Nichts über uns, ohne uns

Na? Kennst du diesen Spruch?
Wenn du mit einer Behinderung und/oder einer chronischen Erkrankung lebst, dann könnte er dir schon einmal begegnet sein.
Aber kennst du auch das Stück des Spruchs, das für ordentlich Sprengstoff sorgt?
Eigentlich geht der Spruch nämlich so: „Nichts über uns, ohne uns, ist für uns.“ und zeigt ganz deutlich auf eine Machtfrage. Genauer: einen Konflikt um Macht.

Natürlich habe ich einen aktuellen Anlass, mich an diesen Spruch zu erinnern. Und doch ist es nicht das erste Mal, dass ich im letzten halben Jahr in einer Sache, an genau diesen Spruch, an genau diesen Konflikt, diese offene Frage gebracht wurde. Nicht das erste Mal, dass ich mich über medizinische, psychologische, „heiltätige“ und journalistische Fachpersonen ärgere, die sich sowohl öffentlich als auch nicht öffentlich als Retter*innen oder Stimme von Be(Ge)troffenen (Ritueller) (organisierter) sexualisierter Gewalt in der Kindheit gerieren. Aber auch über Betroffene, die sagen: „Naja, aber es ist wenigstens was. Besser als wenn alles unterm Teppich bleibt. – Ist ja auch nett gemeint. Die wollen ja nur helfen.“

Ich komme mir inzwischen vor, als wäre ich eine Art Bewegungsarchivar_in, die an die absoluten Basics von Betroffenenbewegung und Emanzipation erinnern muss. Zu diesen Basics gehört das, was sich in diesem Spruch bündelt:
Egal, wie groß, wie schwer, wie umfassend deine (psychische, körperliche, chronische) Erkrankung (Behinderung) ist – du bist dadurch Teil einer überproportional und häufig intersektional diskriminierten Personengruppe. Wenn jemand über dich spricht – und das ohne jede direkte und in Wirkung gleichgestellte Einflussmöglichkeit –, dann ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass das Ziel dieses Sprechens eines ist, das den Sprechenden dient. Du wirst in diesem Gespräch benutzt, damit andere zum Beispiel mehr sozialen Einfluss bekommen. Oder fachliche Reputation generieren. Oder dir in Rang, Klasse oder noch allgemeiner: Möglichkeiten der Machtausübung über dich und Menschen, die wie du diskriminiert werden, weiterhin überlegen bleiben.
Diese Sprechakte sind also in erster Linie für die Sprechenden gut, hilfreich, nützlich und sorgen für Stabilität im Machtverhältnis zwischen dir und ihnen.

Die Folgen dessen sind zum einen eine weiterhin bestehende Trennung zwischen dir (die_r Patient_in, Klient_in, behinderte Person) und ihnen (die_r Fachperson, die_r Behandler_in, Berufsbezeichnung XY). So geraten alle kranken und behinderten Fachpersonen zum Beispiel in einen dauerhaften Konflikt um ihre eigene Reputation, ihr berufliches Ansehen, ihre soziale Sicherheit und können deshalb nicht einmal unter ihren eigenen Kolleg_innen etwas dagegen tun. Sie wissen: „Mache ich mich hier sichtbar als jemand, über den sie sprechen, ist es vorbei für mich.“ Also sind sie still. Sie fallen den gleichdiskriminierten Menschen in den Rücken bei voller Solidarität. Auch sie sprechen über dich, ohne dich und damit nicht für dich. Auch wenn ihnen das ganz ganz ganz doll leid tut.

Was zudem passiert, wenn so eine Gruppenspaltung, so eine Machtungleichheit (und damit Unterdrückung einer Gruppe) aufrechterhalten wird, ist, dass Dritte davon profitieren. Das sind von jeher (scheinbar) konkurrierende Fachdisziplinen, aber überwiegend Quacksalber und Unternehmen, die Kapital aus Hilfsmitteln, Medikamenten, Kliniken, (geschlossenen) (Pflege)Heimen, Aus- und Weiterbildungsinstituten, therapeutischen Einrichtungen, Betreuungen und noch vielem mehr generieren. Seit der Privatisierung des Fernsehens gehören auch Medienhäuser dazu und in der Folge ebenso Journalist_innen.
Aber auch Menschen, denen es ganz persönlich gefällt, wenn es anderen Menschen schlechtgeht, profitieren davon. Also Menschen, die andere Menschen gern oder aus Gewohnheit oder aus Fetisch oder aus Spaß oder aus anderen, vielfältigen Motivationen heraus, verletzen, ausbeuten, entmenschlichen, unterversorgen, quälen, beschämen, entwürdigen … Aber auch Menschen, die sich gern als aktive Retter_in, als Held_in, als Sprachrohr, als Heilsbringer_in für die Schwachen wahrnehmen oder dieses Bild von sich bei anderen präferieren, da sie damit von mehr sozialer Zustimmung ausgehen können.
Warum? Weil die regelhafte Unterdrückung von bestimmten Personengruppen in unserer Gesellschaft eigentlich nicht als richtig, okay, in Ordnung wahrgenommen wird. Ganz eigentlich geht es für niemanden klar, zu wissen, dass die Nachbarin für dumm, unfähig und wertlos in ihrem Beitrag zur Gemeinschaft gehalten wird, nur weil sie mit ihrer Cerebralparese nicht so deutlich sprechen kann, wie andere. Ganz ganz eigentlich findet es in unserer Gesellschaft niemand okay, wenn Menschen als Kinder Gewalt üb.erleben mussten und davon krank werden. Und dann damit leben sollen, dass ihnen im Fernsehen jede Würde genommen, vor Gericht per se die Lüge unterstellt, von der Krankenkasse der Leidensdruck abgesprochen und von Behandler_innen meistens erst einmal jede Reflexionsfähigkeit über die eigene Krankheit abgesprochen wird.
Wenn Menschen damit so offen und klar konfrontiert werden, finden sie das alle, ganz klar und sofort, absolut scheiße.
Aber wenn der Fonds für Opfer sexuellen Missbrauchs nicht weitergeführt wird, stellen sie sich nicht offen an die Seite derer, die auf ihn angewiesen sind.
Wenn es Einzelpersonen oder Vereine gibt, die Narrative verbreiten, nach denen alle schändlich motiviert lügen oder komplett unzurechnungsfähig seien, die angeben, sie hätten sexualisierte Gewalt erfahren, gibt es keinen gesellschaftlichen Konsens darüber, dass das nicht mehr stattfinden darf.
Und das alles, weil die Abwehr von Krankheit und Behinderung zu tiefgreifender Abtrennung führt und auf allen Ebenen unserer Gesellschaft strukturell, kulturell und sozial aufrechterhalten wird. Die Annahme (temporär) Unbetroffener ist, dass sie mit dem, was diskriminierten Gruppen passiert, nichts zu tun haben. Und, dass sie von der Diskriminierung nicht auch profitieren. Sie also auch nicht aktiv dazu beitragen, zu unterdrücken, wenn sie sich aus möglichen Konflikten raushalten. Dass es reicht, wenn sie Mitleid äußern und sich vorstellen, dass das ganz doll doof ist, wenn für jemanden nur wegen einer Krankheit oder Behinderung nicht alle Menschenrechte gelten.

Diese und andere Fehlannahmen immer wieder aufzudecken, ist ein Kern der Aufklärungs- und Öffentlichkeitsarbeit, die viele Inklusionsaktivist_innen, behinderte/chronisch kranke Selbstvertreter_innen, Blogger_innen, Mental Health Influencer_innen und wie man Bewegungsarbeiter_innen heutzutage sonst noch nennt, jeden Tag leisten.
Doch wie kommt die an? Über reichweitenstarke Aktivist_innen wie Raul Krauthausen oder Tanja Kollodzieyski habe ich schon mehrfach gehört, sie würden „irgendwie nerven“. Im aktuellen Kulturkampf um die Validität der DIS Diagnose und den Themenkreis (Rituelle) organisierter sexualisierter Gewalt wird diese Arbeit zu leisten mit krankhafter Gefallsucht und irrationaler Massenhysterie erklärt. Und niemand, der nicht selbst behindert, chronisch krank, gewaltbetroffen und erkrankt ist, widerspricht. Die Kritik an diesen Aussagen über die Aktivist_innen (und letztlich ja auch Vermittler_innen) als Sprechakt über sie, ohne sie und also nicht für sie – also als Sprechakt, der sie herabsetzt und damit neuerlich unterdrückt – verläuft sich wirkungslos in der eigenen Gruppe.

„Kann man halt nix machen. Die haben halt ihr Bild. Mach dir nix draus.“ soll Trostpflaster sein. „Mach weiter – das ist so wichtig. Es sind ja nicht alle so. Irgendwann ergibt sich mal ’ne Möglichkeit für Beteiligung und Veränderung“ soll motivieren. Tja, und dann sieht man einen Film wie Blinder Fleck durch Deutschland tingeln und kann als Betroffene_r nichts dagegen sagen, weil er ja extra für sie gemacht wurde. Und also Dankbarkeit abzwingt, obwohl er auf allen Ebenen genau gar nicht ist, was Betroffene brauchen. Vor allem jetzt nicht. Jetzt, wo ganze Redaktionen, scheinbar unfähig zur kritischen Verantwortungsreflexion, weitgehend unverschleierten False Memory-Unsinn veröffentlichen, den in seiner Gefährlichkeit für alle Betroffenen sexualisierter Gewalt, egal welcher Form und Schwere, aufzudecken bei denen bleibt, die sich sozial leisten können, das zu tun.

Die, um die es geht, werden in der aktuellen Konfliktsituation um (Rituelle) organisierte sexualisierte Gewalt und die DIS, über sich selbst ganz selbstverständlich als einverstanden mit dem Umgang von Behandler_innen mit ihnen gedacht – was schlicht anmaßend ist – und wie gewohnt in Passivität gehalten. Das aktuelle Beispiel dafür ist die geplante Fachtagung „DISkurs“, deren Name und Kernidee von Betroffenen geklaut wurde.
Ausgerichtet wird diese Tagung von den Kitzberg-Kliniken in Bad Mergentheim. Ein Haus, das bereits Anfang der 2000er in jeder Empfehlungsliste für Menschen mit DIS aufgeführt ist. Also eines, das Menschen mit DIS tendenziell eher nicht so leicht boykottieren oder meiden können wie die Privatklinik „Waldschlösschen“, um wenigstens durch ihren Einfluss als Verbraucher/Kund_innen ein Zeichen ihrer Kritik zu setzen. Was eine aktuell übliche Protestform von Menschen ohne strukturelle Einflussmöglichkeiten ist.
Besonders zynisch ist jedoch ihr Motto: „Dissoziative Identitätsstörung, Perspektiven verbinden, Komplexität verstehen“. Das wird nur noch davon überboten, dass die Anmeldung zu dieser Tagung für Patient_innen ausdrücklich nicht gestattet ist. Außer für Ramona Geupert, „Vertreterin der Selbsthilfe, Expertin aus Betroffenenperspektive“. Von der habe ich in 21 Jahren Aktivismus, Selbsthilfe und Netzwerkarbeit unter Menschen mit DIS und in diversen Vereinen noch nie gehört (Sorry Ramona, falls du das liest, bist bestimmte ne Nette, die alles richtig macht, aber ey, wenn du alle aus der Selbsthilfe vertrittst, sollten dich auch alle kennen).
Man hat sich also eine aus welchen Gründen auch immer naheliegende Betroffene als Feigenblatt ausgesucht. Wahrscheinlich steht deshalb sogar irgendwo was von „Betroffenenpartizipation“ in der internen Konzeption dieser Tagung, was ein aktuell absolut übliches und dennoch ausbeuterisches Vorgehen wäre.
Der Rest der Referent_innenliste ist das Pi mal Daumen-Who is Who der Konfliktberührten, die man hier zusammenbringt, „damit man mal beide Seiten hört“. Als wären wissenschaftliche Evidenz und juristische, therapeutische sowie gewaltkulturelle Praxis im Kern das Gleiche, weil es das Thema und die Personalien teilt.
Das ist einfach nicht der Fall.

Eins muss Betroffenen von (Ritueller) organisierter sexualisierter Gewalt, die in der Folge eine DIS entwickelt haben, komplett klar sein: Diese Tagung gibt es, damit über euch geredet wird. – Nicht, damit euch besser geholfen werden kann. Nicht, damit die Gewalt endet. Nicht, damit eure Lebens- und Behandlungsbedingungen verbessert werden. Nicht, damit eure Erkrankung besser verstanden wird. Nicht, damit sich im Fernsehen niemand mehr über eure Gewalterfahrungen lustig macht. Nicht, damit an euch in der Zukunft nicht das soziale Exempel statuiert wird, das dann auf alle Betroffenen sexualisierter Gewalt auch angewandt wird.
Nein – hier geht es um Machterhalt. Um Deutungshoheit. Die einen wollen von den anderen, dass sie aufhören zu sagen, dass sie keine richtig echte Ahnung haben. Und um das zu begründen, bekommen sie Bühne.
Die Besucher_innen können sich dann austauschen und vernetzen. Vielleicht entsteht daraus irgendwo ein mutiges Therapeut_innengrüppchen, das den Arsch zusammenkneift und dann irgendwann auch mal was mit und für Betroffene auf die Kette kriegt. Sich mal öffentlich neben uns stellt, den Rücken breitmacht und einen ganz konkreten Beitrag leistet, der dafür sorgt, dass mindestens mal mit uns und für uns gesprochen wird.
Aber die Chancen darauf, dass diese Veranstaltung dazu führt, sind gering.

Wenn wir als soziale Gruppe etwas davon lernen sollten, dann ist es Folgendes: Das sind im Moment nicht unsere Verbündeten. Nicht, weil sie nicht das Beste für uns wollen – sondern, weil sie das nicht Beste für uns tun.
Ich verstehe, dass das viele abwehren wollen oder sogar müssen. Es ist hart, anzunehmen, dass die, die uns qua Behandlungsvertrag und Selbstbeschreibung, Lebenswerk und öffentlichem Auftreten immer das Gegenteil vermitteln, dem gar nicht konsequent entsprechen. Dass die, von denen sich die absolut allermeisten als soziales Gegenüber, als privatpersönliches Individuum auch wirklich krass darum bemühen, dem zu entsprechen, letztlich nicht wirklich, nicht konkret, nicht politisch, nicht gesellschaftlich … irgendwas so richtig ändern helfen.
Und zwar nicht, weil sie nicht können, sondern, weil es mit Verlustrisiken einhergeht, die einzugehen sie nicht bereit sind. Es ist leichter, kranke Leute zu behandeln, zu bemitleiden oder für Medien, Reputation oder Forschung zu missbrauchen, als sie als gleichwertige, gleichstimmige Menschen auf allen Ebenen und unter allen Umständen zu behandeln.

Dafür kann man Verständnis aufbringen.
Das kann man als Begründung wahrnehmen.
Die Realität für erkrankte Opfer von Gewalt verändert sich dadurch kein Stück.