vom Ringen und Singen

Ich weiß nicht, welcher Sommer das war. Aber es war ein heißer Sommer und meine Geschwister waren noch klein. Ich war noch klein.
An diesen Sommer zu denken ist seltsam, weil ich merke, wie sehr ich mich als Erwachsene einordne. Selbst in dieser Erinnerung. Selbst während ich weiß, dass wir, ich, damals keine 10 Jahre alt gewesen sein werde_n.

Wir waren weggefahren und das war ein Ding. Wir sind nicht oft in den Urlaub gefahren. Oder doch? Ich weiß nicht.
Jedenfalls – das Gekeuche. Das Husten. Das abendliche Brummen des PariBoy am Küchentisch der Ferienwohnung. Mein Geschwist, das mit einem Asthma kämpfte, dessen beängstigende Wucht wir selbst im Moment jeden Tag spüren und aus der Aufnahme des letzten Podcast herausschnitten, weil es uns an diesen Urlaub erinnerte.
An das Genörgel doch endlich mal aufzuhören mit dem Gehuste und Gekeuche.

Ich weiß nicht, ob ich mir das einbilde, oder ob das wirklich passiert ist, aber da war eine Anspannung und immer hatte sie etwas mit Angst zu tun. Ich nahm Anspannungen auf, die sich auf die tatsächliche Atemnot bezog. Aber auch die dicke Luft, an der mein Geschwist sich abzuhusten versuchte und in die hinein ich mich dissoziierte. Ganz bewusst und gezielt. Mit dem Gedanken, dass ich verschwinde, weil ich es nicht aushalte. “IchhaltedasnichtausIchhaltedasnichtausIchhaltedasnichtaus…” um dann plötzlich an Inseln des Schönen zu stranden und mich zu fragen, was denn nicht mit mir stimmt, dass ich denke, ich könnte irgendetwas nicht aushalten. Es war doch alles gut! Der See, in dem wir baden gingen. Der Wanderweg, den wir mit unseren gut gelaunten Eltern entlang gingen. Dieses Bayern, das so klang und aussah, wie wir es aus dem Fernsehen kannten.

In einer Reportage zu Kindesmisshandlung war ein Fall erwähnt worden, in dem ein kleiner Junge von einem Elternteil getötet worden war, nachdem dieses sein Gehuste und Gekeuche nach eigener Aussage nicht mehr ausgehalten hatte. Das Kind hatte eine Lungenerkrankung gehabt. Mich berührte die Reaktion der Polizistin in dem Film, denn sie hatte einen Begriff davon, wie wenig es den Eltern um das Kind gegangen war, sondern um sich selbst.

Das macht es mir heute so viel leichter meine eigene Ungeduld, die Impulse mich zu verletzen, die Stimmen in mir, die mich anherrschen, endlich mit dem Gekeuche aufzuhören, zu regulieren, weil ich erkenne, dass es Reflexe sind. Dominante Handlungsreflexe, die sich vor die erarbeiteten, später selbst eingeübten und daher noch etwas weniger starken, Impulse um Selbstfürsorge und Selbstversorgung schieben und tatsächlich nur die Logik haben aufzutauchen, wenn es dieses Husten und Keuchen gibt. Da gibt es keinen tieferen Sinn, als die Dominanz um der Dominanz willen, auch wenn überhaupt keine Machtdynamik wirkt, sondern körperliche Prozesse, denen egal ist, wer gerade das Sagen hat.

Während vorgestern Nacht ein Gewitter am Himmel entlang robbte, hatte sich die Luft in unserer Dachgeschosswohnung zu einer Mischung aus Pollen und Sporen in feuchtwarmer Luft vermengt, die sich nicht bewegen konnte, weil kaum Wind ging. Ich hatte mir kalte Tücher auf den Oberkörper gelegt, mich in Positionen gesetzt, die den Brustkorb erweitern, dem Geschmack des Salbutamol im Mund nachgeschmeckt und angefangen zu weinen, weil ich dem Gequengel in meinem Kopf nichts weiter entgegensetzen konnte als, dass ich nichts dafür kann. Dass ich huste und keuche, so seltsam schleimig ausatme, weil ich an Schleim vorbei zu atmen versuche. Weil ich nach Luft, um Kontrolle über mich selbst und gegen Flashbacks anringe.

Mir fällt auf, wie unsinnig es ist. Und war. Dieser Anspruch aufzuhören, als würde man es tun, um jemanden zu ärgern. Als würde man nur handeln und sein, um auf andere zu wirken.
Da ist der  Gedanke darum, was das eigentlich für ein Anspruch ist zu glauben, man sei automatisch das Universum eines anderen Menschen, nur weil man mit ihm im gleichen Zimmer sitzt. Nur weil man auch da ist.

Ich weiß, dass das etwas ist, das verbreitet ist. Diese Annahme gibt es bei vielen Menschen und ich weiß, dass wir das oft vergessen. Gerade, weil wir meist bei uns und im Universum dessen, was wir wahrnehmen, kreisen. Das ist nicht absichtlich. Das ist keine Entscheidung gegen Menschen oder Miteinander, es ist einfach irgendwie so und war auch schon immer so.
Aber es kann verletzen und das kann gefährlich werden. Gerade wenn Menschen es gewohnt sind zum Zentrum oder Teil des Universums anderer Menschen zu werden, ohne je hinterfragen zu müssen, warum das eigentlich so ist. Es kann wie eine Entscheidung gedacht werden. Es ist möglich, uns als desinteressiert oder absichtlich ignorant oder abwertend damit wahrzunehmen. Dann ist der Schritt zu glauben, jemand tut, was si_er tut, nur um eine Machtgeste zu machen, nur noch ein kleiner.
“Hör mal, wie ich dich nerven kann – hust hust – Hör mal, wie ich dich in den Wahnsinn treiben kann, ohne dich je angesprochen zu haben – keuch keuch – Hör mal, wie ich dir deinen Raum ungemütlich machen kann – röchel röchel – Hör mal, wie dominant mein Einfluss auf diesen gemeinsamen Raum ist.” – obwohl man selbst nur da sitzt und Erstickungsängste zu bekämpfen hat. Obwohl man nur da ist und hustet, röchelt und keucht.

Während ich versuchte in die untere Lunge zu atmen, dachte ich an die Aufgabe im Musikunterricht eine Zeichnung davon anzufertigen, wie sich der Bauch verändert, wenn man ein- und ausatmet. Dachte an diese kleine Insel des Schönen.
An Singen mit anderen Menschen im Treppenhaus der Schule. Einfach so. Weils schön war. Damals.

Ich begann mit Summen und glitt ins Singen. Und dachte, wie gut es ist, das zu können. Immernoch und wieder.
Wie cool das ist, sich neben das Genörgel und Gemecker, ein gemeinsames Lachen und Genießen stellen zu können. Wie cool, dass auch sowas geht.
Immernoch und obwohl und trotz alle dem und alle dem.

Atem.Not

Gestern war einer dieser Tage, an denen sich die Luft zu einer feucht warmen Masse verdichtet und über Stunden versucht ein Gewitter zu werden.
Und gestern war der Tag, an dem wir den ersten schlimmeren Asthmaanfall seit Jahren hatten.

Wir sind nicht besonders kompetent mit diesem Teil unseres Heuschnupfens. Hatten jahrelang weder so heftige Symptome wie dieses Jahr, noch solche Probleme mit der Atmung, dass wir mehr als ein Spray und ruhiges, auf Entspannung orientiertes Ein- und Ausatmen brauchten.

Wir hatten uns gestern entschieden unsere übliche Fahrradstrecke zu fahren. Immerhin wollen wir bald zu unserer Radtour ans Meer aufbrechen und da wird das Wetter auch nicht immer toll und angenehm sein.
Nach der Hälfte der Strecke kommt eine lange Steigung – und mit jedem Meter weiter rauf kam weniger Luft, dafür aber mehr Schleim aus dem Oberkörper heraus. Ich stieg ab, nahm die Arme über den Kopf und wusste nicht, was ich machen soll. Außer warten, Kinderinnens verpacken, atmen, das Spray benutzen und Wasser nachschütten, um besser husten zu können.

Mir kam das ehrlich gesagt ziemlich wenig vor, denn so richtig wieder gut wurde es nicht. Wurde es auch über Stunden nicht.

Nach einer Viertelstunde hatte ich nicht mehr das Gefühl gegen Schleim anzuatmen und konnte auch (langsamer und achtsamer als vorher) wieder aufs Fahrrad steigen, aber das untergründige Gefühl von Rastlosigkeit, ängstlicher Unruhe, (Luft)Not, ein flirrendes Zittern unter der Haut, Hustenreiz und eine seltsame Spannung im Brustkorb selbst, blieben bis zum späten Abend bestehen.

Es gewitterte dann irgendwann auch endlich und die Luft wurde kühler, aber erleichtert hat es uns die Atmung nicht.

Atemtechniken sind für uns ein wesentlicher Bestandteil der Selbstregulierung im Alltag. Es gibt so viele Dinge, die uns ängstigen, erschrecken und auseinanderfallen lassen, das wir uns auf den eigenen Atem als sicher immer verfügbares Werkzeug verlassen. Mit jedem tiefen Einatmen begleiten wir die Luft in den Körper hinein und verwenden verschiedene Bilder, um uns zu sichern und in Raum und Zeit zu orientieren. Mit jedem langen Ausatmen lassen wir Anspannungen und Schmerzen ablösen und bringen Erinnerungen und Not auf Distanz.
Diesen Umgang als nicht so sicher anwendbar zu wissen, bringt uns dann doch ziemlich aus der Fassung.

Gestern recherchierte ich nach Tipps von anderen Asthmatiker_innen, wie sie mit ihren Schwierigkeiten umgehen.
Die guten Ergebnisse dieser Recherche waren zu merken, dass wir nicht viel mehr als das Wenige, was wir getan haben, hätten tun können – die schlechten Ergebnisse waren, dass man allgemein nicht viel mehr tun kann, als das, was wir getan haben.

Eine andere Reflektion war: wir brauchen im Moment unheimlich viel Beruhigung und Versicherung von außen – verstehen aber beruhigend gemeint Gesagtes von anderen Menschen als Aufforderung als beunruhigend Wahrgenommenes nicht weiter als beunruhigend wahrzunehmen.
Wieder stehen sich Intension des anderen Menschen und Inhalt der Worte für uns als unüberwindbar widersprüchlich gegenüber und wirken damit – ja, was auch sonst: beunruhigend, ängstigend, verwirrend, verunsichernd auf uns.

Geholfen hat es letztlich, dass wir uns sehr früh ins Bett gelegt haben – in der Position, die als den Brustkorb dehnend auf dieser Webseite gezeigt wird – und über die Betrachtung der kleinen aufsteigenden Blasen in unserem Schlüsselanhänger einzuschlafen.

Nächste Woche haben wir einen Termin bei unserer Hausärztin.