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Ich habe gestern einen langen Thread bei Twitter geschrieben.
Weil man die oft nicht wiederfindet – und viele sie erst gar nicht lesen – trage ich ihn hier mit hinein und noch etwas nach.

Die Kinderschutzzentren haben ein Erklärvideo zu sexualisierter Gewalt in organisierten und rituellen Gewaltstrukturen für die Praxis veröffentlicht vimeo.com/373360210 mehr Informationen gibt es hier: kinderschutz-zentren.org/index.php?a=v& und hier: ecpat.de

Ich finde das Video okay, halte es aber für problematisch wie die Folgestörung der dissoziativen Identität darin auftaucht. Nicht jede Person, die organisierte Gewalt erlebt hat, entwickelt eine DIS oder DDNOS, aber allen ist Unrecht passiert.
Ich habe Zweifel daran, dass es hilft, mögliche Folgeerkrankungen von Gewalterfahrungen jeder Art, zum Argument der Ächtung oder zum Grund für die Verwerflichkeit der Straftat oder der Forderung nach ihrer Beendigung bzw. Bestrafung selbiger zu machen.
Es darf nicht sein, dass eine Erkrankung/Störung/Zustand direkt zu einer Straftat linkt, auch wenn das sehr wahrscheinlich und bei der absoluten Mehrheit (bei DIS/DDNOS 98,9%) so ist. Warum? Weil man die Leute damit zu lebenden Beweismitteln macht.
Was zum Einen ein weiterer Übergriff ist (nämlich Objektifizierung) und zum Anderen potenziell lebensgefährlich. Vor allem, wenn sich in Sachen Verjährungsfristen für Straftaten der Prozess dahingehend entwickeln sollte, dass es keine mehr gibt.
Organisierte Gewalt ist geplantes, absichtliches, strukturell geschütztes und getragenes Unrecht. Es ist niemals eine Einzeltat. Auf Einzeltaten ist aber unsere Justiz ausgerichtet. Auf Einzeltaten und neurotypische Menschen, die davon berichten können. 
Helfen würden neben der Aufklärung darüber, dass es organisierte Gewalt und neurodiverse Menschen (also Menschen, die aufgrund diverser! Störungen akut oder latent nicht „normal“ (neurotypisch) inter.agieren (können/wollen/dürfen/sollen*) wirklich gibt, meiner Ansicht nach die Botschaft, dass es keinerlei Strukturen gibt, die daran angepasst sind.
In dem Film wird das wohl alles unter „fehlende Straftatbestände“ und der Umstand, dass sich die Betroffenen in Aussagen und Prozessen widersprechen könnten, zusammengefasst, aber das ist ja nicht alles.
Es fehlen ja auch Opfer- und Zeug*innenschutzprogramme, es fehlen Fachanwält*innen (und Schutz für sie), es fehlen Schutz-, Wieder_Eingliederungsprogramme, es fehlt praktisch überall medizinische, psychiatrische und psychologische Expertise und Behandlungskapazität. Es fehlen Standards und Kapazitäten zur Spurensicherung, zur Dokumentation von Übergriffen beispielsweise wenn Betroffene in Einrichtungen der Jugend- oder Eingliederungshilfe sind. Es fehlen die Perspektiven neurodiverser Menschen auf Anzeigen- und Strafprozesse, und und und noch so viel mehr.

Und das obwohl da Unrecht passiert. Und der Staat dazu verpflichtet ist, es zu beenden und zu verhindern. Das im Blick erscheint es mir fast als eine Art Derailing, die seelischen Folgen der Opfer so stark hervorzuheben. Damit wird die Gewalt – die organisiert und absichtsvoll in Gemeinschaften begangen wird! – individualisiert, also am Körper Einzelner manifestiert.
Das (die seelischen Folgen für Einzelne) ist ja aber nicht das einzige Problem daran, dass es überhaupt passiert. Diesen Spin vermisse ich an dem Video, aber auch
an vielen anderen Projekten und Aktionen, die versuchen der Öffentlichkeit das Ausmaß organisierter (ritueller) Gewalt aufzuzeigen. Denn ja – die Bereitschaft zu handeln und für Empathie steigt bei Kenntnis von Einzelfällen. Aber der Prozess zum Anstoß eines strukturellen Wandels kann nur durch Selbstverortung und Identifikation mit dem bestehenden System und seiner Strukturen erfolgen.

Wer nicht begreift, was organisierte (rituelle) Gewalt an den Strukturen für alle Menschen zerstört/gefährdet, kann gar nicht mitwirken etwas zu verändern. Deshalb fand ich es immer wieder gut, wenn Frau Hahn auf den Tagungen zu ritueller Gewalt in Münster oft betonte, dass Sekten zum Beispiel zutiefst antidemokratische Gruppen sind.
Organisierte Gewalt passiert nicht einfach so im Blauen. Sie passiert in dieser unserer Bundesrepublik Deutschland. Einem Land mit einem Grundgesetz, gewählten Vertreter_innen und einer umfassenden Verwaltungsstruktur, die jeden noch so kleinen Bereich des Lebens einer jeden Person, die hier lebt reglementiert, kontrolliert und verwaltet.
Es muss klar sein, dass jede zusätzliche Struktur, die gleichermaßen umfassend und tiefgreifend nicht nur in das Leben, sondern auch in das Sein, das Selbst, die Identität von Menschen hingreift immer auch diese demokratischen Strukturen an irgendeiner Stelle verdrängt, überschneidet, verletzt. Das geht gar nicht anders.
Wem es also wichtig ist, dass Demokratie herrscht, die_r muss genau das begreifen. Und zwar als Gefahr, die weit über ideologische Inhalte oder individuelle Befindlichkeiten und Stati hinaus geht.

Ich verstehe, dass das für Aufklärungskampagnen so nicht so einfach zu machen ist, weil man ja oft auch selber in problematische Strukturen eingebettet ist und in dem was man machen kann bei Weitem nicht so frei ist, wie es die Themen erfordern. Aber wenn man daran nichts ändert – wie will man dann so viel größere Probleme in so viel größeren Strukturen verändern? Wie will man denn, wenn man es nicht mal schafft, sich selbst frei und öffentlich zu äußern, wie man will und muss, Betroffene organisierter (ritueller) Gewalt genau das ermöglichen?

Und – einmal noch zurück zum Video – wenn „die Aufklärung“ die Betroffenen krank und leidend braucht, um die Brisanz und die Straftat aufzuzeigen – was ist mit denen die noch drin sind und gar nicht leiden, weil sie (noch, oder auch ihr ganzen Leben lang) gut funktionieren?
Denen passiert doch auch Unrecht.
Die dürfen wir bitte niemals vergessen.

Denn Opferschaft geht über das Empfinden von Leiden und Not hinaus. Es gibt so viele Menschen, die Opfer von Gewalt sind und es jeden Tag wieder werden und sich aufgrund dieser Verknüpfung gar nicht als solches identifizieren.
Wenn man sich darüber einig ist, dass das Gesetz allein definiert, wer Opfer wurde und wer nicht, dann muss diese Verknüpfung im kollektiven Bewusstsein und Gedächtnis gelöst werden. Dann gibt es keine Opfer von organisierter (ritueller) Gewalt, denn das ist keine juristische Kategorie.
Wenn man sich darüber nicht einig ist, dann muss man über Strukturen sprechen, die Opfern anders als mit juristischer Rechtsprechung begegnet. Dann braucht es einen neuen Diskurs über den Opferbegriff, dann braucht es eine neue Auseinandersetzung mit dem (sozialen wie rechtlichen) Status von Opfern. Dann braucht es Solidarität von Unbeteiligten, dann braucht Empathie, dann braucht es Mittel und Wege der Versorgung, der Zuwendung und des Schutzes ganz unabhängig vom Staat. Bumms.
Beides ist ungeheuer aufwendig und zäh und kompliziert und zuweilen fühlt es sich für mich als Betroffene auch nach einem Krieg der Ideologien an, obwohl ich weiß, dass keine der betreffenden Parteien Ideologien nachhängen. Justiz, Polizeiarbeit ist genauso wenig Hokuspokus wie Traumaforschung und Psychologie. Aber beide Seiten brauchen Objekte in der Arguementation. Und diese Objekte sind beim Thema der organisierten (rituellen) Gewalt die Opfer.
Das ist beiden, wenn nicht allen, wissenschaftlich fundierten Disziplinen gemeinsam – okay.
Unbeachtet bleibt dabei, dass es ein gewaltvolles Mittel ist und so dazu führt, dass man mit Gewalt gegen Gewalt vorgeht.
Meiner Ansicht nach ist das nicht der richtige Weg.
Deshalb habe ich das aufgeschrieben.

Initiative Phönix: “nach dem Fonds ist vor dem Fonds”

Initiative Phoenix – Bundesnetzwerk für angemessene Psychotherapie e.V. fordert eine Ergänzung der Psychotherapie-Richtlinie um einen Behandlungsrahmen für komplexe Traumafolgestörungen

Frankfurt am Main, 13. Februar 2016.

Die Mitglieder des gemeinnützigen Vereins Initiative Phoenix – Bundesnetzwerk für angemessene Psychotherapie e.V. trafen sich am Samstag, um über in diesem Jahr bevorstehende wichtige Änderungen für Menschen zu beraten, die wegen komplexer Traumafolgen Hilfebedarf haben. Zum 30. April 2016 wird die Möglichkeit enden, Leistungen aus dem „Fonds Sexueller Missbrauch im familiären Bereich“ beantragen zu können.

Vor diesem Hintergrund wird sich die Versorgungsrealität vieler Betroffener wieder drastisch verschlechtern. Aus zahlreichen Rückmeldungen aus Selbsthilfe- und anderen Fachkreisen wissen wir, dass das näher rückende Ende der „Atempause“ im Kampf um die Finanzierung von Hilfebedarf Vielen derjenigen, die Leistungen aus dem Fonds erhalten konnten, und auch deren Angehörigen, Helfenden und Behandelnden Sorge bereitet.

Das Problem der fehlenden Therapiefinanzierung für Menschen mit erhöhtem Hilfebedarf durch komplexe Traumafolgen, zu denen viele von sexueller Gewalt in Familien Betroffene gehören, ist nicht neu. Wie eine Untersuchung der psychotherapeutischen Versorgungsrealität komplex traumatisierter Menschen in Deutschland (Initiative Phoenix, 2012) zeigt, scheitern mögliche Behandlungserfolge oft daran, dass den gesetzlichen Krankenkassen eine Grundlage für die Finanzierung bedarfsgerechter Therapien für diese Patientengruppe in der Psychotherapie-Richtlinie fehlt.
Die Folge ist laut unserer Erhebung und anderer Studien, dass mit dem Lebensalter der Betroffenen die Kosten für die Versorgung von Chronifizierungen körperlicher und psychischer Folgeerkrankungen steigen, langfristige Früh- und Erwerbsunfähigkeitsberentungen zunehmen, vielfach vermeidbarer stationärer Behandlungsbedarf eintritt, kostenintensive und gesundheitsgefährdende Dauermedikationen nötig werden und vieles mehr.

Sozialrechtlich hat in Deutschland jede/r Krankenversicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn diese ein Leiden verringern oder eine Verschlimmerung verhindern kann. Die Initiative Phoenix fordert deshalb, die Ergänzung der Psychotherapie-Richtlinie um einen Behandlungsrahmen für komplexe Traumafolgestörungen, damit Kostenträger die Möglichkeit haben, diesem Anspruch angemessen gerecht zu werden. Wenn der Gemeinsame Bundesausschusses die Psychotherapie-Richtlinie um einen Behandlungsrahmen für komplexe Traumafolgestörungen ergänzt, ist das eine gute Gelegenheit, endlich etwas an der Versorgungsrealität Betroffener zu verbessern.

Zeichnen Sie unsere Petition im Internet: https://www.change.org/p/bedarfsgerechte-psychotherapie

Kontakt:
Initiative Phoenix – Bundesnetzwerk für angemessene Psychotherapie e.V.
c/o Johanna Sommer
PF 2334
37013 Göttingen
E-Mail: initiative-phoenix@gmx.de