Fundstücke #57

Im Nachhinein merke ich, dass ich immer dachte, es gäbe so etwas wie eine Grenze des unkontrollierten Erinnerns. So, als wäre ein “nicht richtig aufwachen und in eine desorientierte Gewalt-Wiederleben-Schleife sinken” das obere Ende dessen, was unverarbeitete Erfahrungen mit sich bringen.
Vielleicht ist meine letzte Nacht auch nicht wirklich eine Steigerung dessen.
Vielleicht ist es insgesamt unsinnig Symptomatiken zu skalieren, wenn es doch mehr meine Gefühle dazu sind, die ich skalieren will, damit sie mir gleichzeitig greifbar und entfernt von mir sind.

Dieses “Einsinken” ist grauenhaft. Mir ist dabei nicht klar, dass ich etwas erinnere bzw. erlebe, was längst vorbei ist. Selbst “Ich” ist mir in dem Moment nicht so klar. “Einsinken” ist wie eine Art Ohrwurm der Sinne, der mich total absorbiert, sich aufdrängt und nicht weggeht bis irgendein unbestimmtes Moment ihn unterbricht.
Aber wenn es einmal unterbrochen ist, dann ist es das auch.
Ich fühle mich scheiße, aber ich weiß, dass ich da bin, wo ich bin und was ich tun kann.

Heute Nacht bin ich aus etwas aufgewacht, dass ich mit “Ekel5000” überschreiben will.
Ich weiß nicht wovor, ich habe keine Bilder dazu, keine Gedanken – nur Ekel und einen drückenden, stauchenden, stiebenden Wust aus einander widersprechenden Impulsen und Körper_Reaktionen.

Jetzt einige Stunden später denke ich, ob ich vielleicht das unterbrechende Moment war, denn ich bin aufgewacht, weil ich mich übergeben musste und das auch rückhaltlos tat, als wäre ich selbst das andere Ende dessen, was sich zusammenreißt, hart macht, verdichtet – sich von mir abtrennt und so viel Platz wie möglich frei, leer, dissoziationsnebelweiß lässt.

Normalerweise erdet und beruhigt es uns insgesamt chaotische Bettsituationen aufzulösen.
Für manche Innens ist es bis heute gut “Spuren zu vernichten” oder “alles wieder gut zu machen”. Für mich ist es das Gefühl etwas tun zu können, das mir hilft. Ich mag die Muster, die sich für mich auftun, wenn ich etwas tun kann, das mit dem Alltag zu tun hat. Und sei es das Bettzeug abzuziehen, zu waschen, neu zu beziehen und zu lüften.
Es ist Alltag. Heute-Alltag. Ich-Alltag.

Und diesmal hätte ich die ganze Zeit kotzen können. Über mich, über die Situation, darüber, dass meine Bettwäsche nicht nur mit einem Handgriff, sondern einer ganzen Menge Handgriffe zu wechseln ist, darüber wie meine Haare über die Ohren rascheln – alles, was den noch so kleinsten Widerstand in mir aufmachte, brachte dieses “Ekel5000”- Ding mit sich.
Das ist, was es anders macht. Und schlimmer.

Üblicherweise sind es ja genau diese kleinen Widerstände und die Möglichkeit sie durchzusetzen, was es mir ermöglicht mehr und mehr Orientierung aufzubauen. Sie mit diesen Gefühlen und Impulsen beantwortet zu kriegen, hat mir diese Möglichkeiten genommen. Mehr als das zu erleben und auszuhalten, ging nicht und es hat bis in den frühen Morgen gedauert, bis ich an dem Punkt war, an dem aus mir heraus keine Widerstände mehr kamen. Nicht, weil ich sie aktiv unterdrückt hatte, sondern, weil da einfach keine mehr waren.

Für mich hatte das nicht nur so eine Ebene des Aufgebens, sondern irgendwie auch von Entfernung zu dem, was wir seit Jahren machen und wollen. Wir wollen diese unkontrollierten Momente nicht mehr, also machen wir therapeutisches Resilienzen pflegen, hören nicht auf mit ständiger Orientierung, mit Verankerung, mit klaren Bewegungen weg von dem, was uns nicht gut tut und stärkt.
Das loslassen zu müssen, um Erleichterung zu empfinden, verwirrt mich noch immer. Es ergibt keinen Sinn und widerspricht allen Erfahrungen, die ich bisher im Umgang mit solchen Situationen gemacht habe.

Vielleicht geht es am Ende wieder nur um meine komischen Kontrollquirks, das weiß ich gerade nicht, aber es ist eine neue Ebene der Unkontrolle und eine Konfrontation mit Erinnerungsfragmenten, die ich in der Form noch nicht hatte.

Es verunsichert mich.

als ich meine Wohnung umgeräumt hatte…

“Die Störung ist das Wiederkehren des Leidens.”, denke ich gerade.

Ich sitze in meinem Büro und stinke vor mich hin. An meinen Schläfen haben sich kleine Schweißtröpfchen in den Fisselhaaren verfangen und kühlen mich ab.
Zwei Stunden hat es gedauert, bis ich meine Wohnung umgestellt habe.
Ich finde mich zu nett. Bin wütend auf mich, weil ich meine Nachbarin für ihre inzwischen allabendliche auditiv extreme Fickshow verachte und es nicht hinkriege, einfach runter zu gehen und ihr zu sagen, dass es nervt. Dass sie mich in der letzten Woche 3 x in den frühen Morgenstunden damit geweckt hat. Dass mich ihre Zigarettenrauchproduktion anekelt.

Dass ich erst jetzt merkte, dass sie mich anekelt.
Vielleicht wegen dieser Künstlichkeit ihres Lustgeschreis und allem, was ihre Anwesenheit aufdrängt, wenn man den Hausflur betritt.
Vielleicht ist es auch kein richtiger Ekel, sondern einfach so ein Gefühl von “Du bist gefährlich- ich muss mich von dir fernhalten.”.

Ich habe in meinem Kopf ganz klar, dass meine Nachbarin so eine Show abziehen zu müssen glaubt. Ich habe sie irgendwie in die Schublade “Personen, die sich davon abhängig sehen, als gut fickbar zu gelten, damit sie von den Personen, von denen sie gewertschätzt werden wollen, auch gewertschätzt (=gut behandelt) werden”, gesteckt. Tja, shame on me.
Mein Konflikt an der Sache ist, dass ich ja immer denke, wenn ich Menschen ihre Not oder Zwänge oder An.Triebe anerkenne, dann würde es für mich leichter mit bestimmten Verhaltensweisen von ihnen umzugehen.
Oft ist das auch so.

Aber mit meiner Nachbarin ist es nicht so.
Meine Wut steht mir im Weg. Diese große brüllende Masse, die sich vom inneren Hinten gegen mich drückt, mich boxt, mich tritt, mir die Messer im Rücken herumdreht, sobald meine Nachbarin anfängt rumzuschreien, macht mich handlungsunfähig. Das Wissen, dass für den Rest der Welt, das Verhalten meiner Nachbarin als normaler gelabelt ist, als das, was in mir vorgeht, wenn sie loslegt, lähmt mich und lässt mich ohnmächtig zurück.

Immer, wenn ich mit meinen Möbeln umziehe oder sie verstelle, denke ich daran, wie es war, als wir sie gekauft haben. Was für eine Geschichte unsere Möbel so haben.
Die kleinen Kommoden, die es 2007 für 10€ das Stück bei IKEA gab, hatte ich noch mit meiner Jugendhilfebetreuerin gekauft.
Als wir die Päckchen ins Auto luden, sprachen wir darüber, ob man “multiple Persönlichkeitsstörung” als Diagnosenbegriff wirklich so scheiße finden kann, wie wir das damals schon taten.

Ich hatte ihr gesagt, dass ich nicht mehrfach meine Persönlichkeit in mir habe, sondern viele unterschiedliche und, dass ich mich noch nie von meiner Persönlichkeit oder der eines anderen Menschen gestört gefühlt habe.  Sie verstand nicht, was ich ihr damit sagen wollte und irgendwie ist es auch versickert.
Jetzt schob ich diese Kommode durch mein hellstes größtes, eigentlich schönstes Zimmer, das durch eine massive Störung zum unbenutzbaren Raum verkommen ist und sitze zusammengepresst in all der Vielheit dessen, was wir tun, inmitten aller angefangenen und im Lauf befindlichen Projekte, des dazugehörenden Materials, direkt neben meinem Bett.

Und ich lache mich aus.
Weil ich denke: “Wenn das alles mal vorbei ist…” und gleichzeitig kein einziges Wort für den Schmerz habe, der damit gemeint ist.