Mein Mann und ich sitzen in der Kliniklobby, als ich ihre E-Mail lese.
Es ist warm, wir sitzen auf einer von Menschenbewegung umspülten Insel. Das Branden von Schritten und das Rauschen der Belüftungsanlage mischen sich in der künstlichen Noise Cancellung auf meinen Ohren.
Die Situation ist neu. Ungewohnt. Weird. Ein bisschen schreilustig auch.
Sie trennt sich von mir und ich merke nichts als Bliss. Entspannung. Ausatmen. Loslassen.
Im Mai habe ich noch geweint. Dann gewartet. Mich wieder von einer Nachricht niederschlagen lassen. Wieder gewartet. Die Luft angehalten. Gehofft, gerätselt und analysiert, wenn das Warten mir allzu viel Kraft abverlangte. Ich habe so viel darüber geredet, mich beraten lassen, versucht, mir zu erarbeiten, woran ich in diesem Kontakt überhaupt noch bin. Nicht verallgemeinert, keine Schlüsse zugelassen, die mich schuldlos oder verantwortungsfrei machen. In meiner Welt habe ich getan, was Freund_innen tun: Für die andere Person da sein, zusammenarbeitsbereit sein, paratstehen, um auf Wünsche, Ansprüche, Bedürfnisse im Kontakt eingehen zu können.
In der Welt aller anderen Freund_innen, meines Mannes, meiner Beraterin hingegen hat jemand meine Loyalität für gegeben hingenommen und in Teilen auch ausgenutzt. Wissentlich und willentlich hingenommen, dass ich in Sorge, in Trauer und Dauerbelastung um sie bin. Sie haben eine Lüge, die mich emotional erpressen sollte, sofort erkannt. Ich konnte das glauben und war über diese Einsicht unendlich traurig.
Um mich zu trösten, versuchte ich trotzdem so zu handeln, als wäre die Geschichte wahr. Ich wollte die Realität eines Kontaktes, der mich gezielt und absichtlich unter Druck setzt, nicht annehmen. Ich wollte die Realität, in der jemand einfach etwas komplizierter als viele andere Menschen zu Schlüssen und Entscheidungen kommt. In der ich halt einfach mal zurückstecken muss, warten muss, auch wenn es unangenehm ist. Wo ich halt noch länger als sonst warten muss, bis ich verstehe, was in der Person vorgeht. Wo es ganz spezielle, ganz ganz diffizile, hochempfindliche Zartheit und Fragilität gibt, um die herum ich möglichst sanft und achtsam, verständnisvoll und geduldig agieren muss.
Im Kontakt mit komplex traumatisierten Menschen begegnet es mir nicht sehr oft, aber doch immer wieder mal, dass Grenzen als Waffe eingesetzt werden. Dass „Ich kann nicht“ zu sagen, weniger darüber aussagt, was eine Person tatsächlich kann, als darüber, was eine Person möchte. Dass gelogen wird, um die eigenen Wünsche und Bedürfnisse, aber auch Gefühle nicht sichtbar zu machen.
Das gehört zu dem traumareaktiven Vermeidungs- und Selbstschutzverhalten, mit dem das Umfeld eingespannt wird.
Da wird immer wieder betont, wie doll andere ja gar keine Ahnung haben, wie sehr sie die betroffene Person ja gar nicht wirklich sehen oder verstehen oder einfach nehmen, wie sie sind. Als wäre der Anspruch von anderen Menschen, sich bitte auch auf die Ressourcen, Fähig- und Fertigkeiten von ihnen einzustellen, etwas, das der komplex traumatisierten Person jegliche Identität oder Lebenswert abspricht. Oder ein massiv gewaltvoller und daher bis ans Ende aller Tage unverzeihlicher Übergriff bis in die tiefsten Tiefen.
Die Reaktion ist auf allen Achsen unverhältnismäßig – es sei denn, man denkt Trauma mit. Wer auf dem Zettel hat, dass es Menschen gibt, die sowohl Gewalt- als auch Traumalogik in ihrem Sozial- und Bindungsverhalten integriert haben, kann den Flashback sehen. Kann begreifen, wie logisch es ist, dass diese Menschen sehr viel Kraft daraus ziehen können, sich eben nicht mehr alles gefallen zu lassen. Sich extrem zu verteidigen, sobald sie auch nur den Hauch von etwas spüren, das sie nicht bestätigt, oder etwas von ihnen abverlangt wird, wozu sie nicht aus sich selbst heraus bereit sind.
Das Problem, die Falle, in der auch dieser Kontakt und ich gefangen waren, ist, dass der Flashback als solcher nie direkt adressiert werden kann. Es entsteht eine ständige Wiederholung von gewalt- und traumalogischen Schlüssen und dazu passenden Selbst- und Fremdzuschreibungen, die wiederum mit ganz spezifischem Anspruchsverhalten einhergehen.
Ich bin die_r Böse, die_r Täter_in, die hochproblematische Person mit Macht (also darf man allgemein legitimiert grob, respektlos oder sogar gewaltvoll mit mir umgehen) – die andere Person mein Opfer, das sich einfach nur verteidigt. Völlig zu Recht, denn was ich da anbringe, das geht ja mal überhaupt nicht. Und das wird man ja wohl noch machen dürfen. Sich verteidigen. Und dafür geht man ja schließlich auch in Therapie als Opfer, richtig – damit man lernt, sich endlich mal durchzusetzen und abzugrenzen und auch mal für sich einzustehen. Alle, die das Gegenteil sagen (oder sagen könnten), stecken mit mir („den Täter_innen“) unter einer Decke. Sind alle gegen das Opfer. Machen die Welt für jemanden zu einem schlimmen Ort, die_r es eh schon immer schwer hatte, weil sie_r so ja quasi gewissermaßen eine komplett marginalisierte Person ist. Ein one of a kind, immer von allen unterdrückter Mensch, der in seinem Handeln ausschließlich wie ein Phönix aus der Asche steigt. Was jawohl nur gut sein kann.
Wenn man im therapeutischen Kontext davon spricht, dass man die eigene Opferrolle verlassen muss, dann geht es genau darum. Um so eine – traumalogisch absolut schlüssige! – Verkettung von Annahmen über die Situation, sich selbst und andere Menschen.
Ich merke so eine Kette bei mir immer wieder, wenn ich merke, dass ich nicht mithalten kann. Wenn meine Handball-Mitspieler_innen zum Beispiel bei lauter Musik trainieren wollen und ich aus dem Smalltalk ausgeschlossen bin, weil ich sie nicht verstehen kann. Dann merke ich wie der Schnellschluss immer wieder erst einmal ein traumalogischer ist: „Die hassen mich. Die wollen mich nicht dabei haben. Die wollen mich ausschließen, weil ich nicht kann, was sie können.“ Da habe ich die Situation noch gar nicht weiter beobachtet. Habe gar nicht geguckt, ob „die“ wirklich alle sind oder es anderen Gruppenmitgliedern auch so geht. Geprüft, ob sich wirklich alle unterhalten oder ob nicht die meisten nicht eher einfach Musik hören und so dynamischer trainieren können, also eher eine Situation von „gemeinsam alle für sich“ entstanden ist. Ich habe außer Acht gelassen, dass es in dem Umfeld okay ist, zu fragen, ob wir nach einer bestimmten Zeit wieder leiser machen können. Dass Verhandeln und die Bedürfnisse miteinander abzugleichen ganz übliches, ganz alltägliches Verhalten unter Menschen ist.
Ich hatte sehr lange überhaupt keine Ahnung davon, dass mein Gespür für schwierige Situationen verzerrt sein könnte. Wenn jemand Gewalt an sich erkennen sollte, dann jawohl ich – ich hab doch genug davon erlebt.
Mit mehr Selbstregulation jedoch war es dann aber unübersehbar für mich. Ich war immer wieder eher bereit anzunehmen, dass etwas gegen mich gerichtet ist, als irgendetwas anderes – viel Banalereres, andere Leute Betreffendes, für mich noch näher zu Erforschendes. Weil ich das so gewohnt war. Weil das für mich mehr Sinn ergeben hat. Mir mehr Sicherheit über mich selbst in der Welt vermittelt hat. Opfer war ich immer. Immer war ich unterlegen und konnte nichts machen. Diese Rolle habe ich einfach immer gehabt. Im Realen. Im Gewalterleben als Kind, Jugendliche_r und junge erwachsene Person. Und als ich sie nicht mehr hatte, die Gewalt also endete, hatte ich überhaupt keine Vorstellung davon, was da noch alles für Rollen sein könnten außer die der Täter_innen. Als mich noch jeder Flashback direkt umgeworfen hat, ich mich von Symptomkompensation zu Vermeidung gehangelt habe, hatte ich auch noch gar keine Kapazitäten, das zu erforschen. Noch gar nicht genug Überblick über mich selbst. Noch gar keine Chancen, irgendetwas zu tun, das meinem Selbsterleben etwas anderes als passives Ertragen oder Erleiden hinzufügt.
Für mich war es hilfreich zu begreifen, dass es bei allen Vorgängen in der Welt auch die Möglichkeit der Beobachtung gibt. Und, dass ich Anteile in mir habe, die das gut können. Und Anteile, die mir diese Beobachtungserfahrung vermitteln können.
Das Schreiben, das Fotografieren, das hat mir den ersten Schritt aus der Opferrolle ermöglicht. Ich konnte meine gewohnten Schnellschüsse machen, aber auch erstmal nur gucken. Beobachten, mich mit dem Befassen, was da ist und zu Schlüssen kommen, die neu für mich sind. Meine Traumatherapie hat genau das immer wieder unterstützt. Erst beruhigen, dann gucken, dann einordnen, dann verstehen, dann überlegen, welcher Umgang erwartet wird, ob und wie ich dem entsprechen möchte und welche Konsequenzen welcher Umgang haben könnte.
Zu keinem Zeitpunkt hat meine jetzige Therapeutin mich jemals angefeuert, mich endlich mal zu wehren. Oder gut gefunden, wenn ich (oder andere Innere) mich gewaltvoll oder absichtlich respektlos selbst verteidigt oder geschützt habe. Die gesamte Navigation dieser für mich neuen und handlungsfremden sozialen Rollen hätte ich ohne die freundlich zugewandte und grundsätzlich parteiliche, aber nicht auf meiner Opferschaft basierende Begleitung meiner Therapeutin nicht geschafft. Wir arbeiten zusammen, weil ich ein Ziel habe – nicht, weil ich ein Opfer war. Es ist ihr wie mir auch wichtig, dass wir dieses Ziel erreichen, weil wir uns davon mehr Lebensqualität für mich versprechen. Nicht weil ich zum Opfer wurde und Opfer nur das Beste vom Besten verdienen, sie haben ja schon so viel gelitten.
Opferschaft geht sehr schnell vorbei. Sie endet mit der Gewaltsituation.
Es ist ein relevanter Status, Opfer gewesen zu sein und eine prägende Erfahrung. Aber im Alltag, im Leben nach dem Trauma, das damit für manche Menschen einhergeht, entsteht sie seltener real als metaphorisch.
Das mag für manche Menschen provokativ klingen.
In unserer Gesellschaft spielen Opfer und Täter_innen ganz spezifische Rollen, weil damit Macht verhandelt wird und sich dies durch alle Facetten unseres Alltages zieht. Aber das außen vor gelassen, ist Opferschaft und auch die Opferrolle nichts, womit man im Leben wirklich weiterkommt. Irgendetwas für sich wirklich einfach nur schön machen kann. Die eigene Lebendigkeit genießen kann. Das Hier und Jetzt in aller Tiefe erfahren und erleben kann.
Deshalb ist „Man muss die Opferrolle auch mal verlassen“ zwar vielleicht erst einmal kränkend oder verletzend, weil man nicht den Eindruck hat, sie freiwillig eingenommen zu haben, sondern von den Umständen oder anderen Menschen darein gebracht worden zu sein (wie früher immer), aber auch ein wirklich zugewandter, das Leben eines Menschen sehr wertschätzender, Rat.
Es sei denn, man sagt das, ohne einen blassen Dunst davon zu haben, worum es bei diesem Ratschlag geht. Dann ist es eher Teil eines Abwehrverhaltens und Thema in einem Text über Hilfe als Gewalt.
Während mein Mann arbeitet, ribbele ich eine Strickarbeit mit Zählfehler auf.
Dieser Kontakt bestand über 10 Jahre. Der Konflikt ist entstanden, weil ich etwas von der Person brauchte und zunehmend bestimmter eingefordert habe. Am Ende konkret unterstützt von jemandem. Vielleicht gab es einige Stellen, an denen ich zarter hätte sein müssen. Wahrscheinlich habe ich mich oft viel zu direkt ausgedrückt und bestimmte Erwartungen von Zustimmung und Bestärkung enttäuscht.
Vielleicht habe ich auch schon seit Jahren gar nicht mehr als die Person funktioniert, als die mich mein Gegenüber kennengelernt hat. Vor 10 Jahren war die Reise zu dieser Person ein Akt, von dem ich mich monatelang erholen musste. Den ich erst Tage später überhaupt so prozessiert hatte, dass ich eine gewisse Sicherheit darüber hatte, was das für ein Treffen war und wie ich es fand. Ich war arm und allein. Hatte einen Alltag, der überwiegend von Angst und Vermeidung geprägt und von Symptomen bestimmt war.
Heute bin ich verheiratet, arbeite für Lohn und Ehre, arbeite mit Betroffenen und ihren Helfer_innen zusammen, habe zwei Bücher veröffentlicht und schaffe es, zielgerichtet und konstruktiv auf die Verarbeitung meiner traumatischen Erfahrungen hinzuarbeiten. Vielesein, meine Gewalt- und Opferschaftserfahrungen sind ein Aspekt neben vielen, die mein Leben bestimmen. Er taugt nicht mehr als Anlass oder Grundlage für einen Kontakt, geschweige denn eine Freund_innenschaft mit mir. Und das ist okay. Mir würde so viel von mir selbst fehlen, wäre das heute noch möglich.
Als meine Arbeit zu einem kleinen braunen Fadenball gewickelt ist, denke ich, wie witzig ist, dass das Ende dieses Balls auch der Anfang vom Neuversuch ist. Genau wie ich hier sitze für den Beginn von etwas, fast direkt nachdem dieser Kontakt endet. Und warum hier eigentlich nicht alle schreiend vor Lachen über die Gänge torkeln, weil irgendwie alles immer als das eine endet und als etwas anderes neu anfängt und endet und anfängt.
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