mit Stein zur Zahnärztin

P1010475Ich war gerade hier in dieser Stadt gelandet, da lernte ich meine Zahnärztin kennen.
Eine der ersten Fragen von ihr war, obs denn nicht wahnsinnig weh täte.
Fast 3 Jahre konnte ich das immer verneinen und ließ sie ohne Betäubungen an und in meinem Kiefer herummachen.

Bis ich ihr dann einmal halb vom Stuhl springen musste, weil ich etwas spürte. Und wie!
Warum auch immer griff die Dissoziation von Schmerz plötzlich nicht mehr und sie durfte mir fortan jedes Mal eine ihrer „zärtlichen Betäubungen“ setzen. Sie sagt wirklich „zärtliche Betäubungen“ und das ist auch richtig gesagt. Ich habe den Einstich noch nie gespürt.

Mein Zahnstatus ist unterirdisch. Das weiß ich genauso, wie sie.
Ich habe kein Zahnarztbonusheft und auch nicht die Ernährungs- und Zahnreinigungsweise, die zu Zahngesundheit beitragen könnte. Niemand kann erwarten mehr Zahn als Loch im Mund zu haben, wenn mehr als 13 Jahre lang Essstörungen, Fremdkörperaversionen und Armut herrschen.

Lange kam ich mir in der Zahnarztpraxis wie eine Patientin letzter Klasse vor, weil ich sogar für kleinste Zuzahlungen um Raten bitten musste. Meine Zahnärztin verwendet kein Amalgam und das finde ich gut.
Mein Geldbeutel hingegen ächzt schwer auf- vor allem, weil nicht nur eine Füllung gebraucht wird, sondern bereits seit Jahren mehrere.
Ich komme zu ihr, wenn ich Schmerzen oder Geld habe. Vorsorge und sonstiger Schnickschnack ist fern ab.

Mir gefällt es bei ihr eigentlich ganz gut.
Dort arbeiten nur Frauen und es angenehm kühl, was mir hilft nicht ins Dissoziieren zu rutschen, wenn sie etwas Schwieriges macht. Außerdem hat sie Kunst mit Donald Duck in den Räumen und seit einigen Jahren eine Hipsterbrille auf der Nase.

Allerdings hat sie einen Liegestuhl und macht manchmal doch Dinge, die weh tun oder so gruselig sind, dass ich schon mal vorsorglich Schmerzen spüre.

Alles das verbindet sie mit Geschwindigkeit und einer Art wenig Worte zu verschwenden. Wenn sie spricht, muss ich keine Füllwörter oder Wiederholungen herausfiltern und wenn sie Untersuchungen macht, macht sie nur die Nötigsten. Einmal Karies dauert nur wenige Minuten und die meiste Zeit davon beansprucht die Betäubung.

Heute war ich wegen meiner vor Monaten verlorenen Wurzelfüllung und Druck im Zahn daneben da.
Wir haben ein reiches Jahr 2013 und ich konnte ihr das auch sagen. Sie freute sich für mich und meine Müdigkeit trat noch mehr in den Hintergrund.
Es machte mir nicht mehr viel aus zu hören, dass der Kurs nun lautet „Wurzelbehandlung und neue Füllungen in beiden Zähnen“. Aber das kurze Ziepen dazu hatte gereicht, um mich aus meiner Imaginationsübung zu reißen und eine andere Bildabfolge vor Augen zu haben.

„Sich einkriegen“ ist das Eine.
„Sich überhaupt erst mal zu kriegen“ (es sind flatternde Rosenblätter von denen ich spreche) eine Andere.

Ich machte ein Zeichen und sie stoppte. Ich bat um etwas zum Festhalten und sie bot ihre Hand an.
Eines dieser komischen Spucktücher hätte ich auch genommen.
Ihre Menschenhand…
Die fasse ich nicht einfach so an.
Ob sie dann einfach meine genommen hatte oder nicht, weiß ich nicht mehr. Ich war dabei mich zu entschuldigen und zu versuchen mein Innenleben und meine Atmung wieder unter Kontrolle zu bringen, als ich bemerkte, dass ich den Handschuh um ihre Hand spürte.

Meine Zahnärztin ist klein und präzise. Sie wirkt technisch und sachlich.
So deplatziert mein Fastwegdriften wirken kann, so seltsam wirkte es auf mich, dass sie plötzlich so Sachen sagte wie: „Ist ja jetzt vorbei.“ und mich in meine Sicherungsketten aus: „ich bin groß, ich bin stark, ich kann das, ich will das, ich mach das jetzt“ brachte.
Es war dann auch schnell vorbei. Aber, ob das jetzt meinen wundertollen Reorierentierungskünsten lag, oder daran, dass sie mich damit total verwirrt hat, weiß ich nicht.

In den nächsten Wochen werden wir uns öfter sehen.
Vielleicht schaffen wir das Ziel von vor 10 Jahren ja doch irgendwann mal noch: „einmal alle Karies weg und dann ein Bonusheft anfangen“.

Zum Festhalten nehme ich aber in Zukunft doch lieber wieder meinem Stein mit, den ich heute morgen vergessen hatte.

vom Essen und Reden

Rein oder raus
oder liegen lassen?

Reinstopfen oder rauskotzen.
Schweigen oder sprechen.
Oder es lassen wie es ist?

Die Erfahrungen mit „es liegen lassen“ gleichen den Erfahrungen beim Backen der Challah zum Shabbat.
Den Hefeteig stehen zu lassen ist wichtig- genauso wichtig ist es aber, die Schüssel nicht zu vergessen. Sonst gibt es am Ende mehr Luft als Brot.

Und dann steht da wieder die Frage: rein oder raus? Egal, ob sie gut geworden ist oder nicht.
Essen oder raus aus sich halten?
Essen und wieder rausbringen?
Nicht essen und alles stehen lassen? Vor dem Tisch stehen, in die Kerzen gucken und sich fragen: „Was mache ich hier eigentlich?“

Vielleicht ist es ein Muster der Essstörung, das mir auffällt.
Vielleicht habe ich etwas zu lange liegen gelassen und jetzt mehr Luft als Masse im Kopf.

Mir fällt nicht ein, was ich hätte rauslassen können oder in mich hineingefressen habe.
Nur, dass die Gedanken wieder da sind, die ich als so vertrauten Nebenschauplatz erkenne.

Der und der Knochen- den sieht man kaum noch.
Dieses und jenes Lebensmittel hat diese und jene Eigenschaften.
Ich muss…

Ich kenne Essbrechphasen sehr genau. Wenn ich mich ausgekotzt habe, dann auf der körperlichen, wie seelischen Ebene. Ich dachte nicht: „Raus mit dem Essen“ sondern: „Raus damit- es soll weg weg weg“.
Raus mit diesem sperrig klebrig brockigen DAS DA. Umhüllt von Nahrung und nicht näher erkennbar.

Manchmal entpuppte es sich als Gefühl. Oder als Erinnerung.
Immer als ein Klumpen Ungesagtes.

419944_web_R_by_Günter Havlena_pixelio.deWenn ich nichts aß; nichts in mich einbrachte, so brachte ich in der Regel auch andere Dinge nicht in mich ein. Vor allem keine Selbsterkenntnis. Selbst- Bewusstsein hing wie die Waggons an einer Holzlok, gekoppelt an ausschließlich die Gefühle von Hunger und dem Schwinden auf allen Ebenen.
Das ist ein Ein-Weg-Zug. Eingleisig. Mit Hochgeschwindigkeit.
Keine Zeit Worte aneinanderzureihen- kein Platz, um irgendetwas Sagenswertes zu äußern.

Wenn ich mich vollstopfte, nahmen sich die Lebensmittel wie eine Dämmschicht aus. Eine Isolierung um einen Vulkan vor dem Ausbruch. Irgendwann weiß man nicht mehr, was da genau eigentlich ausbrechen könnte. Aber, dass es unbedingt nötig ist zu dämmen, erschien immer wieder in grell blinkender Leuchtschrift.
Vielleicht hatte man irgendwann etwas runtergeschluckt statt es auszusprechspucken, das dann verweste, zu einem Gift wurde, das durch die ersten Dämmschichten zu neutralisieren versucht wurde und dann bloß immer weiter in Schach gehalten werden wollte.

Vielleicht ist die Lautsprache deshalb immer wieder so eine blöde Klippe.
In meinem Mund ist ja auch dauernd irgendwas los. Ein rein- oder rausrasender, mal voll mal gar nicht beladener D-Zug, der Schäden anrichtet und ganz eigentlich von vornherein einem Konstruktionsfehler der Gleisverläufe unterworfen ist.
Vermutlich gibt es deshalb auch immer so ein Verkehrschaos zwischen Gedanken und Worten, Sprachen, Dialekten, Heute und Früher. Anscheinend ist der Bahnhof an dieser Stelle mein persönliches Mainz: alle krank und der Rest im Urlaub am Dissosee.

Und nun?
Ich weiß nicht mal wo der Dissosee liegt- gibts da überhaupt Telefon?
Ich könnte natürlich auch den D-Zug auf ein Abstellgleis stellen. Stünde aber trotzdem noch vor dem alten Problem: rein oder raus- oder abgestellt lassen, und Verwesung oder Luft statt Masse in Kauf nehmen.

Manchmal hilft es wenn ich weine. Aber das braucht ein bestimmtes Weinen.
Nicht so diese Rotzwasservariante, bei der man eher Gefahr läuft zu ersticken und eigentlich nur aufhört, weil man noch müder ist als vorher.
Ich brauche dann mehr so die Laufenlassvariante, bei der sich der Heulrotz in bequemer Ausschnaubposition sammelt und mit einem abschließenden Befreiungströten in ein Taschentuch befördert werden kann, um dann mit Schwung in den Müll gepfeffert zu werden.
So wie eine Art Hurrikan, der alle Bahnhöfe zum Neuaufbau zwingt.

Blöd nur, dass ich gerade nicht weinen kann, weil ich nicht wüsste wieso.

was meine Essstörung mit meiner Freiheit zu tun hat

Ich stand mit zwei Hosen übereinander und Steinen im BH auf einer Klinikwaage und wusste, sie würde eine Zahl anzeigen, die auf einem Aufnahmebogen vermerkt würde. Meine Ärztin würde eine Scheibe aus ihrem Schreibtisch nehmen, ein bisschen hin und her schieben und einen BMI von 18,5 in meine Akte schreiben.

Mindestanforderung an den BMI in der Klinik also erfüllt.
Man würde es im Blick behalten, doch von weitere Wiegeaktionen absehen. Hatte ich doch angegeben genügend zu essen, um das Gewicht mindestens zu halten.

In meinem Kämmerlein wusste ich, dass ich log und wusste auch, dass sie davon ausging, ich sei fixiert auf Zahlen, wie sie. Mein Aussehen und den Körper als manipulierbares Objekt sehen und hätte Kalorientabellen und Nährwerte in meinem Kopf, die ich mir vornähme, sobald es um meine Ernährung ginge.

Ph. Pustekuchen.
Nach damals 7 Jahren Gewichtsachterbahn rauf und runter, war ich von den Zahlen weg. „Anxiety“ und ich waren aufeinander eingespielt und lebten in einer Dynamik miteinander, die ausschließlich reaktiv war (und ist).
Ich wohne allein, esse, hungere, kotze allein.
Ich koche nur, wenn ich einen Job habe und mir frische Lebensmittel durchgängig leisten kann. Ich gebe kein Geld für Zeitschriften aus, auf deren Titel Diäten und neuste Kleiderkollektionen angepriesen werden. Ich suche keine Geschäfte auf, in denen riesige Plakate von normschönen Menschen über den Umkleidekabinen hängen. Nicht nur, weil ich mich dann schlecht fühle, sondern weil ich mir diese Sachen noch nie leisten konnte. Ich habe mit dem Sport im Verein aufgehört, doch nicht weil ich keinen ausufernden Ehrgeiz oder Auftrittskostüme in großen Größen mehr riskieren will, wie damals, als alles anfing, sondern weil es schlicht zu teuer ist.

Als ich damals in die Klinik ging, hatte ich die Möglichkeit zu sagen, dass ich hungrig bin, ohne die Reaktion „Ja, dann essen sie mal was…“ zu kassieren, wie ich es von anderen Außenstehenden erfuhr.
Was für eine Wohltat!
Wir wurden gefragt, was uns satt machen könnte.
Ich habe den Zettel immer noch auf den ein Innen schrieb: Freiheit

Wir sprachen also über Freiheit und Autonomie. Angstfreiheit als Privileg und unsere Möglichkeiten diese für uns zu erlangen.
„Anxiety“ ist Angst und Angst ist etwas, dass uns dazu verleitet, uns ein Gefängnis zu bauen und uns darin sicher zu fühlen. Darin geht es nicht um Normen und Werte, um Anpassung ans Außen oder dergleichen. Uns geht es darinnen einzig darum die Angst nicht zu spüren. Wer keine Angst hat, fühlt sich in der Regel, als hätte er Einfluss und Kontrolle über gewisse Dinge, dabei ist alles was beeinflussbar darin ist, der Grad der Wahrnehmung seiner Angst.
Ich esse und stoße damit an meine Gefängnistür- „Autsch- Waaaa!“
Ich esse nicht und schrumpfe immer weiter von den Stäben um mich herum weg- „Aaaaah- Frieden…“
Ich esse ganz viel und quelle an den Gitterstäben vorbei- „Arghgrmbl- ein stetiger Dauerschmerz, vielleicht wird er irgendwie wegdissoziiert…“

Wir waren damals noch massiv in Gewalt verwickelt und auf keiner Ebene autonom- obwohl wir allein lebten und allein alle unsere Kämpfe zu führen hatten. Behörden bestimmten über uns, die Täter bestimmten über uns. Unser Alltagsleben vermittelte uns durchgängig Abhängig- und Minderwertigkeit. Der freiste Akt war die Nahrungsaufnahme und ausgerechnet den haben wir uns verformt zu etwas, dass uns unter Umständen töten kann.

Wir hatten kein Sozialleben, dass uns mehr als ein „Ich HelferIn hier- Du die Durchgeknallte/ Abhängige/ Bedürftige/ Benutzbare da.“ zeigte.
Während der Therapie in der Klinik kam in einer Sitzung der Satz, Freiheit sei auch, die Freiheit sich mit Menschen zu umgeben, die nicht so mit uns in Kontakt gingen. Zum Beispiel eben die Freiheit in die Klinik zu gehen und zu erfahren, dass man trotz einer Schräglage der Macht auf Augenhöhe angesprochen wird. Als jemand der frei entscheiden kann und darf.

Über diese Erfahrung wurde es uns möglich unsere erste Gemögte kennenzulernen und einen Kontakt zu gestalten in dem eine Schräglage nur im Inneren existiert und nur dort wirkt.
Wir haben unser erstes Picknick mit dieser Gemögten gemacht. Gelernt, dass man auch frei auf einer Wiese sitzen und Camembert auf eine dicke Schicht Butter legen kann. Seine Bissabdrücke im Brot vergleichen und darüber lachen kann- obwohl „Anxiety“ im Innen tobt.
Wir kamen nach einigen Jahren an den Punkt, an dem wir erfahren konnten, dass diese Angst uns nicht tötet, wenn wir sie toben lassen. Wir spürten deutlich, wann sie anfing und endlich auch, dass sie auch wieder aufhört.

Es änderte sich nichts an dem Gefühl minderwertig und zu viel zu sein, die Angst ging nicht weg. Aber der bohrende Hunger, der da war, egal was wann wie und wie viel Nahrung dem Körper zu geführt wurde, wurde gestillt.

Wir nennen es „Leben essen“ und meinen damit „Freiheit konsumieren“.
Es ist eine freie Entscheidung und eigene Wertung innerhalb unseres Rahmens. Selbst wenn wir mehr Geld hätten als jetzt, würden wir uns zwei Mal überlegen, ob ein Besuch im Espritstore und das Gefühl von Hässlichkeit im Vergleich zu Modelplakaten den Wert der Kleidung, die wir dort erwerben können, unterliegt. Wir würden nachwievor keine „Frauen“zeitschriften kaufen, weil wir den sonstigen Informationsgehalt in anderen Zeitschriften höher bewerten. Und wir würden uns auch trotzdem nicht die Biogemüsekiste nach Hause liefern lassen, weil wir das Gefühl von freier Wahl im Super- oder auch Wochenmarkt einfach höher bewerten.

Dieses Gefühl von Freiheitspraxis ist mit großen Ängsten besetzt, doch sie hat mehr Nährwert als Zahlen und Regulierung der Essstörung selbst. Sie lässt uns leben, im Leben wirken, wachsen und das Privileg des Frei-seins von Machtstrukturen in denen wir von außen behandelt werden, als wären unsere inneren, uns zerstörenden, Wahrheiten auch außen wahr, untermauern und ausbauen.

Den Faktor den Nahrung in unserer Geschichte von je her einnahm, habe ich hier bewusst ausgeklammert. Wer Hunger kennt fürchtet ihn, lernt ihn aber auch anders einzuschätzen und mit ihm umzugehen, als jemand der ihn nicht so erfuhr. Unsere Omama hat uns Kinder nicht aus Liebe mit literweise Kakao abgefüllt, genauso wenig wie Täter uns aus Hass haben hungern lassen. Sie haben an uns etwas kompensiert bzw. befriedigt und benutzt. Sie trugen dazu bei, dass sich Ängste entwickelten, doch lösten nicht die Essstörung als solche aus.

„Anxiety“ war und ist also auch, neben allem anderen, was sie ist, ein Teil unserer Autonomie, die wir früher wie heute haben.
Selbst wenn wir real unfrei sind, können wir uns in ihrem Gefängnis frei fühlen.