mit ÄrztInnen reden

Himmel Noch immer gehen wir fleißig zur Zahnärztin und lassen uns das Dresden ‘45 in unserem Mund kernsanieren.
Ich bewundere die Ärztin für ihr handwerkliches Geschick und die Geschwindigkeit mit der sie so präzise arbeiten kann. Ihre Assistentinnen sind alle nett.

Manchmal schaffen wir es auch kurz zu reden.
Dann wirds schwierig.

Ich glaube, sie hält mich für einen Menschen der “empfindlich” ist. Schublade: “rohes Ei”. Ob ich nun dahinein gehöre oder nicht, stelle ich jetzt mal dekorativ in eine nicht so ferne Ecke, denn obwohl Fingerspitzengefühl sehr wichtig für mich ist, ist es nicht, worum es mir geht, wenn ich mit meiner Zahnärztin, oder auch meinem Augenarzt oder anderen MedizinerInnen über mich spreche.

Mir fallen nicht viele Gelegenheiten ein, die so viele subtile Trigger neben dem offensichtlichen Machtgefälle von BehandlerIn- PatientIn, in sich tragen. Es ist schwierig sie sofort als solche wahrzunehmen, es ist schwierig sie zu benennen und selbst, wenn das geklappt hat, heißt das noch lange nicht, dass meine BehandlerInnen auch wissen, was das bedeutet und welcher Umgang damit für mich hilfreich ist.

Ich bleibe mal bei meiner Zahnärztin, die mich nach der letzten Behandlung fragte, was denn ein “Flashback” ist. Wie sie sich das vorstellen kann.
Bei mir machte die Frage drei Wellen:
1) Woa geil- sie fragt nach.
2) Woa scheiße- sie fragt nach.
3) Wo fange ich denn jetzt an?

Das Gute an Medizinstudien ist das Grundstudium. Wenn ich von Hippocampus und Amygdala rede, wird neben “Pferdeparade” und “Star Wars Prinzessin” sicherlich auch “Gehirn” als Assoziationselement von irgendwo aufploppen. Manchmal liegt das Studium aber auch sehr weit zurück, dann versuche ich es mit “allgemeiner Stressphysiologie”.
Ich erklärte ihr, dass mich manchmal Gefühle, die mit früheren traumatischen Erlebnissen zusammenhängen so sehr überrollen, dass ich nicht mehr so genau weiß, ob sie in aktuellen Umständen begründet sind, oder früheren, weil ich diese Erfahrungen noch nicht integriert habe. In solchen Momenten reagiert mein Körper wie damals, nämlich hochgradig gestresst, was sie als Behandlerin wissen muss.

Ich sagte ihr, dass mich der ganze Besuch bei ihr grundsätzlich schon stresst und in einen Alarmzustand versetzt, der entweder in “Ich nehme alles und jede noch so winzige Mikrobenregung um Faktor 100 deutlicher wahr- habe einen hohen Blutdruck, eine niedrige Schmerztoleranz und geistige Leere” oder in “Ich fühle nichts, ich habe nichts, ich bin das Nichts aus Nichts gemacht” kippt.
In der Interaktion nach Außen- nämlich mit ihr- ist das relevant, denn sie kann mir schon zu Beginn helfen diesen Stress zu regulieren, so dass wenigstens mein Kopf wieder mit mindestens dem Grund meines Kommens gefüllt ist.

Meine Zahnärztin und ich werfen uns dazu Schnackphrasen, die belanglos aber herzlich sind, zu.
Das ist für mich und mein Innenleben ein gutes Signal für “Jupp- hier ist- bis auf die Trigger, die mich an Altes erinnern werden, was ich aber schon weiß und entsprechend reagiere- alles tutti.” Wo gewitzelt wird und Lächeln unwillkürlich ist, da ist in der Regel auch alles tutti. (Neue Lebensweisheit- das hatten wir kurz nach dem Gewaltausstieg so noch nicht etabliert!)

Es ist auch relevant für sie, um mein Verhalten und meine Empfindlichkeitsschwankungen einzusortieren.
Für andere BehandlerInnen ist es ebenfalls relevant zu wissen, dass meine Stressverarbeitung nicht so funktioniert, wie bei Menschen ohne komplexe Traumatisierung in der Biographie.
So schwanken diverse Werte, die an der Adrenalin und Cortisolausschüttung hängen und beeinflussen so die Beurteilung des eine Diagnostik versuchenden Menschen. So ist der mentale Status nicht stabil und so schwankt auch die Absorption von Medikamenten und damit wiederum die Wirkweise auf dem gesamten Spektrum der erwünschten, der unerwünschten und der “habichnochnievongehört”- Wirkungen.

Eigentlich sehe ich mich als Patientin nicht in der Position, meine BehandlerInnen darüber aufklären zu müssen, was relevant für ihre Diagnosefindung bzw. den Weg dahin ist. Ja, eigentlich finde ich es ein Unding, dass MedizinerInnen von ihren PatientInnen an die Funktionsweise des Gesamtorganismus (mit individueller Biographie und Lebensweise) erinnert werden müssen und diesen Kontext nicht von Haus aus klar haben. Mal abgesehen davon, dass die meisten* PatientInnen das selbst nicht einmal wissen.

Meiner Zahnärztin bin ich in der Hinsicht auch fast ein bisschen böse, denn eigentlich hat sie alles Wichtige in meiner Akte stehen, wie ich neulich feststellen konnte.
Als wir zu ihr kamen, wohnten wir in einer Schutzeinrichtung für weibliche Jugendliche. Es ist eine Pseudoepilepsie vermerkt. In den 10 Jahren, die wir uns kennen, hat sie mein Körpergewicht von niedrig auf hoch, auf mittel auf hoch, auf niedrig auf mittel schwanken gesehen, in Zeiträumen, bei denen sogar die WeightWatcherfraktion die Kinnlade wieder einsammeln geht. Da steht, dass immer eine Nervbetäubung passieren muss.
Ich bin da schon so oft “plötzlich” in Tränen ausgebrochen, konnte nicht sprechen und bin völlig “weggebeamt” da in der Praxis herumgetaumelt, konnte Beschwerden nicht linear formulieren und habe kein konstantes Bissprofil… und trotzdem kam ihr wohl nie der Gedanke, dass das Elend in meinem Mund eventuell vielleicht etwas mit einer chronischen Essstörung … ganz dezent vielleicht eventuell rein theoretisch begründet in einem Trauma zu tun haben könnte.

“Nunja, sie ist ja auch Zahnärztin und nicht Psychologin”, könnte nun argumentiert werden. Doch das ist in meinen Augen ein Trugschluss, denn die Psychologie sagt ja nichts weiter als: “Da gibt es eine Essstörung- begründet in traumatischen Erfahrungen, die es zu verarbeiten gilt, um die Schädigung von Körper und Seele als Folge zu beenden.”, meine Zahnärztin arbeitet sich gerade genauso an der Reparatur diverser Schäden ab, wie meine Psychotherapeutin und – so ich denn endlich mal die Chuzpe dazu habe, mir eine zu suchen- meine Hausärztin.

“Wer Schäden repariert, der weiß woher sie kommen”- alte HandwerkerInnenweisheit

Als Patientin kläre ich meine BehandlerInnen aus einem gewissen Antrieb des Selbstschutzes oder auch der Selbstfürsorge auf, wenn diese sich willig zeigen, mit mir eine Ebene zu halten, die sich um mein Wohlbefinden und mein Heil-werd-en dreht. Sitze ich vor jemanden, dem es um Definitionsmacht oder auch nur um viel Geld für wenig Aufwand auf meinem Rücken geht, bleibe ich zur Akutversorgung und suche mir jemand anderen für die Weiter- und/oder Nachsorge.

Komme ich zu einem Arzt oder einer Ärztin, bin ich schon unter Stress, weil ich mich erklären, klar bis durchsichtig machen muss, was für mein Gehirn soviel bedeutet wie “Achtung Gefahr- du bist existenziell bedroht”. Es sind die Fragen:
Wer sind sie?
Was haben sie?
Was wollen sie von mir?

die in der Übersetzung für mich bedeuten:
Ins Schwimmen kommen
Rutschen
Abstürzen

Die Art Gewalt, die ich erfuhr, war keine Naturgewalt oder etwas das einfach so halt passiert ist.
Die Folgen von zwischenmenschlicher Gewalt sind spezifisch und für jede Sparte “BehandlerIn” relevant.
Mein Ich-gefühl ist diffus bis nicht existent.
Mein Körpergefühl schwankt massiv.
Mein Umgang mit sowohl subjektiv als auch objektiv wahrgenommener Autorität schwankt zwischen absoluter Unterwerfung (von “mach alles, was du willst” bis “du brauchst gar nichts für mich wertloses Ding machen”) und genauso absoluter Abwertung (von “ach du hast doch keine Ahnung!” bis “Nu komm ma- gib mir mal besser den Rezeptblock”).

Als sinnig hat sich für mich herausgestellt, meinen BehandlerInnen im Voraus zu sagen, dass ich massive Gewalterfahrungen mit Menschen gemacht habe (genauso ausgedrückt) und entsprechend gestresst, vielleicht auch ängstlich bin, wenn ich bei ihnen in der Praxis ankomme. Dass ich eventuell nicht so klare Angaben machen kann, wie sie gebraucht werden und, dass ich mehr Zeit in Anspruch nehmen muss, als die 10 Minuten Durchlaufzeit, die sie eventuell gewohnt sind, um diesen Pegel runter zu regulieren. Ich mache ihnen klar, dass ich das kann bzw. gelernt habe; dass ich sagen kann, wenn ich etwas von Ihnen brauche, das mir dabei hilft. Dies hat sich bis jetzt als positiv herausgestellt, um nicht in die “einmal Opfer- immer Opfer” Schublade hineinzufallen und als total inkompetent vor der eigenen Lebensrealität zu gelten.

Für viele (Viele) klingt das nach “Raum einnehmen”, “sich wichtig machen”, “sich etwas (heraus)nehmen”, “schwer/umständlich sein” und oft kommt die Frage nach der Berechtigung dessen auf.
Eigentlich brauchen ÄrztInnen die PatientInnen, denn ohne wären sie nur Menschen mit sehr teuren Zetteln in der Tasche.
Wir PatientInnen spüren unsere Berechtigung für einem respektvollen und positiven Ich- zentralen Umgang nicht immer sofort, weil wir ja in der Regel in Not zu ÄrztInnen kommen. Ein Zustand, der als solcher für Gewaltüberlebende schnell zum Ablauf alter Reaktionen führt und auch allgemein als etwas gilt, in dem Anstand oder Etikette nicht den gleichen Rang haben, wie normalerweise. Not ist eben nicht die Norm.
So ist es wichtig, sich ganz genau alle Fakten einer aktuellen Not heranzuholen, die nicht an den Menschen gebunden ist. “Menschen sind nicht allmächtig, auch wenn sich das gerade so anfühlt/ sich dieser Mensch so verhält, als sei das so.”, sage ich mir dann immer. (klingt simpel- macht aber trotzdem mächtig “Ping”, wenn man sich das in dem Moment von Kopf zu Herz zu Seelenfitzel weiterreicht, während man da im Behandlungszimmer sitzt).
Es ist wichtig zu wissen, ob es sich nach sterben anfühlt, weil es ein Sterben ist oder, weil eine Erkrankung, die vorbei gehen wird, dieses auslöst.

Ja, es ist ein Akt von “Raum einnehmen” und “umständlich sein” und ja, auch “sich wichtig machen” und das ist völlig okay so.
Ich weiß, dass ich mehr Raum einnehme, wenn meine BehandlerInnen mich als Patientin durch Exitus verlieren, weil ihre Behandlung relevante Faktoren meiner Anamnese nicht berücksichtigte. Ich weiß, dass die Umstände, die ich anderen für 20 Minuten in einem Arbeitsalltag bereite, die Folgen der Umstände sind, unter denen ich 21 Jahre zu leben gezwungen war. Und ich weiß, dass meine Behandlung nicht wichtiger oder weniger wichtig werden darf, im Vergleich zu den anderen PatientInnen, die mein Arzt/ meine Ärztin betreut. Mein Bemühen um eine gute, respektvolle Zusammenarbeit gehört in den Bereich PatientInnenpflichten, denen ich zustimme, sobald ich anerkenne, dass ich mich mit jemandem umgebe, der Pflichten als praktische/r MedizinerIn (oder allgemeiner: BehandlerIn) nachkommen muss.

Meine Zahnärztin und ich sind nun also auf dem Level von: “Ach- es gibt sogar einen Namen für dein Zittern und Starren und nichts sagen können? Spannend- erzähl mal!”.
Nach 10 Jahren kommt das irgendwie spät und ganz streng betrachten will ich auch gar nicht erst, dass sie mich fragt was das ist, anstatt sich selbst um eine Fortbildung zu kümmern. Ich weiß nicht einmal, ob es so gelagerte Fortbildungen für ZahnmedizinerInnen gibt. Aber gut.
Ich kann sie gut leiden, sie “mag mich gerne leiden” und also suche ich ein bisschen Infomaterial zusammen, das sie weiterbringt und letztlich mir die Behandlung meiner Zahnruinen weniger stressauslösend macht.

Hätte ja auch was, nicht jedes mal schon am Tag vorher gegen Angstwellen anzukämpfen, kurz vorm Termin keine Drogen nehmen zu müssen und den Rest des Behandlungstages nicht in die Tonne treten zu müssen.
Genauso, wie es für sie sicher etwas hat, wenn sie Frau Rosenblatt nicht mehr ganz so arg, wie ein rohes Ei durch die Behandlung balancieren muss.


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