und plötzlich ist sie “eine von uns”

Ich fange lieber gar nicht erst an zu überlegen, ob ich es anziehe oder das Leben einfach so eine Arschsau ist. Sowas wird noch früh genug meine ersten grauen Haare produzieren…

Gerade habe ich mit einer Bekannten von mir telefoniert.
Phu… ich rechne inzwischen mit vielen Themen, die sich so ergeben wenn man miteinander spricht und ich rechne- gerade wenn es “nur” Bekannte sind, die mich anrufen auch damit, dass es durchaus mal triggernde Gespräche geben kann. Aber mit so einem Gespräch hätte ich- gerade mit dieser so stolzen Frau!- nie und nimmer gerechnet.
Ich kenne sie als sehr bodenständig, souverän…mutig, lebenfroh und grundsätzlich positiv.
Und dann hatte ich diese Frau am Telefon und sie sagte mir, dass sie nicht mehr weiß, wer sie ist, wo sie steht, was sie macht, was sie will. Dass sie sich tot fühlt. Dass sie ihre Kinder angeschriehen hat. Dass ihr Vater gestorben ist.
Dass sie von ihm missbraucht wurde und ihr die Erinnerungen hochgekrochen kommen. Dass sie zwischen Flashbacks und Panikattacken, Wutausbrüchen und Weinkrämpfen hin- und hergeworfen wird.

Ich bin wie vor den Kopf geschlagen! In dem Gespräch jetzt schlossen wir natürlich unsere eigenen Schotten, um der Frau eine Hand reichen zu können. Hörten zu, fragten ein bisschen wieviel Raum für Unterstützung da ist, versuchten Scham zu nehmen und Worte zu geben, rieten sich an den Frauennotruf, Wildwasser und Co zu wenden… und merken doch wie wenig es ist. Sie wohnt nicht mehr hier in der Stadt, der Kontakt ist ein ganz loser, was mir ganz deutlich zeigt, wie dramatisch ihre innere Lage sein muss. Ich meine- wie einsam und verlassen muss man sich fühlen, wenn man sich bei seiner ehemaligen Hundesitterin ausweint?!
Nun sitzt sie hoffentlich in der Beratungsstelle, zu der wir sie geschickt haben, bei jemandem, der ihr ganz direkt Hilfen zukommen lässt.

Und ich? Und wir?
Wir sitzen hier und sind zum ersten Mal damit konfrontiert, dass es das ganz echt gibt. Dass jemand ein völlig normales Leben führt und doch eine tiefschwarze Wolke in seinem Leben hat, die erst dann mit dem Gewitter loslegt, als die Gefahr vorbei ist.
Wir wissen, dass Dissoziation das kann. Logisch. In der Theorie. Und ohne ein Gesicht dazu!

Ich nehme innere Kommentare wahr wie: “Boa wie unfair! Jetzt hatte sie 45 Jahre Ruhe und konnte sich etwas aufbauen und nun kracht alles ein” oder auch: “Voll krass- das jetzt bitte mal im MRT angucken”; “Guck, was Erinnerung für ein Vampir ist: von der Frau mitten im Leben, ist sie jetzt zumindest emotional, nur noch ein billiger Abklatsch”…

Wir sind Gewalt von klein auf gewöhnt gewesen und es gab nie ein so “ruckartigen” Anfang und ein so klares Ende. Wir wurden wie ein Frosch im Wasser Stufe für Stufe weich und stellenweise tot gekocht. Wir haben von ganz unten angefangen uns etwas aufzubauen, was wir irgendwann mal “Leben” nennen wollen.
Diese Frau hatte einen brutalen Anfang mit 8 und ein Ende mit 12. Und dann… ein Leben, welches sich wie ein Haus, dessen Grundmauern das Pflaster auf dieser Wunde festtackerten, ausmachte und nun, durch den Tod des Täters komplett in sich zusammenfällt.
Nun kann Verarbeitung passieren. Die Gefahr ist vorbei. Er wird ihr nie wieder etwas tun können. Die Psyche hat sich selbst das Pflaster runtergerissen- und das Leben und die Selbstsicherheit- die gesamte Integrität der Frau gleich noch mit. Sie hat keine Ahnung was ihr Gehirn für Wunder vollbracht hat, um sie zu schützen. Sie kann nicht wissen, wieviel Kraft sie hat und zumindest jetzt im Moment fliegt ihr Geist in alle möglichen Richtungen.

Diese Schleife: “Ich weiß gar nicht wo ich stehe- was mache ich hier eigentlich” und das Gefühl tot zu sein- willenlos, kraftlos, saftlos, um im nächsten Moment sofort unter der Decke zu kleben, weil das Adrenalin wie Napalm durch die Adern schießt… Himmel- wie genau ich das selbst kenne!
Diese Schlaflosigkeit, die allgemeine Gereiztheit… dieses allgemeine Gefühl von einem zum zerreißen gespannten Drahtseil, das aber von jetzt auf gleich auch wieder erschlaffen kann und einen nur noch weinen lässt- obwohl man nicht mal genau weiß wieso.
Bilder gegen die man nichts tun kann, Filme die einem vor den Augen ablaufen, Körperempfindungen und allgemeines Erinnern…
Das ist die fiese Fratze der postraumatischen Belastungsreaktion.

Neulich noch sagte ich jemandem wie unendlich dankbar ich bin, dass wir diese akute Hochphase hinter uns haben. Nun erlebe ich es an jemandem von dem ich ganz selbstverständlich ausging, niemals damit in Berührung zu kommen.
Sie war ja eine von “den Anderen”- denen, die auf der anderen Seite der Gewaltkluft stehen.
Und plötzlich ist sie “Eine von uns”- denen man die Hand zum Zeichen der Verbundenheit reicht.


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