“die Anderen annehmen”

Blütentrio Anzunehmen, dass ich  Viele sein könnte, fiel mir lange schwer, weil ich davon ausging, dass Annahme ein Akt sei.
Solange ich von der Möglichkeit ausging, die Problematiken, die sich nach Ansicht meines Umfeldes daraus ergaben, dass ich die Anderen nicht annähme, mit einem schlichten: “Hingehen, machen, wieder weggehen” lösen ließen, konnte ich es nicht.

Was genau sich verändern würde, würde ich die Anderen als echte autarke Ichs annehmen, war mir schon nicht so wirklich klar.
Sehr wohl aber- und dieser Gedanke war mir in genau dem Moment präsent, als ich das erste Schema über die Anderen auf einen Block im Zimmer meiner damaligen Therapeutin zeichnete- dass sich das Verhalten der Menschen um mich herum verändern würde, sobald jemand wüsste, dass das, was bisher alles meins war, plötzlich nicht mehr nur von mir allein, sondern auch von außen, anderen zugeordnet werden könnte.

Ich erlebte es als eine Art Verlust, über den ich nicht mosern durfte, weil die Erleichterung über die geklärte Amnesie bzw. schwammig/verzogene Erinnerung ja gleichfalls da war, wann immer sich herausstellte, dass dieses oder jenes Innen etwas kann/ konnte/ überstanden/ erlebt hatte, was ich eigentlich mir zugeordnet hatte, weil ich ja nun einmal schließlich echt bin. Ich bin ja ich und ich bin ja immer ich. Egal, ob ich es erinnerte oder nicht; nicht sicher abrufbar immer alles konnte oder nicht und egal, ob ich mir in der Wahrnehmung davon immer sicher war oder nicht- für alle Welt war und ist immer sichtbar, dass ich ich bin.

Als die Diagnose dann kam und Namen, Alter, Vorlieben, Aktivitäten an mich heran getragen wurden… als klar wurde, dass ich- mein Körper- das Personal angegriffen hatte und ich- mein Körper- wochenlang häufiger fixiert, als frei auf der geschlossenen Station existierte, hatte ich die Vorstellung der Begriff “multiple Persönlichkeit” wäre eine Art Vermenschlichung des Phänomens der Werwölfe oder auch Gremlins.
Ich war damals 17 Jahre alt und natürlich kein Kind mehr. Trotzdem war ich noch lange nicht so reif, mir die Welt nicht doch sehr einfach zu machen und mir nicht doch lieber mit Mythen oder Fantasiegeschichten zu erklären, als mit Worten, die Menschen an mich richten, die dafür bezahlt werden mit mir zu tun zu haben.

Ich sollte die Anderen annehmen und mich stellen, mit etwas leben und umgehen, das ich weder fühlen, noch anfassen, noch denken, noch sonst wie wirklich begreifen konnte. Ich wusste, dass ich misshandelt worden bin- ich wusste aber auch, dass es mir nicht wer weiß wie schrecklich vorkam. Jedenfalls nicht so schrecklich, das jemand kommen musste, um es für mich zu überleben. Es ist ja nie jemand gekommen, der an meiner Stelle verprügelt wurde. Die Tür blieb verschlossen und ich habs allein durchgemacht.
Für mich klang es absurd und unrealistisch. Ungreifbar und in mich hineingedeutet, wie jeder andere Quatsch, den mir PsychologInnen und PsychiaterInnen in den Jahren vorher erzählt haben, um mir meine Gefühle und Gedanken zu erklären. Als hätte es eine Erklärung dafür, ausgerechnet von ihnen, jemals gebraucht.

Für mich waren die Anderen eben die Anderen. Sie waren nicht “jemand” oder “etwas” – nur eben “nicht ich” und manchmal auch nur “nicht so, wie ich”.
Durch die Abstraktion ins Außen wurden sie noch weniger ich und wie gesagt: absurderweise – sollte ich dieses noch weniger ich-nahe, als mich annehmen.

Ich habe nachwievor Amnesien im Alltag oder schlottere mich durch den Tag mit unbestimmten Gefühlen, etwas vergessen zu haben; den Unsicherheiten: “Habe ich das jetzt gemacht oder nicht?”; körperlichen Missempfindungen von Taubheit, Schmerzen, allgemeiner Indifferenz über meine physische Präsenz- aber ich weiß, dass das nicht weggehen wird, indem ich sage: “Ah- das macht ihr anderen mir doch- haha- *schulterklopf*- i feel you bro”.
Hab ich probiert, hat nicht gereicht.

Aber es wird besser je mehr ich hinhöre und verstehe.
Das Eine ist anzuerkennen, dass es diese Art zu sein, die Art der Wahrnehmung und ihre Struktur gibt.
Ich glaube, es hat mir geholfen einen Blick für die verschiedenen Arten der Wahrnehmung zu entwickeln, dass ich von von vielen Menschen umgeben war, die körperlich behindert werden und/oder mit kognitiven Einschränkungen leben. In den verschiedenen psychiatrischen/psychotherapeutischen Kliniken konnte ich mein inneres Bild von der Struktur des sogenannten Wahnsinns machen und in aller Ruhe verstehen, dass sich niemandes (Selbst)Wahrnehmung allein dadurch verändert oder verschwindet, weil sie irgendjemand als falsch/krank oder gut/gesund bezeichnet.
Sie ist da und das allein bildet einen Kosmos, den es zu erfassen gilt.
Ich habe mit Anfang 20 die ersten Bücher zum Thema Dissoziation und Trauma gelesen; machte mir eine kleine Insel in der Neurophysiologie des Trauma und blieb eine ganze Weile dort. Ein Gehirn haben alle Menschen und wenn es bei jedem in etwa gleich funktioniert und es letztlich nur eine Frage äußerer Faktoren und einer Kette von strukturell grundlegend immer gleichen Reaktionen und Lerneffekten ist, Viele zu werden, dann kann mir alle Einschätzung und Benennung von außen herzlich egal sein.
Dann bin ich das Gehirn, das mir sagt, dass ich bin- aber eben auch das Gehirn, das unterschiedliche Funktionsmodi an äußere Reize abspult und dann eine andere Ich-Botschaft abschickt.

Das Andere ist anzuerkennen, dass andere Ich-Botschaften, auch dann Ich- Botschaften sind, wenn sie mir nicht so erscheinen.
Es geht darum eine Trennung als wahrhaft/ echt und üblichen Teil der Wahrnehmung zu betrachten, ohne die Verbindung bzw. die gemeinsame Quelle gleichsam zu trennen (bzw. andersherum: das immer gleiche Gehirn zum Beleg der Nichtexistenz der Trennung zu machen).

Vor ein paar Jahren dann, tauchte ein Kinderinnen auf und quäkte seine ultimativen Wahrheiten heraus: “Ich mach das, weil ich das kann.” und “Ich kann doch nix dafür, wenn ich auch immer Recht hab”.
Es hatte mich verstehen lassen, dass die anderen da sind, weil sie da sein können. Weil es eben die (wie ich ja bereits wusste, neurophysiologisch beweisbare) Option gibt, dass Menschen ihre Wahrnehmung auf- und von sich abgetrennt erleben können. Und weil es diese Option gibt, ist es auch – neben vielen anderen Wahrheiten, Ansichten, Klassifizierungen und Meinungen- immer richtig und wahr, sich selbst so zu sehen, wie man sich eben selbst sieht.
Dieser Satz des “auch immer Recht habens” eröffnete mir die Möglichkeit neben Fehlannahmen und Scheitern, auch richtig zu liegen und gewonnen zu haben – und sei es eine Erkenntnis, die nur mir in meiner eigenen Entwicklung hilft.

Mir wurde klar, dass ich die Anderen schon in dem Moment als Auch- Mich angenommen hatte, als ich noch glaubte eine Art Werwolf oder Gremlin zu sein (ein Wesen, das immer ein Wesen ist, aber sich aufgrund bestimmter äußerer Einflüsse in (Selbst)Wahrnehmung, Denken, Fühlen und Verhalten verändert).
Dass mir meine Vorstellung von meinem Wirken nach Außen Angst machte (und das nicht zu knapp)- aber nicht die Anderen als solches, habe ich, glaube ich, nie so klar formuliert. Ich hatte aber auch keine Legitimation dazu, denn mir wurde begegnet, als wäre mein Ich etwas, das zu fürchten ist (sonst wäre ich ja weder eingesperrt noch fixiert worden).
Auch der Anspruch massive Gewalt als von mir erlebt anzunehmen, kam viel zu früh und in einer Zeit, in der ich noch Gewalt ausgesetzt war. Nämlich ebenjener globalen Gewalt, die geschlossene Einrichtungen und sonstige Abhängigkeitsverhältnisse nun einmal mit sich bringen. Erst heute, wo ich keine Angebote mehr annehmen muss, weil mir Alternativen fehlen, oder Mut Alternativen zu verlangen/einzurichten/zu nutzen – ich also allgemein zwar nicht in einem gewaltenfreien Raum, aber einem der weniger nah an meiner Existenz liegt, lebe, kommen überhaupt die ersten greifbareren/ sortierbareren Erinnerungen, die mir zwar nicht immer logisch erscheinen, aber echt und nah im Gefühl sind.
11/12 Jahre nach der Diagnose.

Was ich sagen will ist: das Viele sein zu akzeptieren und/oder die Anderen zu akzeptieren, hat sehr viel mehr mit Verstehen und Begreifen (dem Umgang mit dem Jetzt, die Möglichkeiten des Heute) zu tun, als mit Zweifellosigkeit über erlebte Gewalt, Normalität im Wirken oder der Einschätzung (Wahrheit) von Dritten.
Es kann sein, dass irgendwann jemand kommt und sagt: „Du hast keine DIS und dir ist nie etwas passiert.“
Das würde mich verwirren und verunsichern- aber mein Ich und meine Wahrnehmung davon nicht verändern.
Die anderen haben schon so viele Begriffe und Einschätzungen von außen aufgeklebt bekommen: Wahnidee, Psychose, Einbildung, Story einer Hysterikerin, Traumwelt einer irgendwie allgemein verkorksten Persönlichkeit – die Tatsache, dass auch Wahnideen, Einbildungen etc. etwas ist, das von meinem Ich abgetrennt passiert, wurde auch damit benannt.

Das Annehmen meines Innens konnte nie ein ausgestanzter Akt sein, sondern immer nur ein Prozess, der bestimmte äußere Kontexte von Freiheit erforderte, welche mir wiederum überhaupt genug Raum und Mut zur eigenen Positionierung zu meinem Ich ermöglichte.

Wie wär´s mit der Kategorie Mensch?

Jemand sucht eine Kategorie für sich.
Ich schlage “Mensch” vor und stoße auf Unverständnis bei einem Dritten.

Und stehe wieder da und wundere mich.
Nicht böswillig oder wütend. Einfach nur verwundert. Und auch traurig.

Das Finden von für mich-uns passenden Kategorien war eine sehr lange Zeit, Dreh- und Angelpunkt im Leben. Und oft genug wurden dann diese zum Leben selbst. Zum Hauptentsprechungsrahmen.

Das fing für mich ganz deutlich an, als die Diagnose der DIS stand.
Immerhin- hier dachten Innens sie müssen sich regelmäßig auf eine bestimmte Art verletzen, um “die Würmer aus ihrer Seele rauszukriegen”; dachten, sie stürben jeden Moment an malignen Hirntumoren; dachten welche, sie seien schon unheilbar geisteskrank auf die Welt gekommen- selbstverständlich haben wir uns in das Selbstdefinitionskleid gewandet, das uns am Besten passte!

Und völlig logisch haben wir vehement (an manchen Stellen auch zu vehement) selbiges verteidigt, wenn wir dachten, jemand wolle uns das absprechen. Und völlig logisch, haben wir uns eine Filterbubble aufgepustet, die nur aus gleichsam betroffenen Menschen bestand.

Nur haben wir dabei sehr oft etwas übersehen, nämlich, dass es sich dabei um nichts Globales handelt. Dass, das nicht alles ist, was uns ausmacht.

Das ging für uns schon damit los, dass wir merkten, dass es selbst innerhalb unserer Filterbubble/ Kategorie noch Unterschiede gab. Da gibts den Berufsmulti, den Leidensmulti, den heroisch-fauchenden-komm-mir-nicht-zu-nahe-Multi, den körperlich eingeschränkten Multi, den Multi mit Hintergrund X/ A/ B /C…
´”Buuuhuuu” saßen wir dazwischen und dachten: “Nicht mal hier hin gehören wir!”. Was mir rückblickend total absurd vorkommt- aber naja. Ich glaube, jeder Mensch macht diese Erfahrung. Nur in anderen Kontexten vielleicht. Später machte ich ja auch die Erfahrung, dass jede “Themenbubble” in sich ähnlich aufgeteilt ist.

Jedenfalls litten wir schon ziemlich darunter, uns nicht so gemeinsam mit den Menschen in der Filterbubble fühlen zu können, wie wir das eigentlich gewollt hätten. Und tun das noch heute- siehe Drama um die Selbsthilfeforen. Sowas nimmt uns immer wieder richtig schwer mit, obwohl wir wissen und uns vor Augen halten können, dass Gemeinsamkeit schlicht zwei Seiten braucht die aufeinander zugehen und nicht jeder, der sich von uns abwendet oder die Gemeinsamkeit mit uns ablehnt, direkt etwas gegen uns als Person haben muss.

Ich begann darüber nachzudenken, was mich ausmacht und wo ich vielleicht eine Gemeinsamkeit empfinden könnte. Und machte damit einen Schritt, der mir- uns heute sehr hilfreich ist.
Ich rannte nicht mehr auf Grenzen zu, “um zu sehen wo mein Schutz aufhört” (wie es mal ein Innen formulierte). Ich ging an die Grenze und schaute nach Gemeinsamkeiten.

Wir haben uns sehr lange Objektifizieren lassen müssen und begehrten auch nicht auf, als dies nach der Befreiung weiter ging- allerdings auf einer anderen Ebene. Wir kannten nichts anderes- wurden nicht anders behandelt. Da war niemand, der mir dies über mich konkret formuliert rückgemeldet hätte.
Das Opfer
Die Diagnose
Der Klient
Der Patient
Die Fallnummer
Das Beispiel
Das DAS Das ES
das nicht näher definierte Etwas

Ich erinnere an dieser Stelle mal an den Umbruch, den ich damals hier schon einzufangen versuchte. Wir begannen uns übers Mensch-Sein Gedanken zu machen, weil uns unsere Therapeutin einfach so annahm. Und völlig selbstverständlich von unserer Menschlichkeit zu543897_web_R_K_B_by_uschi dreiucker_pixelio.de sprechen begann und uns vermittelte, dass sie uns als Gesamtperson- als Mensch-  mit allen die wir da waren- sie anmeckerten, idealisierten, mochten, hassten, rempelten, stupsten, belächelten, bewunderten, sich einem anderen Geschlecht zugehörig fühlten, anders liebten, sie verachteten…- sah und akzeptierte.
Plötzlich breitete sich der Rahmen aus. Unsere kleine Selbstdefinitions/ Kategorien/ Filterbubble dehnte sich in alle Richtungen aus. Aus der grundlegenden Akzeptanz, der Innens, die nicht in der Lage sind sich anders auszudrücken, als sie es tun, wurde eine Akzeptanz dessen in allen Menschen.
Wir gingen an den Rand und guckten was andere Menschen denn auch so machen und in sich tragen…

Das ist etwas, das uns sehr viele Möglichkeiten eröffnet mit anderen gemeinsam zu sein. Uns zu verbünden und einander Gutes zu tun. Dinge zu teilen und zu vermehren. An einander zu wachsen, weil man sich gegenseitig halten kann. Miteinander für oder gegen Dinge zu kämpfen. Schutz und Wertschätzung zu erfahren durch Gemeinschaft.

Als wir uns  noch auf nur einen Teil unserer Globalität konzentrierten, weil uns dieser vorkam, als würde er alles an und in uns erklären, konnten wir kaum etwas teilen. Da konnten wir auch kaum etwas geben. Und entsprechend auch nicht wirklich gemeinsam sein. Weder innen noch außen.

Alles was uns daran gehindert hatte in der ganzen Zeit vorher, war, dass wir niemanden hatten der uns das genau so vermittelt hatte und zeigte, wie es konkret geht. Wie “man es genau macht”.
So bin ich sehr traurig wenn ich merke, das jemand eine umschließende Kategorie für sich sucht- gerade, wenn er so oder so schon in einer drin steckt, die ihn nicht einmal als global-mehrdimensionales Wesen anerkennt oder gar benennt. Dann denke ich, dass derjenige unglaublich einsam sein muss und niemanden hat, der ihn wirklich annimmt.

Ich schrieb vorhin bei Twitter:
Gruppenlabels sollten immer Add-Ons sein- nie das Maingame

und so sehe ich das auch.
Statt jedes Mal, um auf etwas aufmerksam zu machen, einen Oberbegriff oder eine viele Facetten ausblendende Kategorie zu kreieren, sollten wir uns öffnen und uns mit jenen verbünden, die alle diese Facetten annehmen und mit ihnen gemeinsam und gut miteinander zu sein.
Und sei es, dass wir uns dabei auf unser aller grundlegendste Gemeinsamkeit berufen.

Unser Menschsein.

Die Gruppenzugehörigkeit kann ein Sahnehäubchen sein. Das Schöne eben, das einen ganz bestimmten Teil in uns berührt und hält. Aber bitte nicht so, als gäbe es nur diesen Teil. Das führt nur zu Spaltung. Und wie tief Spaltung greift, wie verletzend, verstümmelnd und auch einsam machend diese sein kann, weiß- so denke ich- jeder von uns.
Auch ohne, so wie ich, in sich drin gespalten zu sein. (Hint: da ist eine Gemeinsamkeit haha)