Zeitlücken

Es ging mir besser, hatte ich gedacht.
Meine Zeichnungen waren ruhig und fließend, ich tröpfelte langsam in sie hinein.

Und dann verweigerte der Scanner den Dienst, weil er auch ein Drucker ist, dessen Tinte auch aufgebraucht werden kann.
Ich habe das Gerät von jemandem übernommen, mit dem ich heute keinen Kontakt mehr habe. Also nehmen Fragen wie: “Wo füllt man die Patronen am günstigsten auf, ohne extrem viel zahlen zu müssen? Wie macht man das? Wie entfernt man die Patronen? Wenn ich in den Drucker fasse, werde ich dann sterben?” viel Platz ein und irgendwo darinnen habe ich mein Bewusstsein für Körper, Raum und Zeit verloren.

Meine Zeitverluste merke ich nicht so, dass ich das Gefühl habe “da schiebt sich ein anderes Innen vor” oder “und dann wurde alles schwarz und plötzlich wieder hell” oder “ach da war ich ein bisschen konfus und ich weiß nicht mehr genau…”. Für mich ist es so, dass ich das Gefühl habe zu vergessen, dass ich da bin. Als würden solche Fragen, wie die nach den Druckerpatronen, mich aus dem Raum saugen, in dem mein Bewusst-sein für die eigene Existenz ist.

Früher habe ich nicht so deutlich gespürt, wann sie Zeit so eine Falte für mich geschlagen hatte. Da war ich irgendwie mal weg und irgendwann merkte ich mehr oder weniger überraschend, dass es mich ja gibt, ohne Zeit zu haben, mich darüber zu wundern oder zu erschrecken, weil ich damals noch zur Schule ging. Einen Tagesablauf mit Struktur im Außen hatte.
Ich hatte keine Zeit, keinen Raum und keinen Anlass mir Gedanken anzusehen wie: “Habe ich eine Familie? Was bedeuten die Worte Mutter, Vater, Familie, Liebe, Nähe, Zukunft und Vergangenheit für mich eigentlich?”. Heute weiß ich, dass das Teil der Funktionalitätserhaltung ist, die die DIS eben bedeutet.
Ich wäre zerfallen, wäre mir damals wie heute bewusst gewesen, dass ich keine Erinnerungen an meine Familie habe. Das ich nie geliebt habe und mein emotionales Spektrum zwischen Angst und Produktivität allein liegt. Wäre mir damals aufgefallen, dass ich mich nie erinnerte, wie, wo und wann – vielleicht mit wem zusammen – ich meine Hausaufgaben gemacht habe, hätte es mich zerrissen.

Heute ist mein Tagesablauf ein “unser Tagesablauf” und ich weiß das.
Dass ich Zeit verliere ist mir bewusst und den anderen auch. Wir wissen, dass wir auf Angstspitzen achten müssen – nicht auf konkrete Ereignisse im Außen. Es hat keinen Sinn ins Tagebuch zu schreiben, dass der Scanner nicht arbeitet, weil die Druckerpatronen leer sind. Das Innen, das statt mir an der Lösung des Problems arbeitet, muss notieren, dass es Überforderungsgefühle und Ängste gab [und vielleicht noch hochgetriggerte Reste- die wiederum aber nur mit Überschriften benannt werden] und zwar um XY Uhr in, zum Beispiel, der eigenen Wohnung.
Und dann geht die Listenschreiberei los. Das Innen notiert seine gemachten Etappen – wenn es denn schreiben kann* – neben seiner eigentlichen Aktivität.

Und genau so eine Liste habe ich mich gestern schreiben sehen.
Von mir, aber eben doch nicht mir.

Ich hatte nie das Gefühl, das ein anderes Alltagsinnen mal beschrieb, dass es sich wie ein Püppchen in eine fremdbekannte Welt gepflanzt fühlt, wenn es wieder bewusst für sich und uns wird. Aber diesmal hatte ich es und es war furchtbar mit einer neuen Dimension.
Normalerweise wäre so eine Episode so ausgegangen, dass ich vor dem Drucker verschütt gehe und Stunden später im Zeichnen/Schreiben/Lesen merke: “Oh, ich bin ja ganz schön steif geworden – ich mach mir mal einen Tee- Oh es gibt mich – Oh Mist – wie viel Zeit hab ich verloren? Wo ist die Liste? – Ah okay, es ist nichts sehr Außergewöhnliches passiert. Uff, okay Business as usual…”

Und diesmal saß ich in einem Café in der Altstadt, von dem ich weiß, dass wir es eigentlich boykottieren, weil es nicht barrierefrei und sowieso auch viel zu teuer für uns ist, vor einer Tasse Kakao und sah meine Hand aufschreiben, dass das Auffüllen der Druckerpatrone 25€ kostet und man sie in einer Stunde abholen kann.

Ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Ich war noch nie in einem Café drin. Als Gästin.
Was ich von der Innenstadt gesehen und erlebt habe, sind die Innereien von BehandlerInnen*praxen und dem KünstlerInnen*bedarfeladen.

Und dann saß ich eine halbe Stunde vor der Tasse, als wäre ich in einem Wartezimmer.
Und obwohl ich mich unwohl fühlte, hatte ich Angst rauszugehen und den Laden zu suchen, in dem ich die Patronen abholen konnte. Die Stunde war schon längst um, draußen dunkelte es Novemberdunkelheit, aber es war dieser Zustand des “da und doch weg” in dem ich mich der Stadt stellen sollte, der mich wieder in Angst fallen ließ.

Und als ich Stunden später dachte: “Hm, ich müsste den Drucker allgemein mal wieder reinigen” war schon alles vorbei.
Ich pustete meine Comicseite für mich auf. Machte sie nötiger fertig zu stellen, als eigentlich geplant, um nicht noch mehr zu denken oder zu fühlen. 

Ich erinnere mich nicht einmal, ob dieser Kakao gut geschmeckt hat. Habe ich ihn getrunken? Ich erinnere mich nicht.

Zeit verlieren ist nicht lustig. Meine Amnesien produzieren für mich nie irgendeine Situation, über die ich dann eine ach so lustige Episode schreiben könnte, die einen Platz im großen Märchenbuch der Multimythen bekommen könnte.
Es geht immer wieder um Angst, die für mein Gehirn nicht anders  kompensiert werden kann, als mit der Dissoziation.

Sein eigenes Dissoziieren spüren und beworten zu können, kann heißen, dass es einen Fortschritt gibt. Aber wenn sich dieser Fortschritt so stückig und schlimm anfühlt, vergeht mir schon der Impuls zum hoffnungsvollem Blick auf das Geschehen.
Dann geht es mir plötzlich doch nicht wirklich besser.
Dann bekomme ich auch Angst vor dem eigenen Heilen.


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