Stellungnahme und Kritik an der ZDF-Sendung „Ich bin Viele“

Dieser Beitrag ist als Bonustrack im Audio-Podcast „Viele-Sein“ erschienen.
Für die bessere Lesbarkeit wurden marginale Änderungen vorgenommen.

9.8.2022

Aus der Sicht weiterer betroffener Menschen mit einer Dissoziativen Identitätsstruktur (DIS)

Der oben genannte Film ist das Porträt einer einzelnen Person mit einer DIS. Als selbst betroffene Personen schauen wir solche Dokumentationen natürlich mit besonderer Neugier an – und auch mit besonderer Hoffnung darauf, das Thema DIS auf achtsame und informative Weise in die Öffentlichkeit gebracht zu sehen. Denn die DIS ist bis heute eine der psychischen Erkrankungen, über die im öffentlichen Bild besonders viele Mythen und Vorurteile existieren. Von der völligen Leugnung der Validität des Störungsbildes an sich, über meist schauerliche Darstellungen in Spielfilmen, bis zu einer gewissen Faszination, die sich in meist emotionalen und unter Umständen voyeuristischen Darstellungen von möglichst vielen Persönlichkeitswechseln ausdrückt. Alle diese Arten von Darstellungen sind für uns Betroffene jedoch stigmatisierend, da sie nur ganz bestimmte Aspekte des Störungsbildes darstellen und damit an der Realität einer großen Gruppe von Betroffenen vollkommen vorbeigehen. In unserem Alltag müssen wir so immer wieder Kämpfe um Glaubwürdigkeit, Anerkennung und Augenhöhe ausfechten, die belastend und unnötig wären, wenn das Störungsbild insgesamt realistischer dargestellt wäre.

Leider hat dieser Film unsere Hoffnungen enttäuscht.

Stattdessen drängt sich uns als Betroffenen der Eindruck auf, dass nach Bildern gesucht wurde, die in den Zuschauer*innen möglichst viele Emotionen wecken sollen. Wenig nachvollziehbar beispielsweise ist die Fokussierung und Kürzung des Materials mit überwiegendem Blick auf den Moment von Persönlichkeitswechseln und eine kindliche Innen-Person, der filmisch eine vorherrschende Rolle in der Alltagsgestaltung eingeräumt wird. Hier werden weder die Komplexität des Störungsbildes noch die bestehenden Kompetenzen der Betroffenen ansatzweise gewürdigt. Im Instagram-Profil der Betroffenen (Sabrinas) sowie auch in den Shownotes in der ZDF-Mediathek wird deutlich, dass ihre erwachsene Kompetenz wesentlich stärker ausgeprägt zu sein scheint. Dass etwa Wechsel unter den erwachsenen Alltags-Innenpersonen weit weniger augenfällig sind, und sie in der Lage ist, trotz der DIS und weiterer, schwerwiegender körperlicher Einschränkungen berufliche Kompetenzen zu entwickeln und auch in einem gewissen Ausmaß professionell zu arbeiten.

Kurz gefasst lässt sich dieser Film paraphrasieren: Menschen mit einer DIS verhalten sich kindlich, erinnern sich nicht daran und benötigen anhaltend eine 24-Stunden-Betreuung. Die möglicherweise auch den Assistenzbedarf mit bedingenden körperlichen Erkrankungen sind in diesem Zusammenhang nicht weiter thematisiert, was neuerlich zu einer unangemessenen Reduktion führt. Wünschenswert wäre eine Darstellung, die insgesamt die innensystemübergreifende Lebenskompetenz der Betroffenen darstellt, insbesondere in einem vergleichsweise gut recherchierten und finanzierten Format, wie es 37° üblicherweise ist.

Als besonders schwierig empfinden wir den Beitrag des professionellen Trauma-Experten Ulrich Sachsse. Seine Erklärung zur Entstehung der Störung – nämlich dass sie auf schwerer Gewalt beruhe, und ein Kind, dem sie geschieht, „sich vormacht“, es geschehe einer anderen Person, und dass auf diese Weise die traumatischen Erfahrungen auf verschiedene Selbstzustände aufgeteilt würden – ist eine fast schon fahrlässig zu nennende, extrem verkürzte Darstellung. Auf diese Weise entsteht ein Eindruck von bewusstem Handeln auf Seiten der Opfer, der die reale Gewalt und Einflussnahme durch die Täter*innen und die Komplexität des gesamten Geschehens völlig ausblendet.

Des Weiteren wird das Thema Gewalt, in seinem gesellschaftlichen Kontext, im gesamten Beitrag nur am Rande erwähnt. Übrig bleibt vorrangig nur eine Fokussierung auf dem Leiden der Betroffenen. Wir sehen es dabei auch nicht als Aufgabe der Protagonistin an, über erlebte Gewalt sprechen zu müssen, aber es fehlt zumindest ein kurzer Hintergrund dazu, und es fehlt vollkommen eine Einordnung in gesellschaftliche Kontexte.

Unklar bleibt bis zuletzt, was das Ziel dieses Beitrages ist. Nicht zu vergessen ist, dass es sich hier um einen Beitrag im öffentlich-rechtlichen Rundfunk mit einer großen Reichweite und einem diversen Pool an Adressat* innen handelt. So dass wenig nachvollziehbar ist, wie ein nur so kleiner Ausschnitt ohne Verweis auf das sehr viel breitere Spektrum und Bild von Menschen mit einer DIS gezeigt wird? Viele Betroffene mit einer DIS sind sehr funktional in ihrem Alltag, arbeiten in Vollzeit, sind in der Lage, funktionierende soziale Beziehungen zu unterhalten, sind zum Teil sehr kreativ. Gleichzeitig ist diese Stabilität – wie auch in dem Beitrag deutlich wurde, denn auch die Sabrinas waren früher in der Lage, zu studieren und als Lehrerin zu arbeiten – keine Selbstverständlichkeit, und es ist für sehr viele Betroffene ein ewiger Kampf, Anerkennung für ihre Einschränkungen und die benötigte Unterstützung in Form von fachkundiger therapeutischer Langzeit-Therapie zu erhalten. Es gibt zu wenige ausgebildete Traumatherapeut* innen mit Kassensitz; wird ein Therapieplatz gefunden, so ist die Finanzierung der benötigten Anzahl an Stunden ein andauernder, belastender Kampf. Über die Dissoziative Identitätsstruktur in all ihren Ausprägungen und in all den Schwierigkeiten, mit denen sowohl hochfunktionale als auch stark unterstützungsbedürftige Betroffene im Alltag wirklich zu kämpfen haben, könnten so viele Aspekte erzählt werden.

Sollte es das Ziel sein, ein breites Publikum mit einer schweren Lebensgeschichte zu unterhalten, „Das Faszinosum Mensch mit DIS“? Wir können uns des Eindrucks nicht erwehren, dass hier mit realem Schrecken und Gewalt „Unterhaltungsfernsehen mit Quote“ gemacht wird, ohne dass eine auch nur ansatzweise angemessene Reflexion dieser ja noch tagtäglich in unserer Gesellschaft stattfindenden Gewalt erfolgt. Dies ist bitter und schier nicht zu fassen, nicht zuletzt vor dem Hintergrund des Bekanntwerdens der Verbrechen in Lügde, Bergisch Gladbach und Münster und der unverändert so immens hohen Dunkelziffer.

Wir als Menschen, die auch Viele sind, distanzieren uns von dieser Form von einseitiger, immer wieder gleicher Berichterstattung zu Lasten der Betroffenen. Auch wenn dieser Beitrag als Porträt eines einzelnen Menschen mit DIS angelegt ist, wurde mit diesem Beitrag (erneut) die Gelegenheit verschenkt, komplexer, tiefgehender und vielfältiger, aber vor allen Dingen auf Augenhöhe mit den Betroffenen über die Dissoziative Identitätsstruktur zu berichten.

Unterzeichner*innen:
Intervisionsgruppe von Menschen mit DIS, die im psychosozialen Bereich berufstätig sind
Hannah C. Rosenblatt
Mey Jenshen
Dina

Nickis Lichtstrahlen Oldenburg e. V.
Anna
Lucia+
Chaossys

Zora_kauZ

Alex Stern

T und Team
BG, Alija & Aufständische
Benita Wiese (Pseudonym)

Kontaktadresse: someofmany@posteo.de
Quelle hier herunterladen

Zum Mitzeichnen bitte deinen Namen/Pseudonym in die Kommentare setzen. Dieser Text wird aktualisiert.


Entdecke mehr von Ein Blog von Vielen

Melde dich für ein Abonnement an, um die neuesten Beiträge per E-Mail zu erhalten.

21 thoughts on “Stellungnahme und Kritik an der ZDF-Sendung „Ich bin Viele“

  1. Ich würde gern mit unterzeichnen bei diesem tollen Text der einfach alles in Worte fasst, was mich beschäftigt hat an der Doku! Danke dafür!

  2. Wir haben das Video auch gesehen und fanden, dass die Lebensrealität von Menschen mit DIS nicht in all ihrer Komplexität dargestellt werden konnte.

    Auch die lebensgeschichtlichen Tatsachen von Menschen, die Viele wurden, wurden lediglich in einem Nebensatz zur Sprache gebracht.

    Was uns, die wir auch Viele sind, zudem verunsichert hat war, dass kindliche Innenpersonen während der Aufnahmen sehr, sehr oft im Vordergrund waren.
    Wir empfanden dabei, dass die Betroffene in ihrer Schutzlosigkeit ausgeliefert wurde…bzw. sich selbst aufgeliefert hat.

  3. Ich war schockiert über die Darstellung der DIS in dieser Doku. Nicht nur spiegelt er in keinster Weise das Leben der meisten Betroffenen, sondern sät auch Zweifel an der eigenen Diagnose. ( Wo man ja sowieso oft genug im Kreislauf des Zweifelns gefangen ist)
    Aufklärung in Sachen dissoziativer Identitätsstruktur tut Not, aber bitte nicht SO
    Gerne würden wir die Stellungnahme und Kritik mit unterzeichnen!

  4. Liebe Hannah und alle anderen die diesen Text veröffentlicht haben. Danke dafür. Wir unterschreiben sehr gerne.
    Nickis

  5. Liebe Hannah,
    auch wir möchten gerne mitzeichnen, als Lucia+
    Ich habe die Darstellung als voyeuristisch und dadurch schamauslösend empfunden. Damit meine ich nicht das, was die Sabrinas von sich gezeigt haben, sondern wie der Fokus gesetzt wurde – auf das Switchen in den jungen Anteil (also etwas, das unseres Erachtens beschützt werden sollte vor so viel Öffentlichkeit), auf extreme Hilflosigkeit und Angewiesensein auf andere in einem extremen Maß. Dass dabei keine Einordnung geschah, weder bzgl. der Lebensrealität von anderen Menschen mit DIS, noch bzgl. der gesellschaftlichen Relevanz vor dem Hintergrund von allgegenwärtigen Gewalterfahrungen – ja, das sehe ich ebenfalls als hochproblematisch.
    Wir sind dankbar für diese differenzierte Stellungnahme und würden uns wünschen, dass auch das ZDF sie anerkennt.
    Viele liebe Grüße
    Lucia

  6. Vielen Dank für diesen Text. Das spiegelt auch unsere Ansicht wider. Wir würden gern mit unterzeichnen. Chaossys

  7. Lieben Dank für die differenzierte Kritik. Wir müssen uns den Beitrag erst noch anschauen…Uns würde die genannte Intervisionsgruppe sehr interessieren für Menschen mit DIS in psychosozialer Tätigkeit. Wir selber haben eine DIS und sind als klinische Neuropsychologin tätig. Wir würden uns mehr Austausch mit Mitbetroffenen, die im psychosozialen Bereich tätig sind, wünschen, Gerade da es bisher aus unserer Erfahrung nicht möglich und ratsam ist, die DIS Diagnose bei (psychologischen Kollegen) zu offenbaren……

  8. Hallo miteinander.

    Hier ist der Beitrag nur vom Hörensagen bekannt, daher danke für diese umfassende, hinter den Beitrag und Aussagen schauende Betrachtung und Erklärung von euch.

    Könnt ihr euch vorstellen, den Blogartikel an den Sender/die Verantwortlichen zusenden?
    Vlt. führt es dazu, dass sich deren Blick etwas öffnet, sie das für die Zukunft berücksichtigen oder sogar zusätzliche Beiträge produzieren, wo genau diese Punkte nochmal aufgenommen, thematisiert und eingeordnet werden?

      1. Hallo nochmal. Ich freue mich zu lesen, dass die Rückmeldung auch dorthin geht.

        Mir ist eben noch etwas eingefallen, da der Beitrag vermutlich auch auf Plattformen wie YouTube bereitgestellt wird: ist es sinnvoll, die Kritik auch dort als Kommentar zu hinterlassen? Ich empfinde es als wichtig, dass die Kritik als solche und vor allem für Rezipienten sichtbar wird, damit der Blick erweitert und von den Darstellungen gelöst wird.

        Sonnige Schreibtischgrüße

        1. Wir haben gar nicht die Kapazitäten, die Kritik so weit zu verbreiten. Aber ich stimme dir zu, es kann helfen, wenn klar wird, dass der Film nicht nur unkritisch rezipiert wurde.

  9. Danke für diesen, wirklich gut formulierten, Blogeintrag.
    Wir würden auch gern mit unterzeichnen 🙂
    TundTeam

  10. Hallo,
    Vielen Dank für dieses gute Statement zu dem Film. Sehr gerne mögen wir uns der Kritik anschließen.
    Bitte unseren Namen anfügen. Benita Wiese (Pseudonym).
    Vielen Dank und liebe Grüße

Comments are closed.