22072020 – 18 Jahre Psychotherapie

Auf meinen langen Thread zur Akzeptanz unseres Vieleseins am Samstag wurde ich gefragt, ob die lange Zeit der Therapie üblich sei bzw. wie lange man mit der dissoziativen Identitätsstörung (DIS) in Behandlung ist. Unsere Antwort – dieser Thread.*
Die kurze Antwort ist: Entweder lange oder kurz. Oder gar nicht.
Die Realität: Es kommt drauf an. Eine psychotherapeutische Behandlung ist etwas, wofür man sich entscheiden muss. Noch vor allem anderen. Für viele Viele braucht es da nicht viel, weil die PTBS-Symptomatik zu
erheblichem Leidensdruck führt und dem praktisch ausschließlich in psychologisch/psychiatrisch professionalisierten Kontexten begegnet wird. Heißt: Wenn du merkst, dass du an etwas trägst, wirst du sehr schnell hören: „Ouw – da geh mal lieber zu nem Profi mit.“
Viele Viele landen dann oft in diesen Kontexten, weil sie sich Leidenslinderung versprechen bzw. diese versprochen wird. Ich will damit nicht sagen, dass das falsch ist oder ausschließlich problematisch, aber für uns ist das ein Faktor, der die Länge der Behandlung mitbestimmt.
Gäbe es andere Räume, in denen man sich der eigenen Geschichte und sich selbst halbwegs save, beforscht und studiert widmen kann, würden wir nicht von einer Behandlung, sondern einer Auseinandersetzung, einem Lernprozess sprechen, der zu Leidenslinderung führt. Also Entwicklung.
So. Das zur Vorrede und Klärung. In unserem langen Thread hatte ich zu Beginn geschrieben, dass wir seit 18 Jahren mit der Diagnose umgehen. Das habe ich aus genau dem Grund so geschrieben. Wir waren 1,5 Jahre in der Klinik, die diese Diagnose gestellt hat – dann verging einige Zeit, in der es wieder eine andere Diagnose gab und dann wieder Gewurschtel um Wohnort und Gedöns – wir waren in der Zeit „in Behandlung“, die mehr oder weniger für die Verwaltung unseres Lebens gebraucht wurde. Also Eingliederungshilfen-Begründung und Kindergeldansprüche. Ums Vielesein ging es nicht und so oder so war die Therapie damals ausschließlich eine lebenserhaltende Maßnahme. Wir waren im Täterkontakt, wurden also noch regelmäßig gequält und ausgebeutet – sollten aber bitte deshalb doch keinen Suizid machen, nur weil uns niemand da raushilft.
Bis wir wirklich richtig am Vielesein selbst arbeiten konnten, vergingen 6 Jahre. So lange hat es von „einer Behandlerin sagen, dass wir in organisierte Gewalt verwickelt sind“ bis „Wir erarbeiten für den Ausstieg nötige Fertig- und Fähigkeiten und wenden diese ohne jede weitere
professionalisierte Unterstützung, gesetzliche Hilfe, staatlichen Schutz an, obwohl wir uns akuter Lebensgefahr befinden“.
Waren die 6 Jahre Behandlungszeit? Für uns schon, denn wir haben in der Zeit Entwicklungen gemacht – obwohl diese keine direkte Leidenslinderung brachte.

Konkret am Vielesein – an der Erforschung und dem Verstehen unserer inneren Mechanik, konnten wir aber auch danach noch gar nicht arbeiten. Denn nach dem Ausstieg begann die richtig krasse Symptomatik. Wir gingen in den nächsten 5 Jahren durch eine immer wieder unterbrochene Phase der Stabiliserung. Intervalltherapie in der Klinik – 8 bis 12 Wochen damals noch, nach bis zu 1,5 Jahren Wartezeit. Dann raus – wo es dann erst unsicher, später völlig klar war, dass wir keinen ambulanten Traumatherapieplatz bekommen. Wir haben immer wieder mit psychologischer Frauenberatung und persönlichem Engagement Einzelner (und dem Risiko der Verwicklung, zu der es dann auch kam, mit all ihrem zerstörerischen, weil retraumatisierendem Potenzial) überbrücken müssen. Und immer wieder war der Zirkel: Semistabil aus der Klinik, absolut instabil in die Überbrückung, um einen Suizid zu verhindern und völlig zerbröselt wieder in die Klinik. Ein Kreisel, den viele komplex traumatisierte Menschen kennen und nicht alle auch überleben. Ein Umstand von dem noch viel zu wenig Menschen wissen.

Erst 2012, also 10 Jahre nach der Diagnosestellung der DIS und 8 Jahre nachdem sie bestätigt wurde – nach mehr als 20 Erstgesprächen, die allesamt total schmerzhaft und schwierig waren, haben wir unsere jetzige Therapeutin getroffen. Die vorletzte auf der Liste. Die vorletzte Hoffnung.

Im ersten Jahr haben wir einander kennengelernt. Das war unfassbar anstrengend, weil wir versuchten eine Bindung zu etablieren, die wir kaum ertragen konnten. Im zweiten Jahr haben wir überhaupt erst realistisch erreichbare Therapieziele entwickeln können. Im dritten Jahr kam unsere Autismusdiagnose. Und seitdem haben wir überhaupt erst Zugang zu der therapeutisch wirksamen Ebene der Gesprächstherapie bekommen. Und dann ging es aber steil bergauf. In den letzten 5 Jahren haben wir viel Funktionalität erlangt, sind in uns stabil, haben erhebliche Symptomveränderungen (im Sinne von „ist weniger geworden oder auch weniger belastend geworden“) und haben einige biografische Lücken füllen können. Jetzt sind wir an dem Punkt, an dem wir die Dinge, die in der Fachliteratur zur Traumabehandlung empfohlen wird, auch machen können.
Warum habe ich diesen Schwiff gemacht? Weil es ihn in der Behandlungserzählung von Vielen NIE gibt. Immer wird an dem Punkt angefangen, wo Stabilität, innere Konsistenzen und Belastbarkeit bereits gegeben sind. Nie da, wo sie überhaupt erst entwickelt werden müssen. (Davon erzählen die Vielen dann oft ungehört – in Blogs, in Foren, in Selbsthilfegruppen – als quälendes Zweifelgewühl, ob sie diese Therapie überhaupt richtig machen, davon profitieren, ob es überhaupt etwas bringt…)
Manche Menschen sind komplex traumatisiert und dann ist die Behandlungszeit vielleicht genau die kassenfinanzierte Langzeittherapie ein Mal im Leben. Manche Menschen – und ich behaupte, dass das die meisten Vielen sind – brauchen sehr viel mehr als 120 kompetent durchgeführte Behandlungsstunden, weil viele als selbstverständlich angenommene Fähig- und Fertigkeiten, auf denen die unfassbar ableistisch konstruierte Psychotherapie aufbaut, ohne dies offen kritisch zu hinterfragen oder allgemein anpassbar zu gestalten, in ihnen (noch) gar nicht (aus)entwickelt sind (oder in anderer Form da sind, als bei der Mehrheit der Menschen, für die diese Behandlung konstruiert wurde).
Das ist ein anderer Thread, ja, gehört hier aber unbedingt dazu.
Sprechen können – ist eine Notwendigkeit in der Gesprächstherapie. Fragt mal komplex traumatisierte Menschen deren Muttersprache nicht Deutsch ist, wie lange sie so „in Behandlung“ sind. (Regelmäßig) zur Therapie kommen können – ebenfalls super notwendig. Fragt mal, wie barrierefrei erreichbar die psychotherapeutischen Praxen in der Regel so sind. Und was passiert, wenn man zum Beispiel wegen exekutiver Dysfunktion, Panikattacken oder innerer (wie äußerer) Verbote nicht regelmäßig kommen _kann_. Wie lang sich die Behandlungszeiten (und die Suche nach einem Behandlungsplatz) dann ziehen.
Ich bringe das an, weil mir wichtig ist, dass allen klar wird, dass wir so lange in Behandlung sind, weil wir uns die Behandlungsfähig- & fertigkeiten erst erarbeiten mussten – und nicht, weil man als Viele generell so derbe krass zerstört ist, dass da fast gar nichts mehr geht.
Die Psychotherapie an sich braucht grundlegende Überarbeitung und mehr Konzepte für behinderte Menschen. Die Kassenfinanzierung bzw. ihre Grundlage muss sich verändern. Wir Patient_innen haben oft Bedarfe, die nicht von einer Diagnose allein kommuniziert werden können.
Wir müssen angehört werden. Wir brauchen Repräsentanz, die über die seit Jahrzehnten wiedergekäuten Existenzbeweise unserer Lebensrealitäten hinaus geht. Und wir brauchen die Normalisierung der Auseinandersetzung mit sich selbst und der eigenen Geschichte. Nur so kann es nicht mehr erschrecken oder zu Mitleid führen, wenn jemand wie wir schreibt, dass sie_r seit 18 Jahren mit einer Diagnose umgeht. Und nur so kann man verhindern, dass das überhaupt irgendjemand von sich sagen muss. 
Danke fürs Lesen 🙂
*Für die Veröffentlichung hier habe ich Fehler und Quirks ausgebessert, die im Originalthread sind.
Alles kursiv gehaltene sind neue Anmerkungen.

6 thoughts on “22072020 – 18 Jahre Psychotherapie

  1. Ich selbst, also aus meiner Perspektive, wundere ich mich immer mal wieder darüber, dass Menschen denken/glauben, dass Therapien mit ein paar Jahren (bis 5 oder so) reichen. (ich möchte hier grad nicht auf die ideologischen Aspekte verkürzter Therapien, wie es seit 20 – 30 Jahren üblich ist, eingehen, und es ist mir wichtig, sie nicht komplett unerwähnt zu lassen)

    Viele Menschen haben schon viel Leben (zeitlich/linear) gelebt oder haben soviel erlebt/erleben müssen, wenn sie eine Therapie anfangen. Wieso sollte die Heilung dann schnell gehen? Manche Sachen bleiben, zu lernen, damit zu leben, zu akzeptieren, wer ich bin, vielleicht inkl. der Trauer, die immer wieder Teil zumindest meines Lebens ist. Wachsen dauert.

    Ich habe es alles in allem 28 Jahre in Therapie verbracht, bis ich selbst, für mich selbst entscheiden konnte, dass ich gehen will, dass ich „allein“ laufen will, dass ich mich sicher genug dafür fühlte. Das war und ist sehr wichtig für mich. Ich wünschte Menschen, die Therapie machen, könnten das ebenfalls machen, bis sie an diesen Punkt kommen. Wachsen dauert.

  2. Ich bin sehr berührt grad. Danke euch, dass ihr seit so vielen Jahren teil. Ich weiß, dass ist Teil eures Weges und es ist für mich sehr wertvoll.

  3. Wir haben ein großes Ziel: wir möchten gegen die Therapiestundenbegrenzung klagen. Aus irgendwelchen Wundergründen meinte unser Therapeut (den wir nach 7.5 Jahren endlich gefunden haben), er kann 300 Stunden bewilligt bekommen. Vielleicht reicht das. Ich glaube aber irgendwie eher nicht. Aber ich glaube, dass wir bis dahin ganz viel Stabilität erreichen können, deshalb planen wir jetzt schon:
    Wenn die Krankenkasse dann ablehnt, die Therapie weiter zu bezahlen, werden wir sie verklagen.
    Bis zum höchsten Gericht hoch. (Wir haben seit zwei Jahren eine Rechtsschutzversicherung, weil wir uns damals schon sicher waren, dass wir eines Tages unsere Krankenkasse verklagen werden, weil die ständig irgendwas nicht zahlen – bisher ging’s da aber nur um Medikamente, die man dann selbst für 20€ im Jahr kaufen muss und das war uns die Klage nicht wert.)
    Warum schreibe ich das jetzt? Keine Ahnung. War mir gerade ein Bedürfnis, es mitzuteilen. Irgendwann muss es jemand machen. Ich glaube nämlich, wenn man das echt durchzieht, kommt man auch damit auf – man muss es nur schaffen. Solche Gerichtsprozesse ziehen sich ja über Jahre. Das ist bestimmt ziemlich viel Stress, während man sich gleichzeitig darum kümmern muss, wie man die Therapie anderweitig finanziert bekommt. Aber wenn es irgendwer schafft, dann verbessert sich das System schlagartig für unglaublich viele Betroffene.
    Natürlich findet man davon nicht einfacher einen Therapeuten, aber immerhin muss man sich dann, nachdem man einen gefunden hat, nicht nach zwei Jahren wieder damit beschäftigen, wie man jetzt in Therapie bleiben kann.
    Ich hoffe sehr, dass wir das schaffen.

    1. Hallo Lana
      danke, dass du das mit uns teilst.
      Wenn eine Klage nötig sein sollte, bitte halte uns bei Phoenix (initiative-phoenix.de) auf dem Laufenden.
      Es gibt schon einen oder zwei Fälle bei denen geklagt wurde und auch erfolgreich – es bringt also offenbar wirklich etwas. Aber der Weg ist lang und hart und es ist total nachvollziehbar, warum ihn so viele Menschen nicht gehen. Auch nicht zu kämpfen, kann Selbstfürsorge bedeuten.
      Erst einmal drücken wir dir sehr die Daumen, dass die Therapie für dich bezahlt wird und du sie für dich nutzen kannst. Das ist ja erst einmal der Anfang 🙂
      alles Gute!

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