letztes Ziehen

Es ist der erste Tag, an dem ich nicht erst um 11 aufwache. Der xte Tag in diesem Jahr, an dem ich aufstehe und sofort im Meer meiner Aufgaben, Vorhaben, Verantwortungen schwimme. Es ist so viel, dass ich eigentlich keinen Jahresrückblick schreiben kann. Eigentlich überhaupt keine freien Stunden für meinen Sims-Haushalt habe. Eigentlich genau so weitermachen sollte wie vor den Feiertagen. Tatsächlich aber merke ich: Wenn ich mich nicht jetzt mal kurz hinsetze und wenigstens etwas davon aufschreibe, dann verfliegt es wie ein Parfüm, das ich für immer vermissen würde.

Anfang des Jahres haben wir eine verstrauchte Ecke des Gartens in ein Beerenbeet umgestaltet. Himbeeren, Johannisbeeren, Stachelbeeren. Davor Dahlien und irgendwelche Blumenzwiebeln, vergessen welche. „No dig“ bewährt sich bei uns. Genug Mulchmaterial aus dem Garten selbst zu generieren, liegt noch in weiter Ferne.

Im Februar hatte mein Auto eine kaputte Starterbatterie. Im März habe ich nach 18, knapp 19 Jahren eine Behandler_in aus meinem Leben verabschiedet und über 40 Erdkröten über die Straße getragen. Im April schrieb ich sieben Texte zum Autism Awareness Month und einen über meine Realität im 15. Jahr nach meinem Ausstieg. Der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine hat mich mit kindlichen Todesängsten konfrontiert und mir bewusst gemacht, was ich nicht bewusst haben wollte und bis heute nicht begreife.

Im Mai war der 20. Jahrestag meiner Flucht Selbstrettung – ich weiß nicht mehr, wie ich es nennen will.
Meine Autismustherapeutin hatte keine Lust Kraft Kapazität mehr für die Arbeit mit mir und ich schrieb meine besten Texte über mein Hilfetrauma und seine Wiederholungen.
Ich sprach zum ersten Mal und gemeinsam auf Englisch zum Thema organisierter Ritueller Gewalt (YouTubelink) und plante mit Paula Rabe das Sommerpicknick für Viele und ihre Angehörigen im Juni. Außerdem dachte ich, dass jemand die Hunde und mich in meinem Auto totfahren würde.

Im Juni haben wir gesommerpicknickt, radgetourt und geurlaubt. Mit einem ersten lustigen Text gewann ich zum ersten Mal den Podetry Slam auf dem Podstock Festival. „Viele Stimmen“ hatte zu dem Zeitpunkt bereits ein Konzept und eine Webseite von mir bekommen.
Katja ist gestorben und fehlt jeden Tag.
Ich fand eine Lektorin und verstand im August, dass doch nicht. War aber nicht schlimm, ich wurde ja sowieso erst im Juli wirklich fertig. Nach zwei Wochen im tiny Einsiedel meiner Freundin in den Wallakutten vorm Teutoburger Wald. Wo ich fast nicht hingefahren wäre, weil es NakNak* schlecht ging. Das Alter, die Gelenke, das Gehör. Alles nicht mehr so toll. Aus dem Sporadisch-mal-dran-denken, dass das Leben mit ihr nicht mit meinem, sondern ihrem Tod endet, wurde ein konkreter Plan um ihr Sterben und den Umgang mit ihrer Leiche.

Im August hatte ich mich an meine neue alte Kurzhaarfrisur gewöhnt und die Kollegin, die mir am wichtigsten ist, in die USA zum Kluge-Dinge-Machen verabschiedet. Bei der Arbeit war es bis dahin unfassbar anstrengend für mich. Wir haben neue Stellen geschaffen, Bewerber*innen gesprochen, Bewerbungen gelesen und das neben dem üblichen Betrieb. Den hatten wir zwar runtergefahren, um alles für alle schaffbar zu gestalten, aber schaffbar war ja nie mein Problem. Nun lernten wir eine neue Kollegin kennen und fuhren den Workload wieder hoch. Ich habe noch nie so viel aus Frust und Überforderung geweint.
In dem Monat hörte ich auch zum letzten Mal von meiner Jobcoachin beim Jobcenter. Vermutlich Burnout. Wie die Coachin vor ihr.
Auch im August: Die erste öffentliche, gemeinschaftlich formulierte Stellungnahme zu einer schlechten Dokumentation mit dem Thema DIS. Fühlte sich gut an für mich. Nicht der Anlass, aber die Verbundenheit. Auch wenn die Antwort vorhersehbar ernüchternd war.

Im September wurde Malte getötet. Ich schrieb „Transfeindlichkeit tötet“ und emanzipierte mich ein Mal mehr von einer transfeindlichen Traumatherapeutin. Ich führte schmerzhaft aufklärende, unfassbar intime Gespräche mit Menschen, die noch nicht wussten, dass Psychotherapie für trans Menschen alles andere als gewalt- und/oder verletzungsfrei sein kann. Erinnerte meine Mitmenschen daran, was sie mir antun, wenn sie mich misgendern und als ihre Freundin oder Partnerin vorstellen. Also – ohne Gender_Gap oder *.
Dann öffneten wir die Anmeldung für die ersten drei Workshops bei „Viele Stimmen“ und widmeten uns all den Menschen, die uns auf unseren neuerlichen Aufruf für die Interviewreihe „Viele Leben“ schrieben. Ich ging durch meine dritte Magenschleimhautentzündung und argwöhnte, ob das vielleicht nicht doch immer noch die erste vom Jahresanfang war.

Meine vierte Coronaimpfung bekam ich im Oktober. Mit dem Impfstoff von Moderna, denn so krasse Menstruationsprobleme wie nach der Impfung von Biontech will ich nie wieder haben. Hat funktioniert, lief gut. Bin trotzdem unfassbar coronamüde-müde geworden. Hatte überfordernde Hassgefühle auf alle, die keine Maske mehr tragen und so den Lockdown für alle chronisch erkrankten und behinderten Menschen verlängern. Ich hörte auf, Nachrichten zu lesen und machte meinen Partner zu meiner persönlichen Nachrichtenagentur.
Ich traf I., die Lektorin für mein Buch. Arsch auf Eimer. Zufall ist einfach unschlagbar.
Ich veröffentlichte den Trailer und die Nullnummer von „Viele Leben“.

Fast alle „Viele Stimmen“-Workshops waren ausgebucht als der erste mit Frieda dann stattfand. Es lief nicht perfekt, für mich selber nicht ein Mal gut, aber beschwert hat sich niemand und darüber war ich froh, denn noch mehr hätte ich in diesem Monat nicht leisten können.
Auch, weil ich in der Therapie gezielt an Traumadingen und mit jugendlichen Innens arbeitete. Im November konnte ich mir eine schwere Decke für die Therapie leisten und veränderte damit viel alles für mich. Der bittersüße Nebeneffekt: Ich begriff noch ein Mal mehr, weshalb mein Buch zu schreiben so wichtig für mich war.
Das könnt ihr euch jetzt übrigens in der Frühjahrsvorschau ansehen. Aber auch auf der Verlagswebseite.
Am 13. veröffentlichte ich die erste Ausgabe von „Viele Leben“ mit dem Titel „multipel“. An dem Wochenende, an dem meine gesamte Netzreichweite flöten ging. Twitters Verkauf wurde bekannt gegeben, fast alle sind rüber zu Mastodon. Die wenigsten haben mich mitgenommen.

Jetzt im Dezember war ich zu einer Gesprächsrunde zu Neurodiversität eingeladen. Das war toll, aber nicht so toll wie ein Baby zu halten und den ersten lektorierten Durchgang meines Buches zu bekommen. Mein Auto hatte eine kaputte Starterbatterie. Ja, schon wieder. Warum weiß niemand.
Meinen „Viele Stimmen“-Workshop haben alle angemeldeten Teilnehmer*innen auch besucht. Es lief nicht so gut wie analog, aber viel besser als befürchtet.
„Viele-Sein“, mein Podcast, der seit 7 Jahren jeden Monat erscheint, sollte eine Gruppenaufnahme zum Jahreswechsel bringen, denn eine Gruppe, das wollen wir, die wir uns dieses Jahr gefunden haben, sein. Nächstes Jahr arbeiten wir weiter daran, es auch zu werden. Bis dahin gibt es dieses Jahr noch eine Episode mit Renée und mir. Ganz klassisch.

Die zweite Ausgabe von „Viele Leben“ ist nicht finanziert. Die Ausgabe ist nur von Unterstützer_innen zugänglich. Für mehr Werbung, besseres Branding meiner Projekte, mehr Netzwerken, mehr mehr mehr … alles, habe ich zu diesem Zeitpunkt im Jahr keine Kraft mehr. In meinem Kiefer brütet seit Monaten eine Entzündung, die nach drei Wochen Antibiose noch immer nicht weg ist und im Januar rausoperiert wird. Mein Magen muckt nach wie vor, wenn er nicht aktiv gehegt und mit Pantoprazol gepflegt wird. Schmerztabletten sind tabu für mich. Mit allen Flashbackrisiken und Traumanebenwirkungen.

2022 war viel. Oft viel zu viel.
Aber geschafft hab ich alles.

3 thoughts on “letztes Ziehen

  1. D accord …2022 war viel. Lassen wir „es“ gehen.

    And in this letting go we“ll make room for new beginnings♡

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