast du keine Arbeit?
Hannah, warum hast du noch keinen Freund und Kinderlein?
Hannah…

Sie wissen nicht einmal wie der Körper wirklich heißt.

Wir sind nicht planvoll so bedeckt und glatt. Es dauerte eine Weile, bis alle von uns überhaupt von dem Kontakt wussten, dann dauerte es eine Weile, bis wir die Familie als “okay” eingestuft hatten, dann dauerte es eine Weile, bis wir diese Einstufung genug überprüft hatten und schwupp waren 3 einhalb Jahre um.
Wir blieben bei dem Namen, weil der Körper irgendwann tatsächlich so heißen soll, wozu also sagen, dass er jetzt noch anders heißt.
Wir blieben zum Thema Sommersachen religiöser als wir wirklich sind und können bis heute, ohne zu lügen, dem Arbeitsamt und der Wirtschaftslage die Schuld an unserer Arbeitslosigkeit geben. Das Thema Freund und Kinderlein, bekam man auch ganz einfach mit einem schüchternen Lächeln vom Tisch geschubst…

Nur die Familie…
Unsere Familie ist eine Familie*. Familie mit Sonderzeichen.
Die meisten von uns halten die Mutterfrau und den Vatermann nicht für die eigenen Eltern. Deren eigener familiärer Hintergrund ist mehr oder weniger undurchsichtig und schlichtweg kaum bzw. gar nicht mit der Lebensrealität, unserer Familie* verwoben. Ich weiß, dass wir vor ein paar Jahren einen mit uns verwandten Menschen getroffen haben und das erst bewusst gemerkt hatten, als die Begegnung schon vorbei war.
Es ist keine Familie die große Feiern machen kann, wie Eva und Hannes. Die beiden machen “Pieps” und sofort kommen alle aus allen Himmelsrichtungen zusammen. Feiern sind ein toller Anlass mit Kindern und Enkeln, Schulabschlüssen, beruflichen Erfolgen und Momenten der Freude zu prahlen und sie miteinander zu teilen. Genauso auch wie Schicksalsschläge zu betrauern und Streitigkeiten auf Tapet zu bringen. Hier wird alles irgendwie richtig ausexerziert.
Es ist klar: “Tante Elfriede hat ihr zweites Kind bekommen”, also wird es begrüßt und das Thema “Elfriedes Jüngste” reiht sich nahtlos in die Gespräche am Feiertagsesstisch ein.

In unserer Familie* war eine Beerdigung das größte Zusammenkommen, das ich erinnere und was dort geredet wurde, hatte nichts Persönliches. Als man sich trennte, verwandelten sich die Menschen. Wechselmenschen. Nicht “Eltern”.
Die Wechselmenschen quetschen einen aus, wenn man mit Fremden geredet hat. Und fremd ist jeder- außer ihnen.

Hier erleben wir, dass die Kinder von allein erzählen, was sie mit den Menschen gesprochen haben. Egal, ob mit Fremden oder Bekannten oder Freunden. Sie haben keine Wechselmenschen. Sie kennen keine Strafen für Begegnungen und ausgetauschte Worte. Sie haben Eltern.

Hier, in dieser bunten Familie ist so vieles anders als bei uns früher, dass es uns Angst macht.
Manches Mal ist es zu viel Freiheit, dann schweben wir regelrecht frei herum und sind dankbar über das drakonische Korsett der inneren Familie*. Auch wenn es weh tut- dieser Schmerz ist bekannt und ein fester Punkt. Sehr beruhigend sich dann immer wieder vor Augen zu halten, dass wir nicht dazu gehören. Dass wir anders sind.
Dass wir Teil der Familie* sind- nicht der Familie um Eva und Hannes.

Doch das stimmt so ja eigentlich nicht mehr.
Seit vielen Jahren leben wir physisch nicht mehr in der Familie*. Seit Jahren ist klar, dass wir auch nie wieder zu ihr zurück gehen können. Dass wir nie wieder ganz zu ihr gehören werden.
Es ist klar, dass wir eine Vollwaise sind. Ein erwachsenes Waisenkind.
Wir bezeichnen unsere Gemögten als Eltern im Geiste. Ohne sie als Eltern zu wollen oder von ihnen zu verlangen sich so zu verhalten. Sie geben uns durch ihr Sein schon absolut genug von dem was wir brauchen- und oft genug ist selbst das schon zu viel.

“Ich bin eine Art erwachsenes Waisenkind, Eva. Sowas passiert. Es ist nicht schlimm.”
Eva weiß nicht, was für ein Minenfeld vor ihr liegt. Sie weiß nicht, dass jede ihrer liebevollen Berührungen- die Umarmungen- die ganze höfliche Rücksicht- das “uns einfach Sein lassen”, uns von innen der direkten Strafe zuführt. Uns in schwere Loyalitätskonflikte bringt. Sie fast zur Mutter von vielen weiteren Kindern zu werden droht. Sie zur Bedrohung der inneren Familie* wird.

Sie spürt, dass wir zum Brett werden, zum Panzerstachelrücken. Mehr als einmal hat sie sich bei mir entschuldigt, weil sie ein Kleines von uns verschreckt angestarrt hatte.
Die beiden sind nicht dumm. Sie spüren, dass da bei uns was ist und haben doch nie gedrängt. Das ist einer der wichtigsten Gründe, weshalb wir immer noch mit ihnen sind.

Wir wissen, es würde immer mehr kommen. Immer mehr Fragen. Immer mehr Verständniswunsch. Immer mehr Gemeinsamkeit.
Immer mehr Familie°.

Familie mit anderem Sonderzeichen. Ohne Strafen. Ohne Korsett. Mit gelebtem Glauben aus dem tiefsten inneren Bunker. Ohne Wechselmenschen. Ohne Blutsbande.

Familie, die uns nicht zusteht.
Vielleicht nur jetzt noch nicht. Vielleicht aber auch niemals.

“Doch schlimm! Familie ist wichtig. Familie ist was du hast, wenn du nichts mehr hast. Verstehst du? Hast du niemand, hast du uns, ja?”, sie greift über den Tisch, legt ihre Hand auf meine und drückt sachte zu. 554351_web_R_B_by_CIS_pixelio.de

Ich spüre wie sich ein Stachel in meinen Handteller bohrt und mein Sein unter  der Berührung zerfällt. Mein Blickfeld verengt sich und ich entschwebe. Gerade noch spüre ich, das Lächeln des Gesichtes und höre jemanden sie fragen, was noch für die anderen Gäste hergerichtet werden muss

Ja, liebe Eva.
Wenn wir die Familie* mal nicht mehr haben, dann haben wir euch.
Familie mit anderem Sonderzeichen.