Behinderungsmerkmal “mehrfachdiskriminiert”

Eine umfassende Reform der gesetzlichen Regelungen um die Teilhabeleistungen für Menschen mit Behinderungen soll es geben und das Ergebnis soll “Bundesteilhabegesetz” heißen.
Verschiedene Punkte der Reformpläne wurden vorgestern in der Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales hinterfragt. Dabei zeichnete sich ab, dass über die Wege zur Reform des § 9 SGB IX [die Vorschrift, die bis heute ausreichend sicherstellen soll, dass Menschen hinsichtlich ihrem Wunsch- und Wahlrecht zur Teilhabe entsprechend ihren Bedürfnissen Unterstützung erhalten] keineswegs nur Einigkeit herrscht. Auf der Webseite des Bundestags wurde aber auch festgestellt: „Einigkeit herrschte jedoch darin, das Wunsch- und Wahlrecht der Menschen mit Behinderungen zu stärken, die Beratungsangebote und die Durchlässigkeit der Werkstätten für Behinderte zu verbessern.“

Bisher werden nicht alle Personen mit Behinderungen gleichgestellt, was sie in ihrem Recht auf Einforderung von Leistungen zur Teilhabe  einschränkt.
So wurde von der Universität Kassel das Bundesgleichstellungsgesetz (kurz BGG) evaluiert, die zu dem Ergebnis kam, dass nicht alle Gruppen der Menschen mit Behinderungen berücksichtigt wurde.
Waltraud Wolff (SPD) führte an, dass Menschen mit “schlechten Kenntnissen der deutschen Sprache”, hörgeschädigte Menschen, Frauen mit Behinderungen, aber auch Menschen mit “geistigen und Lernbehinderungen” betroffen seien und richtete die Frage an Antje Welke von der Bundesvereinigung “Lebenshilfe”, was nötig sei, um diesen Menschen ausreichend Berücksichtigung zu geben.

Diese antwortete darauf, dass die Etablierung leichter Sprache, die Abgrenzung “hörgeschädigter” Menschen von sogenannten gehörlosen Menschen als eigenständige Gruppe, so wie die Flexibilisierung von Verwaltungsabläufen und die Möglichkeiten zu alternativen Kommunikationswegen für Menschen mit sogenannten “seelischen Behinderungen” eingebettet werden müsse. Welke führte aus, dass es für Frauen mit Behinderungen, wie auch für “Menschen mit Migrationshintergrund”, wegen des Umstandes der Mehrfachdiskriminierung eine eigene Vorschrift geben müsse.

Es ist mir, als Frau*, die mit einer Behinderung lebt,  ein gutes Zeichen, wenn nach 10 Jahren eher fruchtlosen Bemühungen für die Gleichstellung (und damit implizit die Teilhabe) von Frauen mit Behinderungen, diese im BGG eigens erscheinen sollen, denn bekannt ist ja auch: Wer oder was nicht in irgendeinem Gesetz oder einer Vorschrift zu einem Gesetz benannt wird, existiert nicht als eigenständiges Problem bzw. eigenständige Personen/Betroffenengruppe bzw.  als Rechtsgegenstand, was zur Folge hat, das weder Schutz noch Strafe noch Regulierung allgemein für/an/mit/aufgrund von eben diesem Rechtgegenstand verbindlich festgeschrieben sind.

Allerdings hat sich in meinen Augen auch die Politik ™ damit kein gutes Zeugnis ausgestellt, denn was dieser Vorschlag auch sagt ist ja: “Mehrfachdiskriminierte Personen, die mit wie auch immer gelagerten Behinderungen leben müssen, benötigen einen gesetzlich regulierten Anspruch zur Gleichstellung (und damit eben auch zum Recht auf Teilhabe am Leben) in der Bundesrepublik Deutschland, weil sie ihn sonst nicht erhalten”.

Und dies steht neben dem Spannungsfeld einerseits niemandes Wunsch- und Wahlrecht beschneiden zu wollen, andererseits aber bereits jetzt, mit der sogar gesetzlich festgeschriebenen Beschneidung durch die Kostenträger eben jener Teilhabeleistungen, noch immer nicht gewährleistet ist, dass Menschen, egal mit welcher Behinderung sie leben, auch an jedem Standort in Deutschland entsprechend ihren Rechten auch erhalten, was sie wünschen und wählen.  So wurde in der Anhörung die Öffnung des Wunsch- und Wahlrechtes von Menschen Behinderung letztlich (und nach meinem Verständnis der Sachlage) aus Kostengründen bzw. Gründen lokaler Infrastrukturen abgelehnt, was für mich persönlich nicht hinnehmbar ist.

Denn apropos Kosten und Finanzierungen: Personen, die wie die Anwesende Nancy Poser, die als einzige offensichtlich konkret betroffene Person unter den Sachverständigen sprach und dieses offen bedauerte, auf eine Assistenz angewiesen sind, die ihnen helfen, können weder mehr als 2600€ als Schonvermögen ansparen, noch davon ausgehen, das ihre EhepartnerInnen* von ihren Finanzen unberührt bleiben.
Gerade die Wortmeldung Posers erschien mir als Mensch mit nie mehr als Hartz 4 auf dem Konto als unfassbar bitterer Ausblick auch in die Leben anderer Menschen mit Behinderungen. Sie ist Richterin am Landgericht und hat kaum mehr auf dem Konto als andere in einem Monat verdienen. Weil sie mit einer Muskelatrophie lebt. Weil sie damit geboren wurde.
Gut, sie hat ein Studium geschafft, hat einen Job gefunden und steht im Berufsleben – das ist alles andere als eine Selbstverständlichkeit, wenn man mit einem so großem Unterstützungsbedarf zur Interaktion und Anpassung an die bestehende Umgebung(snorm) lebt, doch am Ende unterscheiden sich ihre sowohl finanziell als auch die daran gebundenen anderen Möglichkeiten kaum von denen, die ich habe mit meinen 10 Jahren Hartz – weil keine angemessene Möglichkeit zur Berufsausbildung für Menschen mit seelischer Behinderung – 4.

Auch das wurde thematisiert. 18% aller im Jobcenter landenden Menschen mit Behinderungen, werden in Werkstätten eingegliedert, die oftmals gar nicht passend konzipiert sind. So sind inzwischen etwa 30% der Menschen, die in Werkstätten arbeiten, Personen, die mit “seelischen Behinderungen” leben. Tendenz steigend und das nicht zuletzt auch, weil viele Menschen erst durch krankmachende Arbeitsbedingungen auf dem sogenannten ersten Arbeitsmarkt zu chronisch Kranken und damit ebenfalls schwerbehinderten Menschen gemacht werden.

Als schön zu hören, erlebte ich den Einwurf, dass das Recht auf Teilhabe nicht allein durch das Schaffen von Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt für Menschen, die mit Behinderungen leben erfüllt werde. So wurde angeführt, dass der übliche Lebensrhythmus von verschiedenen Tätigkeiten geprägt sei (was für mich implizierte, dass auch zum Beispiel die Sorgearbeit von schwerbehinderten Frauen oder der “2 Stunden die Woche”- Job von Senioren mit Behinderungen, wie die Überlebensarbeit für akut unter der ihre Behinderung definierende Krankheit leidenden Personen gesehen wurde) und immer auch mit sozialer Teilhabe am Leben einher gehen müsse und ergo auch entsprechenden Leistungen zu ermöglichen seien.

Alles in allem bleibt: der Weg zu einem Gesetz, das umfassend und ohne weitere Ausschlüsse und Diskriminierungen zu produzieren, Menschen, die genau davon in ihrer Lebensqualität und ihren Entfaltungsmöglichkeiten zum Teil massiv eingeschränkt werden, stärken und sichern soll, ist steinig.

Das Video zur Anhörung ist hier zu finden.
Eine schriftliche Stellungnahme der teilnehmenden Personen wurde angefertigt und ist hier zu finden.

und macht das Teilhabegesetz, dass meine Behinderung sichtbar wird?

klitzeschnecke 2017 soll es dann in Kraft treten: das Teilhabegesetz, welches Menschen mit Behinderungen zu ihrem Recht auf Teilhabe am gesellschaftlichen Leben kommen lassen soll.

Ich mache mir seit einiger Zeit Gedanken darüber, wie eigentlich abstoßend es ist, dass die Gesellschaft an deren Rand ich vor mich hinlebe, in unserer Zeit noch immer daran arbeiten muss, Menschen nicht auszuschließen.
Dass ich mir noch immer anhören muss, ich solle mich nicht selbst am Rand ebenjener Gesellschaft verorten.
Dass Menschen mit Hilfebedarf, Hilfe erhalten, aber letztlich auf einer anderen Achse in unter Umständen Hilfe bedürftiger Position gehalten werden.
Dass Menschen durch die
menschenverachtende Praxis von Hilfegewährung zu schwerbehinderten Menschen gemacht werden- dieses aber in der Regel weder wissen, noch Fürsprache erhalten.

Ich lese Berichte über Teilhabe, Behinderungen und Inklusion und fühle mich ausgegrenzt, weil meine Art der Behinderung nie benannt, geschweige denn problematisiert wird.
Immer wieder gibt es diesen Umgang mit dem Thema der Inklusion, der seinen Fokus auf körperliche und/ oder geistige Defizite, die mittels spezieller Assistenz, bestimmter Raumumbauten und technischem Equipment “ausgeglichen” werden, hat.
Es wird über Inklusion gesprochen, doch agiert, als spräche man über Integration und erklärt so – auch ganz ohne Worte – wieso Menschen mit psychisch bedingten Behinderungen niemals in solchen Berichten auftauchen oder gar gehört werden, wenn es um Konzepte für Teilhabe und Zukunft für alle Menschen geht.

Ich komme mir mit meinen Unzulänglichkeiten so oft wie der Sondermüll unter “den Behinderten ™” vor, weil es für mich weder Seelenprothesen noch gesellschaftlich anerkannte Arbeitsumgebungen gibt.
In meinem Fall reicht es einfach nicht, das Klo zu vergrößern, Haltegriffe anzubringen oder den PC umzurüsten.
Um mir zu helfen braucht es, was der Begriff “Humanität” meint und genau das ist ein Problem.

Psychisch begründete Behinderungen werden immer wieder individualisiert und so auf einer Ebene betrachtet, die die Gesellschaft ™ von der Aufgabe das Grundrecht aller Menschen auf Hilfen und Gleichberechtigung zugänglich zu machen, enthebt.
Immer wieder begegne ich Sprüchen wie “Depression? Ja hatte ich auch mal- ich hab Urlaub gemacht und dann gings wieder. Depressionen haben ja alle irgendwann mal- hast du das gewusst- ist total normal so ne Depression” oder “Traumafolgestörung? Noch nie von gehört- aber ich kann mir vorstellen, dass dein Leben nach dem Trauma, nie wieder sein wird wie vorher. Da muss man sich durchbeißen und du schaffst das auch- du bist so ne starke Persönlichkeit!”.
Wenn ich solche Gespräche führe, blinkt in meinem Kopf ein Leuchtschild, dessen Schrift ich manchmal gerne durch meine Stirn hindurch leuchten lassen würde, einfach, weil ich zu beschäftigt bin, darüber nachzudenken, ob es sich nun lohnt diesen Menschen über seinen Ableismus und seine Ignoranz aufzuklären, um mein Missfallen laut zu äußern.

Ich erlebe es als großen Mangel, dass Menschen mit psychisch bedingten Beeinträchtigungen keine FürsprecherInnen haben, weil Individualismus und das dazugehörige Stigma noch immer so massiv um sich greift.
Für mich begänne gesellschaftliche Teilhabe an genau diesem Punkt: Teilhabe am öffentlichen Diskurs um Inklusion

Meine Kämpfe um Autonomie und Lebensqualität sind so eng mit der Gesellschaft ™ verbunden, dass eine Wortmeldung immer wieder mehr als symbolische Rampeneinweihung, Blindenschriftkurse für alle oder Werkstättenaufbaufinanzierungen zur Folge haben muss.
Oh weia.
Dann müsste neu über die Krankenkasse als Bürokratie um Menschenleben gedacht werden. Medizinische und auch therapeutische Ethik müsste ihre Themenfelder auf allgemeine Zugänglichkeit erweitern. Wir würden plötzlich über marktwirtschaftliche Barrieren sprechen, die sich allein aus bereits bestehenden Diskriminierungen entspannen und immer wieder neu entwickeln.

Wir würden tatsächlich darüber sprechen, dass Geld einen abstoßend menschenverachtenden Gradmesser in der Frage nach lebenswertem Leben darstellt.
Ja, wir müssten uns der Frage nach lebenswertem Leben stellen.

In der derzeit öffentlichen Debatte um Inklusion von Menschen mit Behinderungen gibt es diese Haltung von “Nein, nein- Menschen mit Down-Syndrom sind nicht wertlos- sie können noch arbeiten! Und schau mal hier: dieser Mensch im Rollstuhl kann ebenfalls noch super arbeiten, wenn man nur diese und jene Barriere wegnimmt!”
Es geht um (Weiter) Ver _ Wert_ ung, Leistung – diesen Traum von “Wenn du nur willst- wenn du dich nur anstrengst- wenn du nur arbeitest und irgendetwas aus dir machst- dann bist du jemand und deine Existenz hat einen Zweck. So wirst du zur Stütze unserer Gesellschaft und ergo völlig inkludiert.”.

Wie unsere Gesellschaft derzeit mit genau der Frage nach dem Wert des Lebens umgeht und welche Preise sie für die Nichtbeantwortung zu zahlen bereit ist, ist aktuell sowohl in der noch immer krassen Situation der Hebammen, wie in der letzten Planung des GBA in Bezug auf die Psychotherapierichtlinie zu erkennen.

Es geht darum das Minimum zu investieren und das Maximum herauszuholen. Wer dem nicht entsprechen kann, fällt raus und braucht ein Gesetz um noch – nun seien wir doch ehrlich- mindestens im rein kostenverursachendkonsumierendem Teil der Gesellschaft ™ existieren und dies als “Teilhabe” bezeichnen zu dürfen.

Meine gesellschaftliche Teilhabe begänne mit Sichtbarkeit, Entstigmatisierung, dem Ende der Pathologisierung, Schutz vor Gewalt, aller Hilfegewährleistung und der Anerkennung (und Wahrung) meiner Würde in Kontexten der Hilfen.
Das ist eine ziemlich lange Liste, die ich in weiten Teilen auch mit allen Menschen gleich bereits jetzt teile.

Das ist ziemlich peinlich für ein Land, das bereits 2007 die Behindertenrechtskonvention unterzeichnet hat und seit 2009 verpflichtet ist, ihr nachzukommen.