die Zeitreise ~ Teil 11 ~

Wir segelten auf eine Sandstrandküste vor einem kleinen Wäldchen zu und ließen die salzige Luft auf unserer Haut kribbeln.
Ein köstlicher Geruch von Algen, vergehendem Holz und Seewasser ließ mich die Augen schließen, als ich von der Schleiereule geklettert war und meine Füße in den Sand gestellt hatte.

Kurt nahm ihr das Zaumzeug ab und ich streichelte ihre Brust, während ich mich für ihren langen Flug mit uns bedankte. Sie knibbelte, fast als wollte sie antworten, über meinem Kopf und flog in das kleine Wäldchen.  Unser Zeitreiseleiter stakste durch die Sanddünen. Wir betrachteten die nun riesengroß vor uns aus dem Boden ragenden Muschelstückchen und Steine.

“Ich hab vergessen, dass wir nun so winzig sind. Das macht das am-Strand-sein nicht so schön, wie ich mir gedacht hatte. Könnten Sie uns wieder vergrößern bitte?”, fragte ich Kurt und strich mit einer Hand über die Kante einer Miesmuschelschale neben mir. Dieser nickte und hob wieder einmal seine Arme, um in die Luft zu schnipsen und einen Glitzerstaubzauber zu machen.

Mir war ein bisschen schwindelig so schnell war ich wieder zu meiner alten Größe aufgeschossen. Kurt schien es nicht anders zu gehen, denn er schüttelte den Kopf und fixierte einen Punkt vor sich.
Ich schaute aufs Meer hinaus, dessen Horizont eine gerade Schnur zwischen oben und unten legte und die Welt so klar verteilte, wie es nur dort geht.

“Ich frage mich, wann du mir eigentlich sagst, was genau dich dazu bringt, mich als zweifelnde Blogger_in zu sehen.”, sagte ich zu Kurt, der sich auf ein Stück Treibholz gesetzt hatte und in der Landschaft umherschaute. Ich setzte mich neben ihn in den Sand und grub meine Finger in gewohnter Wischelwuschelbewegung neben mir ein. Kurt antwortete: “Nicht “zweifelnde Blogger_in” – “von Selbstzweifeln zerfressene Blogger_in”.”.
Er schaute mich spitzmäulig an und hob die Augenbrauen.

“Sie haben über 1000 Artikel aus der Perspektive eines Menschen mit DIS geschrieben. Ohne äußeren Auftrag. Ohne, dass sie in irgendeiner Form abgesichert sind. Sie arbeiten nicht mit Mediziner_innen oder Psycholog_innen zusammen und pochen immer wieder auf ihre Selbstvertretung., während viele andere, genau das nicht tun oder für unvorstellbar halten.”.
Der kleine Anzugträger stach mit seinem Finger durch die Luft vor meiner Nase und schaute mich sehr direkt an. “Sie haben keine Zweifel, an dem was sie tun – sie haben Zweifel daran, ob sie daran keine Zweifel haben dürfen.”.
Ich fühlte ich ertappt und schämte mich dafür. Ich dachte: „Wie praktisch es ist, am Meer zu sein und wieder normal groß. Ich könnte jetzt aufstehen, von diesem kleinen Scheißer weggehen und einfach für immer hier bleiben.“.

“Sie sollten sitzen bleiben.”, sagte Kurt ruhig und gelassen in meine Gedanken hinein und fuhr fort. “Der Zweifel ist wichtig. Wir Zeitreiseleiter haben nicht den Auftrag, zweifelnde Blogger_innen davon zu überzeugen, dass ihre Zweifel Quatsch sind oder unnötig. Wir sind nur Begleiter in der Rückblende und geben Ihnen die Möglichkeit zu gucken, woher ihre Zweifel kommen, um dann selbst zu entscheiden, wie viel mehr von sich Sie dem Zweifel zu Fressen geben.”.
Das kleine Wesen hob vielsagend eine Augenbraue und schloss seine Ansprache. “Sie werden dieses Konzept der Auseinandersetzung kennen.”.

Ich lachte. “Also sind sie doch so eine Art verkappter Psychoanalytiker.”. Kurt neigte den Kopf hin und her. “Na, ich denke, selbst Ihr Kopfinneres sagt Ihnen gerade, dass jedes Wesen mit dem man kommunizieren kann, auch kann, was ein Psychoanalytiker kann. Von daher …”. Er zuckte gleichmütig mit den Schultern und lächelte.

“Jedenfalls haben Sie Recht mit dem Zweifel darüber gut und richtig finden zu dürfen, was wir hier tun.”, sagte ich und schaute den Wellen und Wogen des Meeres vor mir zu. “Wir merken, dass es uns gut tut zu schreiben und uns, genau so, wie wir es tun auseinanderzusetzen. Wir merken aber auch die Bewertungen dessen von außen. Oft sind es positive Bewertungen – ganz klar.
Aber oft merken wir eben auch Missachtung und nicht wertschätzende Haltung.
Viele Menschen verstehen weder das Konzept “Blog” noch das Konzept “Selbstvertretung” – obwohl genau das die logischste Konsequenz des derzeitigen Anspruches an Menschen, die zu Opfern wurden und Menschen die psychisch belastet sind, ist. Immer wieder heißt es, man solle DAS DA privat lösen. Man solle doch lieber für sich allein damit zurecht kommen und ach am Besten dann Gewehr bei Fuß stehen, wenn irgendein glänzender Heilungsweg für irgendeine Öffentlichkeitsarbeit benötigt wird.
Und wenn das nicht passiert, dann hat man wenigstens unter sich zu bleiben. Gutes Opfer – Böses Opfer mitspielen, sich darum bemühen nie eines von “diesen Opfern” zu zu sein und grundsätzlich überhaupt und hauptsächlich an einer gesellschaftskonformen Leidensperformance zu arbeiten.”.

Ich erinnerte mich an die Tagungen, die wir besucht hatten und an den Zukunftskongress.
Einerseits die Freude da sein zu dürfen und zu merken: “Es wird sich Gedanken gemacht” und “Da sehen Menschen, was es bedeuten kann viele zu sein, bestimmte Gewalt erfahren zu haben bzw. behindert zu sein und bestimmte Ausgrenzungserfahrungen immer wieder machen zu müssen.”.
Und andererseits die Enttäuschung über das Geschäft mit der Inklusion und die noch immer ausbleibende Debatte um Deutungs- und Definitionsmacht von Psychologie und Medizin im Kontext von neuerlichen Gewaltdynamiken, wenn es um Opferhilfen und Versuche des Vermittelns geht.

“Immer wieder ist das, was wir tun “in Wahrheit” nicht gut für uns. Oder richtig. Oder was bilden wir uns eigentlich ein, wie wichtig wir sind, dass wir uns hier hinsetzen und einfach schreiben. Und wie sehr wollen wir eigentlich bemitleidet werden, wenn wir uns hier so zeigen. Oder schlimmer noch: wie verschoben ist eigentlich unsere Selbstwahrnehmung, dass wir nicht merken was wir hier “eigentlich” und “in Wahrheit” machen?”.

Ich hielt inne und schaute Kurt an. “Also falls sie das grad nicht merken: ich zähle hier gerade die Stigmatisierungen auf, die in den letzten Jahren an uns herangetragen wurden und sich alle mehr oder weniger darin begründeten, dass wir selbst auf gar keinen Fall in irgendeiner Form ein “richtiges” oder “wahrhaftes” Urteil über uns selbst fällen können, weil wir ja krank, behindert, verdisst, falsch sozialisiert, eine Frau, eine Feministin, eine linke Randikaloweltverbesserin sind, deren Ohrenrückwände noch grün, weil feucht sind. Oder schlicht: weil wir “in Wahrheit” ein mieses Stück Scheiße sind, das anderen Menschen schaden will, weil wir eine Täterin sind.”.

Ich stand auf und deutete Kurt mitzukommen.
“Lassen Sie uns ein bisschen am Wasser entlang laufen.”.

Das kleine Wesen im Tweedanzug mit Zauberjacke und grüner Haut hüpfte von seinem Platz und kam mit.
“Bis heute ist es selten, dass uns Menschen glauben, wenn wir ihnen sagen, dass wir einen Unterschied machen zwischen einem öffentlichen Auftritt, der sich darum bemüht so viele Menschen wie möglich zu erreichen und einer von der Öffentlichkeit wahrnehmbaren Präsenz, die ist, egal ob es jemanden erreicht oder nicht.”.
Die weißen Schaumkrönchen der Wellen leckten über unsere Schuhe und ich zog sie aus, um noch mehr davon zu fühlen.

“Wir hätten das ganze Programm haben können, wenn wir gewollt hätten und wirklich irgendwie einfach in die Welt rausrufen wollten: “Ich war mal Opfer und jetzt bin ich kaputt und die Welt sollte …”. Dann hätten wir jetzt einen mehrstelligen Kontosaldo, ein Buch von Vielen, einen Kinofilm von Vielen und den Ausverkauf unserer Geschichte, den wir als “Öffentlichkeitsarbeit” vor uns rechtfertigen, wann immer wir zu einer Märtyrerin gemacht werden, die wir weder jetzt sind, noch je waren.”.
Meine Stimme stolperte ein bisschen ungelenk hinter meinen Gedanken her. “Verstehen Sie – unsere Zweifel kommen nicht aus uns allein, sie kommen aus der Diskrepanz zwischen unserer Befriedigung und dem Wohlgefühl uns selbst irgendwo sein lassen zu können wie wir sind und auch unsere Entwicklung zu dokumentieren und dem was aufgrund dessen bzw. dem, was daraus gedeutet wird, an uns herangetragen wird. Aus dem Grund haben wir auch die Kommentare geschlossen.
Oft dachten wir von Kommentaren, da würde von uns erwartet, dass wir bereuen, was wir hier tun, oder dass wir uns dafür schämen oder dass wir auf keinen Fall glauben sollen, man könne uns ernstnehmen, wenn wir “das SO machen” – und das verwirrt mich, weil es bedeutet, wir sollten weder ganz eigene Befriedigung noch alleiniges Wohlgefühl daran haben.
Mal abgesehen davon, dass sie die netten und schönen Wortmeldungen anderer Leser_innen völlig überstrahlt haben, so dass wir ein mögliches Mit-anderen-Menschen-mitfreuen oft gar nicht haben konnten.”.

Der kalte nasse Sand unter meinen Füßen fühlte sich an wie ein weiches Glas. Das Meerwasser wie ein kleiner Schock, der mich mit jeder Welle neu erfasste.

“Haben Sie mal darüber nachgedacht aufzuhören?”, fragte Kurt zwischen zwei Schritten und bückte sich, um einen Stein aufzuheben.
“Wir denken jeden Tag darüber nach.”, antwortete ich und hob ebenfalls einen Stein auf. “Mit jedem neuen Text ist da der Gedanke: “Der könnte genauso gut in einen Ordner geheftet werden. Der braucht keine verunstofflichte Form.”. Und daneben das Wissen: “Würden wir es nicht verunstofflichen, wäre es nach ein paar Tagen oder Wochen verschwunden.”. Ich stellte mich schief und versuchte den Stein über die Oberfläche springen zu lassen.  Er platschte gegen eine Woge und tauchte direkt ab.

“Wir würden die Texte wegschmeißen, wie wir unsere Texte als Kind und Jugendliche weggeschmissen haben, bevor sie von anderen verschwunden gemacht werden können. Und wir würden uns damit unsere Chance auf die Möglichkeit bringen, unser Leben als Einsmensch an einem einzigen Zeitstrahl entlang sortierbar zu empfinden. Irgendwann. Vielleicht.”, ich lächelte ihn schief an, “Falls wir mal so etwas wie ein gemeinsames Empfinden für Zeit, Raum und uns als ein Selbst entwickeln.”.

Ich reckte mich und streckte die Arme in die Luft. Atmete so weit wie meine Lunge ging und hörte die Anderen neben mir und um mich herum seufzen.
“Ich zweifle manchmal daran, wie lange und wem gegenüber wir es schaffen unsere Selbstvertretung hier als gerechtfertigt und okay, und als “auch wir” aufrecht zu erhalten.  Wir sind unser ganzes Leben lang immer wieder irgendwann vor anderen Menschen eingeknickt, wenn es darum ging wie viel wir wie und wo sind oder nicht sind. Und immer wieder haben wir “Kompromisse” gemacht, wo eigentlich Zwang war. ”. Ich hob einen flachen Stein auf und versuchte erneut einen Sprungwurf.
“Das klingt, als würden Sie sich nicht zutrauen, auch außerhalb des Blogs für sich selbst zu stehen und sich selbst vertreten zu können.”, sagte Kurt und schaute mich an.

Ich nickte knapp und schaute meinem Stein nach, der nach drei Sprüngen ohne Platsch in eine Wasserfalte glitt.
“Außerhalb des Blogs können wir uns auch vertreten. Aber sich irgendwo  hinstellen und und es so zu tun, wie es für gut und richtig ist: nämlich in circa fünfhundertausend Worten inklusive aller für uns relevanten Ebenen und Ichs, die mitreden wollen – das funktioniert dort nicht und haben noch keine Wahrheit darüber, warum das so ist.”.  Wieder lenkte ich meinen Blick über die Weite des Meeres und hörte dem Rufen der Möwen zu.

Ich schloss meine Augen und lächelte.
“Vielleicht haben wir aber eine wenn …”, langsam öffnete ich sie wieder und erstarrte, als ich registrierte, dass ich in meinem Bett lag und offenbar gerade aufgewacht war. “… wir die nächsten 1000 Artikel geschrieben haben.”, beendete ich meinen Satz und ließ meine Finger durch eine kleine Lache violetten Glitzerstaubes auf dem Boden gleiten.

// Ende //

die Zeitreise ~ Teil 10 ~

Kurt drückte mir seine Jacke in die Hand. “Hier. Bau mal das Zelt ab – ich mache die Eule bereit für unseren Abflug.”.

Wie zu erwarten stand ich nun also in prächtigster Awkwardness da und überlegte, wie ich anfangen sollte. Mein Blick wanderte über unser Mauschelflauschlager und das durchsichtige Zeltdach. “Einfach anziehen und ein bisschen mit den Armen wedeln”, sagte Kurt mit der Hand in Richtung grüne Stirn, “Entschuldigen Sie bitte – ich vergesse es immer wieder.”.

Ich lautete etwas in seine Richtung, damit er wusste, dass ich ihn gehört hatte und versuchte meinen, im Vergleich zu Kurts, riesigen Oberkörper in der Jacke zu verstauen. Am Ende schob ich meine Hände in die Ärmel und fuchtelte etwas damit herum, während ich mich beherrschte jetzt nicht so etwas wie “Abra Kadabra” zu murmeln.
Sofort ergoss sich eine Ladung violetter Glitzerstaub auf meinen Kopf. Das Zeug kroch mir in die Nasenlöcher, die Ohren, den Mund und kitzelte, wie nur Staub es kann. Ich fuchtelte und fuchtelte. Hustete und prustete bis plötzlich alles vorbei war. Das Zelt war verschwunden, der Staub auch. Kurt hielt die Eule am Zügel und lachte. “Also ich vergebe 5 Geschafftpunkte und 100 für den Comedyfaktor.”. Kichernd nahm er seine Jacke entgegen.

“Meine Güte ey – das muss man auch aber gut üben, wa?”. Ein Jemand schüttelte unser Haar aus dem Gesicht und schaute Kurt bewundernd an. “Nun”, antwortete dieser mit geschürzten Lippen, “dazu gibts die Ausbildung zum Zeitreiseleiter der Klasse 1.”. Er warf die Zügel auf den Rücken der großen Schleiereule und beugte sich wieder vor zur Räuberleiter für uns. “Wollen wir?”.
Wir nickten und kletterten auf den weichen schmalen Eulenrücken. Kurt hopste wiederum schwungvoll vor uns.
Diesmal legte ich meine Arme gleich um ihn herum, als das schöne Tier unter uns begann die Flügel auszubreiten und zum Start aufzuflattern.

“Wo wollen wir hinfliegen?”, fragte unser Zeitreiseleiter erster Klasse über seine Schulter.
“Ans Meer vielleicht?”, gaben wir zurück.
Das kleine Wesen nickte und tippte etwas in die versteckte Zügellasche.

Nachdem wir eine Weile schweigend über Felder, Wiesen und Wälder geglitten waren, fragte Kurt: “Wen haben Sie verloren?”.
Ich hatte mit der Frage gerechnet, doch merkte, dass ich inzwischen keine Antwort mehr darauf hatte und das der Punkt war, der den Verlust so schlimm für uns gemacht hatte. Damals, war es der ultimative Moment des Bewusstseins darum, dass es weder Freunde, noch Geliebte, noch Verbündete waren, die in unserem Leben so viel Anteil hatten, das sie uns verraten und verletzten, missachten und ausliefern konnten.
Freunde, Geliebte, Verbündete tun so etwas nicht. Weder das, was konkret an dem Tag passierte, noch was in den Wochen und Monaten – und wenn wir hart und brutal ehrlich sind, in den über 2 Jahren vorher – passierte und eben auch: nicht passierte.

“Ich glaube, wir müssten weniger sagen: “Wir haben jemanden verloren” und stattdessen mehr ausdrücken: “Wir haben etwas jemandem gegenüber verloren”.”, begann ich mich langsam vortastend, während Kurt sich erneut ein Schleiereulenrückenfedernest zurechtzupfte, um uns besser ansehen zu können. Ich schob meine Hände ein wenig unter die Deckfedern und atmete tief ein.
“Wir haben die Achtung vor jemandem verloren, di_er vielleicht nie welche vor uns hatte.”. Ich legte meinen Kopf zur Seite und kniff die Augen zusammen, um zu prüfen, ob nicht noch mehr Worte zwischen all der Trauer und Bitterkeit waren und fand am Ende nur noch das Knäuel, das wir damals hatten liegen lassen, weil es keinen Sinn hat zu versuchen es zu lösen oder zu etwas weiter zu verarbeiten, weil es uns dazu nicht braucht.

“Was für uns daran bis heute so schlimm ist, ist das Wissen, dass diese Menschen es nicht wissen und selbst, wenn sie es wüssten, es ihnen, wie alles, was wir empfunden haben und bis heute dazu empfinden, scheißegal ist, sie aber bis zum Ende das Gegenteil behaupten würden und hinter Schuldumkehrdynamiken, die alles erdrücken verstecken können, obwohl sie für uns irrelevant sind.”, klaubte ich aus dem Durcheinanderviel heraus. “Verstehen Sie – diese Menschen haben uns über Wochen und Monate hingehalten und gewusst, dass es um existenzielle Probleme ging, die wir nicht halten oder tragen konnten und haben sich professionell verpisst, als wir deshalb suizidal wurden und noch mehr Unterstützung und Versicherung über eine baldige Lösung des Problems gebraucht haben.”.

Ich versuchte R. und K. zu veratmen, deren Ziehen im Zwerchfell mir fast den Atem verschlug und die Sicht auf die Worte versperrte.

R. stieß ihr Gesicht durch meines und schaute Kurt direkt an. “Weißte was das war? Das war, was die beiden immer so gehasst hatten an unseren früheren Betreuer_innen. Worüber die sich immer erhoben haben, wenn wir die x-te dumme Ansage von ner überforderten Sozialpädagogin oder ner hilflosen Therapeutin reingewürgt gekriegt haben. Weißte, so richtig eklig, dass wir immer davor standen und nich mehr wussten: “Ja ham wir nu scheiß Profihelfer oder können nur die beiden uns helfen? Oder is nu jetzt Ende der Fahnenstange und Zeit für uns aufzugeben?”. Aber sie wussten ja, was man machen soll. Sie warn ja die mit dem Blick und den Jobs und dem Studium und so. Sie hatten ja Ahnung, weil wir > 10 Jahre jünger waren und außer Gewalt und Scheiße noch gar nichts gelernt hatten außer, dass alle außer uns es besser wissen, als wir, wann die Scheiße denn wirklich und echt am Dampfen is.”.

Sie warf mit ihren “Wehe du unterbrichst mich jetzt”- Blicken um sich und sprach so schnell wie möglich. “Weißte: das ist Gewalt. Das was sie selber so scheiße finden, aber an uns nich gemerkt haben. Und wir dachten ewig lange, wir würden da Animositäten haben oder halt für normale Menschen verkorkst sein oder so. Und weißte- die machen da jetzt ihren Opferhilferettungskram und finden sich supergeil, weil sie ja den armen Opfern helfen und denen das Leben beibringen und am Ende sind se genau ne sozialgewaltvollen Arschlöcher wie die, auf die sie selber runtersehn.”.

Ich merkte wie K. neben mir weinte und ich erinnerte mich an den letzten Satz, den wir von der Person gelesen hatten. “Wenn was ist, kannst du dich natürlich gerne melden.”, der uns damals wie heute so fassungslos und erschüttert mit dem Umstand ihrer Ignoranz zurücklässt.

Kurt berührte unsere Hände und ließ etwas Glitzerstaub aus seinen Jackenärmeln auf sie rieseln.
“Das war eine Retraumatisierung”, sagte ich langsam, der Wärme und dem feinen Glitzerflauschen auf der Haut nachspürend. “Wir haben in den Wochen danach so viel dissoziiert, dass wir heute nicht mehr genau rekonstruieren können, wie genau wir die gesetzliche Betreuung angegangen sind, die juristischen Beratungen, ob nun Anzeige oder nicht, OEG pro und kontra und wie wir genau damals gebloggt hatten, können wir uns auch nur schemenhaft heranholen.”.

Der Glitzerflausch krabbelte zu uns hinein und umhüllte R. und K.  wie in kleine Hängenester, die sie vor weiterem Erinnern schützten und beruhigten. Ich hörte, wie ihr Atem langsamer wurde und mein Zwerchfell freigab.
Ich streichelte die weichen Federn vor mir und spürte dem Gefühl eine Zeit lang nach.

“Es gab damals so einen diffusen Bruch um die Möglichkeiten Menschen in unserem Leben zu haben und damit auch eine Verschärfung unseres Hangs zur Bildung verschiedener Außenleben.”, sagte ich dem kleinen Wesen vor mir, das seine Hände nun wieder in den Rändern seines Nestsattels liegen hatte.
“Und was genau bedeutet das?”, fragte es und legte nun seinerseits den Kopf schief.
“Wir haben es nicht mehr geschafft, dass wir näher mit Außenmenschen zu tun haben.”. Ich dachte kurz nach und überprüfte, was ich gesagt hatte.  “Also „näher“ im Sinne von “viel Lebenszeit und viele Erlebensqualitäten mit anderen Menschen teilen, die einzig sind”. Irgendwie so.”.

Kurt schaute mich weiter an und ich versuchte es noch einmal. “Jeder Kontakt, den wir danach mit anderen Menschen eingegangen sind, hatte und hat etwas mit den Dingen zu tun, die wir tun. Blog, Podcast, Kunst, soziales Engagement. Niemand im näheren Außen braucht uns, um sich selbst zu erheben. Niemand liebt uns. Niemand begehrt uns. Niemand will sein Leben mit uns teilen. Wir sind die gute Ergänzung verstehen sie? Es ist toll, dass wir da sind – aber ne Wikipedia, ein Radio… kann auch was wir können. Wir sind nicht nötig und das ist irgendwie so das Limit dessen, was wir tragen und halten können.“.

Unser Zeitreiseleiter hatte glasige Augen und ich langsam keine Lust mehr, noch mehr zu erklären. “Wir Rosenblätter – ich Hannah – sind nur entstanden, um solche “Helfergewalten” bzw. ihre Folgen zu ertragen. Und ich glaube, der schmerzliche Moment im Sommer 2014 war der, in dem wir begriffen haben, dass wir es geschafft hatten, uns von Menschen zu lösen, die unseren Körper misshandeln und verkaufen ließen – aber so lange nicht von Helfenden, die uns demütigen und missachten und das als Freundschaft bezeichneten, weil sie uns genau dafür brauchen.”.

Ich atmete mich aufrecht und spürte dem Gegenwind in meinem Gesicht nach.

“Und die anderen Innens bei ihnen?”, fragte Kurt in mein abschließendes Ausatmen hinein, “Sehen die sich auch eher als Ergänzung für Außenmenschen?”.
”Keine Ahnung.”, antwortete ich. “Soweit wie wir das mitbekommen, sind die anderen weitaus wirrer, sozial awkwarder und noch einmal anders inkompatibel als wir. Wir sind an das Leben der letzten 13-14 Jahre gewöhnt und angepasst – die anderen an die 13-14-15-16 Jahre davor. Ich erlebe das nicht so, dass andere Innens als wir andere Menschen überhaupt irgendwie aushalten können ohne nach kurzer Zeit vor lauter Aushalten zu zerbröckeln.”.

Ich zuckte mit den Schultern. “Wir wissen aber zu wenig über die. Merken ab und zu, eine Notwelle von dort oder sehen, wie Einzelne von ihnen versuchen sich im Heute und auch im Außenheute zu orientieren. Aber mehr als die wiederkehrende Erkenntnis, dass wir anders und awkward komisch inkompatibel sind, passiert meines Wissens auch dort nicht.”. Meine Gedanken hingen noch eine Weile in der Luft wie ein leichtes Seidentuch. “Was wir damals auch verloren haben, war die Bereitschaft zu glauben, wir könnten vielleicht doch Freunde, Geliebte, Verbündete, wie man sie in Romanen und anstrengenden Filmen findet, haben. Und trotz aller Akzeptanz der eigenen Unfähigkeiten macht mich das manchmal schon auch traurig. Solche Bereitschaften haben wir uns mal hart erarbeitet.”.

Ich richtete meinen Blick an Kurt vorbei über den Schleiereulenkopf auf die immer regelmäßigere Linie des Horizonts vor uns.

“Was uns der Bruch damals aber geschenkt hat, war der Schritt uns einzugestehen, dass wir ein tatsächlich schwer behinderter Mensch sind, der weniger Hilfe als viel mehr fundamentale Unter_Stützungen braucht und diese einfordern muss, um die Entscheidung zum Immerweiterleben treffen zu können.”.

Am Ende meines Blickes begann es zu funkeln. Ich lächelte und deutete Kurt nach vorn zu sehen.

“Und da ist eine Sturmmöwe…”, seufzte F. selig in mein Herz hinein.

die Zeitreise ~ Teil 9 ~

Mein Blick fiel auf einen Artikel.
Ich stieß mich erneut vom Boden ab und schloss die Augen. Machte mich allein im Zelt unter dem weitblauen Himmel.
Atmete in den Schaukelbogen hinein und hörte dem Rauschen in meinen Ohren zu.

“Kurt?”, fragte ich ins Rund des Zauberzeltes. “Ja?”, tönte seine Stimme leise zurück.
“Im Mai 2014 haben wir jemanden verloren.”.
Unser Zeitreiseleiter schwieg und sein Schweigen fing an mich zu erdrücken. Ich kletterte aus der Hängematte und leerte meine Tasse in einem Zug.

“Weißt du, was ich an deinem Auftauchen nicht verstehe?”. Langsam drehte ich mich zu ihm hin und beugte mein Gesicht so nah an seines, dass ich seine Sommersprossen auf der grünen Nase sah. “Du hast gesagt, dein Auftrag wäre die begleitete Reflektion von zweifelnden Blogger_innen.”. Ich richtete mich wieder auf und wartete auf ein Nicken von ihm, das dann auch prompt kam. “Was denkst du, woran wir zweifeln? Ich meine – eigentlich kommt mir das hier grad eher vor wie ein rührseliges Gelaber, das wir auch hätten in zwei oder drei Monaten machen können.”.

Ich bemerkte eine Verschiebung hinter mir und wusste, dass es auch etwas mit dem Verlust zu tun hatte. Und mit dem Blog. Doch in mir türmten sich der Schmerz und die Wut. Die Ungerechtigkeit und der Flashback der quälenden Gefühle dahinter. Dieses furchtbare Gefühl Menschen an dieser Kluft zu verlieren, weil sie nicht verstehen. Wollen. Können.
Müssen.
Weil sie das Verstehen nicht brauchen.
Und uns auch einfach ins Nichts reden lassen können.

Aber mit Zweifeln hatte das nichts zu tun.

Ich trat an die Schleiereule heran, die uns schon eine Weile aus einem herzrunden Gesicht beobachtete und sich sorgfältig das Federkleid putzte.
“Könnten wir wieder ein bisschen fliegen?”, fragte ich den kleinen Zeitreiseleiter.
Dieser sprang aus seinen Kissen auf und lächelte mich an. “Das ist eine sehr gute Idee. Ein bisschen frische Luft und Distanz in alle Richtungen ist gut bei schweren Themen.”.

die Zeitreise ~ Teil 8 ~

Langsam beruhigten sie sich und nahmen einen weiteren Schluck aus ihren Tassen.

K. scrollte im Beitragsarchiv durch das Jahr 2013. Überflog Beiträge. Griff ab und zu in uns hinein betrachtete etwas, ohne es zu halten.
“Wir haben eine Menge geschrieben.”, stellte sie mit schiefem Lächeln fest. “Ich weiß gar nicht, welche Aspekte eigentlich so “eigentlich wirklich” relevant sind.”. Sie scrollte noch ein bisschen. Prustete auf: “Tshehe ich bin ja froh, wie viele von meinen pauschal weltumfassenden Ausrastungsbeiträgen inzwischen nicht mehr öffentlich zu lesen sind.”. Sie kicherte zwischen zwei roten Ohren hervor und schob die Seite weiter.

Der kleine Zeitreiseleiter hopste von seinem Kissenturm herunter und trat neben sie, um auch auf das Display schauen zu können.
“Sie haben irgendwann aufgehört von den [BÄÄÄMs] zu schreiben.”, stellte er Mitte 2014 fest. “Warum?”.

Meine Überlegungen ließen K. vor meinen Füßen zerbröseln. Eine andere, neben mir, legte ihren Kopf an meinen. “Ich glaube, weil wir reifer wurden und Therapiefortschritte gemacht haben. Und vielleicht auch insgesamt fester in Bezug auf unsere Grenzen wurden.”. Ich überlegte noch ein bisschen und griff nach der Kaffeekanne auf dem Tisch.
Während ich meine Tasse füllte, ging Kurt wieder zurück zu seinem offenbar sehr gemütlichen Kissengebilde und sah mich an.

Ich wickelte mich in eine weiche Decke und setzte mich zurück in die Hängematte, deren sachtes Schwingen meine Gedanken in einen ruhigen und gleichförmigen Strom brachte.

“Wir haben durch #Aufschrei bei Twitter viele neue Follower_innen bekommen. Das Blog wurde von mehr Menschen gelesen. Wir begannen mehr nach außen zu gehen und merkten dabei schnell, dass wir nicht dazu gehören. Beziehungsweise, dass wir nicht sind, wofür wir gehalten werden oder, womit wir benannt werden.”, ich stieß mich ein letztes Mal vom Boden ab und ließ den Körper ganz in die Bewegungen der Matte fallen.

“Ich würde heute sagen, dass wir in den folgenden Monaten viel Definitionsarbeit für uns gemacht haben. Abgrenzungsarbeit in ganz viele Richtungen nach Außen und wenn wir mal die Kraft hatten, haben wir uns überlegt, was anderen helfen könnte. Aber schon damals war uns klar, dass wir keine klassische Öffentlichkeitsarbeit leisten wollen und können, weil uns zu wenig daran liegt für andere Menschen sprechen zu wollen.”, begann ich zu erzählen.
“Aber sie haben sich schon für oder gegen bestimmte Dinge ausgesprochen – warum?”, fragte Kurt und ließ mit einem Fingerschnippen kleine Blasen vor mir aufsteigen, in denen ein paar Beiträge zu sehen waren.

Mein Blick folgte den Blasen und irrte ein wenig umher, als diese auf meine Antwort hin platzten. “Ja”, antwortete ich, “das meinte ich mit ‚Definitionsarbeit‘. Wir haben uns in vielen Artikeln damit auseinandergesetzt, wie wir zu bestimmten Dingen stehen und haben sie ins Blog gestellt, um nachlesbar zu sein. Und in manchen Entscheidungen vielleicht auch nachvollziehbarer.”.
Die Andere neben mir wandte dem kleinen Wesen ihr Gesicht zu. “Verstehen Sie eigentlich was für ein geniales Dings wir da gemacht haben?”.

Kurt hielt mitten im Kauen eines Kekses inne und schüttelte den Kopf.
“Wir haben innere Kommunikation gemacht. In a way:  die öffentlichste Art unserer Zeit ein Selbstgespräch zu führen, um sich kennenzulernen. Und in unserem Fall: “zu bemerken, dass man nicht nur “die Rosenblätter” ist, sondern tatsächlich noch viele andere, die sich als “die … hm hm hm’s” bezeichnen“.”, sprach die Andere, die nun in mein ganzes Vorn vereinnahmte und sich erneut vom Boden abstieß.
Sie angelte im Vorbeischaukeln eine Handvoll Kekse und redete weiter. “Ausgerechnet wir, die es über Zeiten ewig nicht geschafft haben, ein Tagebuch zu führen, oder konsequent mit Listen und der Begegnung der Notizen und Impulse von anderen Innens umzugehen, waren und sind bis heute ultrakonsequent, wenn es darum geht, sich das Schreiben bzw. das Bloggen zu bewahren, weil es sich zu einem ganz eigenen Zentrum der Reflektion entwickelt hat.”.

Kurt knautschte das Gesicht und sie sah ihn fragend an.
“Ich weiß nicht genau, ob ich Sie richtig verstehe.”, sagte er langsam, “Sie müssen verstehen – ich kenne mich mit DIS und alle dem überhaupt nicht aus.”.
Sie nickte und dachte kurz nach. “Hmmm – die dissoziative Identitätsstruktur bedeutet für uns ein fragmentarisches Erleben des Hier und Jetzt, genauso, wie es das bezogen auf ein Früher und ein HätteWürdeWenn bedeutet. Mit so einer Wahrnehmung – ganz allgemein – ist es schwer sich zu positionieren. Egal, worum es geht. Eigene Versorgung, eigene Werte, politisches Weltgeschehen, Lauf der Dinge… G’tt. Nichts hat Bezug zu einem selbst und wenn sich Bezüge – also Assoziationen – auftun, dann ist es etwas, das unkontrolliert, überbordend, zerreißend, ermordend ist, weil alles, was ist, zu allem, was je war, wird und am Ende doch wieder nichts hinterlässt, weil die einzige Art dem zu begegnen die Dissoziation ist.”, sie schaute Kurt an und biss wieder in einen Keks.
Dieser nickte und deutete ihr weiterzusprechen.

“Wir haben bemerkt, dass wir, wenn wir solche Gedanken haben, solche Momente der Assoziation, die so überbordend werden, oder vielleicht auch allgemein in schwer greifbaren Zuständen sind, die Lautsprache zu etwas immer schwerer werdendem wird. Die Motorik wird unzuverlässig, die soziale Kompetenz ist dann meistens überhaupt nicht mehr gegeben. Wir werden zu einer Art “nur Kognition” oder auch “nur Wahrnehmung” und in so einem Moment kann man keinen Stift mehr halten, geschweige denn Buchstaben malen.”, ihr Blick wanderte in Kurts Richtung und stieß auf einen wieder sehr aufmerksam zuhörenden Zeitreiseleiter.

“Alles was wir zum Bloggen können müssen ist, die Empfindung der Tastenschläge auf den Fingerspitzen auszuhalten. Mehr nicht. Alle anderen Kanäle eröffnen sich dann nach und nach. Irgendwann fällt dann das Geräusch dazu auf, irgendwann fällt auf, wie das Schriftbild ist, und irgendwann fällt der unbequeme Stuhl auf… aber dann ist der Artikel fertig. Die Dissoziation als das Bewusstsein extrem fragmentierender Zustand ist vorbei. Und was dann inhaltlich dort steht ist manchmal das, worum es in den Assoziationen geht, manchmal aber auch eine Reaktion von einem Innen auf das Überflutet werden eines anderen.
Und manchmal ist es dann auch so etwas, was wir nur finden und erst einmal noch gar nicht verstehen können. So ist die Kategorie “Fundstücke” entstanden.”, sie nahm einen weiteren Schluck Kaffee und biss in einen Keks mit knackiger Schokoladenglasur.

An der süßen Krümelmasse vorbei sagte sie: “Es ist aber nicht immer nur so ein Schreiben. Manchmal steht am Ende von so einem Zustand auch nur “Schreibst du das auf?”, was eine verabredete Frage für uns alle ist. Manchmal geht es darum etwas zu dokumentieren und zu bewahren. Aber nicht so, dass jemand äußeres es wegmachen kann. Manchmal gehts da um eine ganz sichere Art der Echt-Machung dessen, was wir so erleben. Also alle. Oder als Einsmensch.”.

Sinnend schaute sie in den Himmel über sich. “Wir erleben das Internet irgendwie nicht stofflich. Da ist immer das Gefühl, unsere Texte und Bilder und alles das, ist dort drin, aber niemand kann einfach hingehen und es wegnehmen oder behaupten, es sei gar nicht da. Es ist so ungreifbargreifbar und das ist die perfekte Art für uns einander über die Worte wahrzunehmen – vielleicht auch: einander zu begegnen. Als Tagebuchform – so richtig in Papier und Tinte – ist es erschreckend. Jedes Mal kostet es unheimlich viel Kraft und Zeit über den Schreck hinweg zu kommen, dass man ganz greifbar Zeit und Raum nicht unter Kontrolle hatte.
Im Blogdashboard kann man sich langsam herantasten und irgendwie auch darauf verlassen, dass nichts verschwindet oder ausgesprochen wird, was nicht ausgesprochen werden darf oder allgemein gefährlich für uns werden könnte.”.

“Sie haben also auch eine Zensurpolitik!”, unterbrach Kurt ihre Gedanken abrupt. Ich musste lachen. “Hm, nee. “Zensur” ist ein staatliches Ding.”, antwortete ich und fürchtete dann doch, er könnte beleidigt sein über diese Richtigstellung. Doch das kleine Wesen zeigte keine Beleidigungsanzeichen, sondern Interesse. “Wir haben innere Systeme, für die es sehr wichtig ist, dass bestimmte Dinge nicht gesagt werden. Egal wo und wem gegenüber. Entsprechend haben wir eine Politik darüber entwickelt, dass sie kontrollieren, was wir schreiben und anmerken, dass sie das nicht wollen, wenn wir doch mal etwas geschrieben haben, was sehr nah oder auch zu nah an das kommt, was sie nicht wollen. Ohne mindestens einen Blick aus diesem System geht kein Text oder Podcast online.”.

Ich beugte mich weit zu ihm hin und flüsterte “Und ich würde sagen: das ist fast sowas wie “innere Zusammenarbeit”.”. Ich zwinkerte dem kleinen Wesen mit der grünen Haut awkward lächelnd zu “Therapeut_innen fahren voll auf sowas ab” und kullerte vor lauter unterdrücktem Grinsen fast vornüber aus der Hängematte.

Kurt lächelte mich an und goss sich eine weitere Tasse Tee ein. “Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet, oder? Wie kam es, dass sie nicht mehr von “den [BÄÄMs] geschrieben haben?”.
“Hm.”, machte ich und drehte mich nach innen. Dort standen die Feuerlöwin K. und die immer leicht geduckte R., die Andere, das Kinderinnen, das unsere Fotos macht, und lauter andere, die im Laufe der Zeit von bloßen Präsenzen eines pathologischen Markers in einem Er_Leben, zu Namen, Eigenschaften, eigenen Geschichten, eigenen Er_Lebenswelten geworden waren.

“Weißt du, als wir anfingen so ganz ganz regelmäßig zu schreiben, haben wir sie so wahrgenommen. Unsere Wahrnehmung von einander war genau so grotesk und abstrus – so eingeschoben und fremd und ganz ausgestanzt in dem, was wir so als “unser Rosenblätter-sein” wahrnahmen. Und heute wissen wir, dass sie Namen haben. Und eine (unheimliche, uns massiv ängstigende, fremde, grotesk, absurd empfundene) Geschichte.”.
Ich atmete ein und versicherte mich über ein Nicken von innen.

“Sie sollen sich willkommen fühlen.”.

die Zeitreise ~ Teil 7 ~

Das Erste, das ich an diesem nächsten Morgen vernahm, war ein Quaken.
Ein Quaken aus dem Schnabel einer pinken Glitzerente, die auf meinem großen Federbettdeckenkissen umherhopste und wild mit ihren Stummelflügeln flatterte. Ich traute mich nicht mich zu bewegen und starrte das kleine Tier an.
“Sind sie jetzt endlich wach?”, fragte Kurt mit frechem Grinsen und den Händen in der Hüfte. “Äh …”, antwortete ich und konnte meinen Blick nicht von dem kleinen pinken Glitzerball vor mir abwenden. “Ich glaub schon.”.

Unser kleiner Zeitreiseleiter streckte den Arm in Richtung Ente und diese sprang auf seine Handfläche, wo sie zu einem Häufchen pinkem Glitzerflausch zusammenfiel. Ich rappelte mich auf und kullerte fast aus der Hängematte.
Die Sonne erhellte unser Zelt indirekt, was der großen Schleiereule in einer Ecke des Zeltes wohl nichts ausmachte. Die schlief nämlich mit einem Beinchen an der Brust und ruhigem Atem, den Schlaf der erfolgreichen Mäusejäger_innen.

“Kaffee.”, brachte ich heraus und gähnte zwischen ambitioniertem Recken und Strecken und Ringen um Bewusstsein.
Kurt deutete unbeeindruckt von meinem weit geöffneten Gähnschlund auf den niedrigen Tisch und schnipste mit den Fingern der linken Hand. Plötzlich stand ich frisch geduscht und in flauschigen Wuschelsachen mitten im Zelt. “Was zum …”, bröckelte mir aus dem Kopf und blieb doch erneut in meiner Müdigkeit stecken. Ich stöhnte auf und erinnerte mich an mein Hauptanliegen. “Kaffee”.

“Also”, setzte der auf einem Stapel Kissen sitzende Kurt an und legte ein Bein über das andere, “Wir waren bei “Warum hast du denn nichts gesagt?” im Februar 2013 angekommen.”.
Ich stöhnte erneut. Diesmal unter der mich überrollenden Erinnerung an die Erschöpfung dieser Zeit. “Was war denn da los?”, piekste er nach.

“#Aufschrei war los.”, antwortete ich.  “Endlose Wortgefechte, Debatten und Diskussionen, eine Twittertimeline voller verletzender selbsternannter “Maskus” und daneben permanente Reflektionsarbeit, die Therapie, das Forumgestresse und ach …”. Vor mir überschnitten sich zwei Stränge und ich bemerkte, wie mich verunsicherte eine Entscheidung fällen zu müssen, welcher von beiden jetzt der sein würde, welcher wirklich mit unserem Blog zu tun hatte und welcher nicht. Ging es in der Entscheidung überhaupt darum oder um etwas anderes? Ich versenkte meinen Nüschel in der Kaffeetasse und blieb einfach wo ich war. Vielleicht könnten wir ja auch einfach in der Zeit fortfahren und eine weitere Linie würde sich vor mir zeigen.

“Was genau wollten sie denn gesagt haben?”, fragte Kurt und tunkte einen Keks in seinen Frühstückstee. “Ich weiß es selber nicht mehr – vielleicht gar nichts Konkreteres als, dass ich viel nicht mitbedacht und berücksichtigt empfinde. Dass ich die Norm hinterfrage. Dass wir kein Opfer geworden sind, weil wir uns nie gewehrt hätten, sondern, weil man sich gegen so etwas Alltägliches wie Sexismus und sexistische Standards und daraus hervorgehende Diskriminierungen nicht nur einmal im Jahr wehren muss. So irgendwie.”. Ich griff an mein Ohrläppchen und drückte nachdenklich auf dem weichen Fleisch herum.

“Dann kam diese Nummer um One Billion Rising, von der ich mich unbedingt mitreißen lassen wollte, weil ich in meinem Alltag keinerlei Hinweise auf den Sturm in meinem Kopf und in meiner auf Hochtouren ratternden Timeline hatte.  Und dann trafen wir dort unsere ehemalige Therapeutin, die irgendwas mit “Also das musste jetzt sein.” sagte, als würde das Tanzen gegen Gewalt an Frauen wirklich etwas ausrichten, was all die Initiativen und Demos in den letzten Jahren nicht ausgerichtet hätten. Und daneben das permanente Kratzen an der Wahrhaftigkeit meiner unserer Lebensrealität von anderen Menschen und das Absprechen der Berechtigung damit Raum einnehmen zu dürfen.”.
Ich schwenkte den Kaffee in meiner Hand und versank in ein dumpftrauriges Brüten.
Kurt schwieg und nippte an seinem Tee.

“Es sind so zwei Dinge, die sich da überschnitten und uns etwas klargemacht haben.”, stellte ich in die Mitte unseres Gesprächsraumes. “Welche?”, fragte Kurt.
“Wir und die Anderen.”, antwortete ich und erwartete, dass selbst er nicht wahrnehmen könnte, was für ein Wörterkomplex dahinter stand.
Er schaute mich einfach nur an und goss sich Tee nach. Wie ein Psychoanalytiker, der sich mitten in der Stunde überlegt, wie er seine bloße Zuhörzeit mit kleinen Annehmlichkeiten für sich füllen kann.

“Ich glaube, wir hatten bis zu dem Zeitpunkt nie so einen Moment in der Auseinandersetzung mit Gewalt und ihren Folgen, dass es dabei auch um uns geht. Um Menschen wie uns. Menschen mit so viel Not im Leben, wie sie andere Menschen nie kennenlernen werden, wenn sie Glück haben. Uns wurde damals klar, dass auch wir und unser Leben da im Fernsehen repräsentiert werden sollten. Von Leuten, die unserer Lebensrealität teilweise irgendwie ferner gar nicht sein könnten und von Leuten, die weniger Ahnung von dem, worüber sie da reden, gar nicht haben könnten.”, taperte ich langsam und bedächtig, die großen Löcher im Boden und Minen an den Wänden meidend durch den Komplex vor meinen Augen bis ich K. und R. hinter meinem Gesicht spürte.

“Irgendwann – ich glaub, das war dann hier Sonntagsjauche – die Sendung in der Natascha Kampusch und zwei anderen Menschen, die Opfer von Gewalt wurden und auf eine Art vorgeführt wurden, die mich so angetickt hat, ohne mich aber in echtes Widererleben zu bringen. Also – äh – verstehn Sie jetzt, was ich meine?”, K. schaute mit gerunzelter Stirn zu dem Wesen auf seinem Kissenturm, “Ich hatte mein erstes Ding von “Ah- Stopp it – Erinnerung hier – richtige Kackscheiße da”. Und das war ein großes Ding für mich, an dem ich so gemerkt habe, dass ich solche Unterscheidungen durchaus kann und schlimme und ungerechte Dinge nicht nur deshalb schlimm und ungerecht finden kann, weil ich allein etwas empfinde, sondern, weil schlimme und ungerechte Dinge in einem Kontext passieren. Verstehen sie das BÄNG! daran?
Ich hab kapiert, dass mein Erinnern einen Kontext hatte – nicht nur einen Trigger, den ich übersehen oder nicht genug berücksichtigt habe, sondern eine ganz klar stattfindende Musterabfolge im Außen. Und von da aus war es nur noch eine Furzlänge bis zum Bemerken, dass die Gewalt, an die ich mich erinnerte einen Kontext hatte, der nicht nur mich und mein persönliches Empfinden umfasst, sondern die verdammte ganze Welt.”. Sie donnerte mit der Faust auf den Tisch und fuchtelte mit der freien Hand einen weiten Bogen in die Luft.

Kurt steckte seine Hand in die Jackentasche und pustete ihr helles Sterngeglitzer entgegen. “Glückwunsch”, lachte er so ansteckend, dass sie zu grinsen anfing.

die Zeitreise ~ Teil 5 ~

Der Schwan und die Schleiereule mit Kurt auf dem Rücken landeten im Garten unserer Wohnung im Bullergeddo, wo die frühere K. auf einem unserer Gartenstühle saß und NakNak* auf dem Schoß hielt.
Er richtete sich vor dem Innen auf und sah ihm genau ins Gesicht. Faserte unter glitzerndem Funkeln auf und ließ die K. aus 2016 zurück.

Sie schaute sich an und seufzte. “Ich war so müde und alleine.”. Die frühere K. strich ihrem Hund durchs Fell und dachte darüber nach, wie das letzte Vorgespräch mit einer Therapeutin gelaufen war und wie allein sie mit ihrer Wut über ein erneut versagendes Helfer- und Unterstützungsnetz blieb.
“Weißt, was mich damals so richtig erschreckt hat?”, fragte die Gegenwarts – K. den kleinen Kerl der von der Eule abgestiegen war und sich den Anzug gerade rückte.
Sie wartete keine Antwort ab. “Wie viel Zeit schon vergangen war zwischen der Diagnosestellung und diesem Moment. Wie viel wir schon wussten und doch gleichzeitig merkten, wie viel wir immer noch nicht wussten, ohne dass wir das wirklich so ausdrücken konnten. Und daneben aber auch durch diese teils echt katastrophalen Erstgespräche gemerkt haben, dass wir von unserer zukünftigen Therapeutin mehr abverlangen mussten, und bis heute auch müssen, als bloße Sachkenntnis von komplexer Traumatisierung und DIS im Besonderen.”.
“Verstehe – daher also diese Artikel zu Bindung und Selbstwert, die klingen, als wäre eine Therapie eigentlich nicht sehr nötig?”, bemerkte unser Zeitreiseleiter mit einem Blick auf das Smartphonedisplay in ihrer Hand.“Bubi – ich klinge irgendwie immer, als wär jede Hilfe unnötig.”, antwortete K. achselzuckend, “Überlebenskünstlerpech.”.

Sie folgten den Früherrosenblättern in die Wohnung hoch.
Dort standen mehrere Säcke mit Altkleidern und einige letzte Umzugskartons herum. Unser früheres Wir packte sich eine Tasche für einen Abstecher in die Uni. “Wir hatten noch immer keinen Telefonanschluss und mussten rüber zur Uni um übers Rechenzentrum Emails an potenzielle Therapeut_innen und Blogartikel rauszuschicken.”, erklärte unsere starke Feuerlöwin K. dem neugierig schauenden Kurt. “Wir hatten damals seit Juni schon über 30 kg abgenommen. Deshalb die Kleiderspendensäcke. Im Schrank hatten wir noch zwei Röcke und 6 Shirts. Ein Traum für jeden auf Hartz 4 nach einem Umzug.”. Sie sprach ruhig und bittersachlich, schüttelte aber den Kopf.

“Verrückt wie wir all diese Mikrokatastrophen eigentlich schon gar nicht mehr wahrnahmen, weil es insgesamt einfach alles eine Katastrophe war, oder?”, ein anderes Innen schob sich an mir vorbei und legte K. den Arm um die Schultern. Das Innen richtete das Wort an das kleine Wesen. “Ich glaube K. hat erst etwas später gemerkt, dass wir anderen uns um Händchen-und-Durchhalte-Unterstützung gekümmert hatten.  Ohne diese Pausen zum Durchatmen in der Frauenberatung und die Momente der Versicherung, dass ein fernes Jemand noch mit uns ist über einen Emailkontakt, wäre alles noch schlimmer gewesen.”. Das Innen lächelte und betrachtete das Chaos im früheren Schlafzimmer. “Ich begann auch das Niederschreiben meiner Erlebnisse und Gedanken als etwas zu erleben, dass konsistenter war, als das zunehmend ziel- und zusammenhangloser werdende Sein im Innen. Es gab Stunden und Tage, in denen nur noch ein Betteln um Gnade oder Erlösung von dort zu spüren war. Ich hatte Angst davor den Kontakt zur Welt zu verlieren und damit meine Möglichkeiten den Weg zum Verstehen des Innen zu finden.”.
Das Innen versuchte etwas aus dem Früher zu berühren, doch seine Hand ging hindurch.

“Wussten Sie damals eigentlich, was Bloggen ist?”, fragte Kurt und zog das nachdenklich schauende Innen mit sich durchs Treppenhaus hinunter und zurück in den Garten, wo sie von der freundlich mit dem Schnabel klackernden Schleiereule empfangen wurden.
Langsam ging die Sonne unter und schüttete ein warmes Apricot über das Firmament. Wir streichelten die große Eulenbrust, während er das Zaumzeug von ihr nahm.
“Viel Erfolg bei Jagd!”, riefen wir dem vermutlich bereits sehr hungrigen Greifvogel nach, als dieser fast lautlos in die Dämmerung hinausflog.

Kurt sah sich um. “Hm, besonders schön und einladend habens sies ja nun nicht gerade hier.”, bemerkte er mit Blick auf die seltsame Windfangkonstruktion unserer Vormieter und die drei Metallbögen für Wäscheleinen, auf unregelmäßig kräftig gewachsenem Rasen. “Tja,”, erwiderte ich, “ Sorry?”.
“Naja – passen Sie auf – ich krieg das schon hin.”.

Der kleine Typ im Anzug stiefelte in die Mitte des Gartens und schnipste mit beiden Händen in die Luft. Aus seinen Jackenärmeln quollen violette Schwaden, die sich rasend schnell vergrößerten und ausbreiteten bis sie uns völlig umhüllt hatten. Ich bemerkte einen aufkommenden Niesreiz und versuchte ihn irgendwie zu unterdrücken, doch das klappte nicht. “H! … HHH … Haaa … ATSCHI!”, flatschte eine ganze Ladung violetten Staubes aus meiner Nase heraus und in meine Hände hinein.
Ich ächzte angeekelt auf, senkte die Hände und öffnete langsam die Augen.

Vor mir war eine urgemütliche Szenerie entstanden. Kleine bunt leuchtende Lampions hingen in dem Rosenbuschgestrüpp und dem ausuferndem Brombeerengebüsch. Eine riesige Kissenlandschaft lag auf dem Boden rund um einen niedrigen Tisch mit einem Buffet unserer liebsten Lebensmittel und Getränke drauf, unter dem ein kleiner Heizstrahler alles Umliegende wärmte. Zwischen zwei der Wäscheleinenbögen hing eine bunt gestreifte Hängematte.

“Geil.”, war alles, was mein Gehirn mir als Reaktion auf diesen Anblick zur Verfügung stellte.

die Zeitreise ~ Teil 4~

Ein kräftiger Sog zerrte an uns beiden Eulenreitern, als wir auf den Sommer 2012 zuflogen, der den Anfang eines regelmäßigeren Schreibrhythmus markierte.

Kurt ließ uns noch immer über dem Haus im Nirgendwo kreisen, in dem unser vergangenes Wir kreißten und rastlos umher stiefelten.
“Moa, das war auch so ne krasse Zeit, ey.”. Ein Jemand beugte sich weit nach vorn, um sich uns näher an zu sehen. “Ganz ehrlich – ich glaub, im Schreiben war die einzige Zeit, in der wir damals mal irgendwie halbwegs ruhig geatmet haben.”.

Unser Zeitreiseleiter schnipste mit dem Finger und das Dach des Hauses wurde durchsichtig. Unsere Wohnung war ein Umzugskartonstapellager. Um das Laptop herum türmten sich eingekringelte Wohnungsanzeigen, Telefonnummern und Notfallplanideen. Im Badezimmer die Medikamente gegen Schmerzen und Muskelkrämpfe, die Medikamente, die Schmerzen und Muskelkrämpfe verursachten und die gesamte Utensilpalette, die eine Essstörung erfordert.
Kurt deutete fragend mit dem Finger darauf: “Deshalb?”
“Nö.”, antwortete das Jemand und deutete auf einen der Briefe auf dem Schreibtisch. “Deshalb.”.

“Hiermit teile ich, Vermieter dieser Bruchbude, Ihnen mit, dass ich einer Mietverhältnisverlängerung um 3 Monate nicht zustimme.
Mit freundlichen Grüßen, sehen Sie doch zu, wie sie klar kommen.”,
stand auf dem Papier.

“Kurz danach erfuhren wir, dass die Therapeutin, bei der wir nach einem Umzug dann eine kassenfinanzierte Traumatherapie machen wollten, nicht mit uns arbeiten wollte und die Therapeutin, mit der wir die letzten zwei Jahre durch eine Art Dauerkrisenintervention überlebt hatten, nicht mehr mit uns arbeiten konnte wollte sollte durfte hm hm hm”, es wedelte ziellos mit der Hand in der Luft umher. “In der Zeit ist Hannah entstanden bzw. hat sich zu einem Ich entwickelt. Sie und der Schwan haben damals alles, was wir im Leben hatten beendet bzw. liebevoll verlassen. Wir dachten echt, wir müssten in ein paar Wochen den Hund töten, zur Herkunftsfamilie zurückziehen und uns naja – lieber halt umbringen lassen, als es selbst zu machen.”.
Kurt zog die Luft zwischen den Zähnen ein. “Ach du Scheiße.”.

“Hehe”, stieß das jemand hervor, “Jupp. Ach du Scheiße.”.
“Aber man merkt davon im Blog gar nichts, oder?”. Das kleine Wesen richtete sein Sehglas aus und schaute dem Früherjemand über die Schulter aufs Laptop.

“Hmnja, ich hab nach dem Holterdipolterumzug in die Wohnung ohne alles, die wir dann noch selbst renovieren mussten, einen Stellvertreterklugscheißartikel über Täterkontakte und dumme Therapeut_innen geschrieben, der damals lang und heute eigentlich eher peinlich ist. Und wir haben halt gedisst ohne Ende.”. Das Jemand kippte zur Seite weg und der Schwan richtete das Wort an Kurt, der sich inzwischen einen Sattel aus Schleiereulenrückenbefiederung zurechtgenestelt hatte, um uns bequemer anschauen zu können.

“Das Schreiben war damals viel mehr ein Werkzeug weder Hannah noch mich im Außen zu haben, noch auf seinen Affekten sitzen zu bleiben, als irgendetwas anderes.”, der Schwan breitete seine Flügel aus und landete in der Wohnung, in der sich eine mit jedem Handgriff weiter zerbröckelnde Frontgängerin mit dem Abzählen und Ordnen ihrer gehorteten Tabletten beruhigte, während aus ihrem Rücken ein verkrampftes Kinderinnen auf der Suche nach einem sicheren Versteck für sich kroch.
Der Schwan nahm das Kleine in seine Daunen und stieg zurück in den Himmel.

“Machen sie noch mal einen Vorlauf bitte. September 2012.”, rief der Schwan dem kleinen Wesen, das ihn mit offenem Mund anstarrte, zu und nahm Kurs auf unsere neue Wohnung.

die Zeitreise ~ Teil 3 ~

Offenbar war Kurts Geräusch eine Art “Hüja!” für die Schleiereule, denn diese begann sich aufzurichten und sich flatternd abzustoßen.
Ich presste meine Beine an den Eulenrücken, als würden sie davon anwachsen und schlang aus Versehen meine Arme um den grünhäutigen Fremden.

Der lachte und fragte, kurz nachdem unser Flug in ein ruhigeres Gleiten übergegangen war: “Na? Bin ich nun eine Halluzination oder nicht?”.
“Tättääää! Peinlich!”, landete ein Ziegelstein von der Schamgrenze in meinem Kopf in meinen Gedanken. “Ähm … ‘tschuldigung.”, presste ich raus und ließ ihn los.
“Ach Hannah…”, hinter mir raschelte es aus tausend Daunen heraus, “Er hat dich reingelegt. Er muss sich entschuldigen.”. Ich zuckte die Schultern. Wusste nicht so recht was ich denken sollte und neigte mein Gesicht in den weichen Streichelwind von vorn.
“Nee ja – ich hab mich zu entschuldigen – ihr Schwan hat schon recht. Mir ist nur auf die Schnelle nichts Besseres eingefallen.”, unser Zeitreiseleiter drehte sich halb zu mir um und lächelte schief, “Und – nun ja wir sind verpflichtet Ihnen klar zu machen, dass Sie bei vollem Bewusstsein durch Ihre Reflektion gehen.”.

“Oh’ kayyyyy?”. Ich dehnte meine Antwort so weit wie möglich um die Dimension meines keine Ahnung habens zu verdeutlichen. “Und jetzt?”.
“Jetzt sagen Sie mir, wann ihr erster Artikel veröffentlicht wurde.”, antwortete Kurt und öffnete eine kleine Lasche im Leder der Zügel, hinter der sich ein Display mit Tastatur verbarg.
Nach einem Blick in meiner WordPress-App sagte ich: “Am 26. November 2010”. Flink tippte das kleine Wesen vor mir in die Tasten und mit einem zarten Pling eröffnete sich vor uns ein irisierender Ring in der Luft, durch den wir ins Jahr 2010 glitten.

Wir flogen über Wiesen und Felder direkt auf das Haus zu, in dem wir damals gewohnt hatten.
“Herr Kurt – bitte nicht anhalten, ja? Nur drüber fliegen bitte.”, gab ich eine Bitte aus dem Inmitten an ihn weiter. Mir wurde schlecht und ich versuchte mich auf die weichen Federn unter mir zu konzentrieren.
“Ah – ich sehe schon warum. Das war kein heldenhaft geplanter Blogneu_beginn, richtig?”, fragte er und schaute durch ein kleines Einauge in unser früheres Wohnzimmer, wo wir in unserem eigenen Zigarettenrauch hockten und fassungslos eine übergriffig gemeine Email nach der anderen lasen.
“Unser erster Shitstorm.”, nickte ich. “Hat uns am Ende eine Beziehung, von der ich wusste und eine Beziehung, von der ich damals noch nichts wusste gekostet.”. Wir kreisten über dem Haus mit bei Regen überschwemmten Keller und umringt von mittelaufrichtigen Nachbarsblicken.

“Sehen Sie das?”. Ich deutete auf die Wiesen und Waldabschnitte um die kleine Straße herum. Alle 20min fuhr hier ein Bus entlang in die Stadt. Wenn er denn fuhr. Der nächste Supermarkt war 4 Kilometer weit weg, ein kleines Stadtrandghetto in der Nähe. Bis in die Stadt brauchte man eine gute Stunde und damit fiel für uns so ziemlich alles flach. Selbsthilfegruppen, Beratungsstellen, Gemögschaften. Wir waren froh um jede Person, die sich die Mühe machte zu uns zu kommen. Außer Menschen, die dafür bezahlt wurden, machten das nur wenige und das viel zu selten.
“Außer ein Blog neu zu starten, konnten wir damals überhaupt nichts wirklich neu anfangen.”, seufzte ich.

Kurt drehte an seinem Fernglas.
“Wir mussten in den letzten Wochen feststellen, dass es sich nicht immer lohnt angepasst und still zu sein. Zu denken, dass andere irgendwann sicher den Blickwinkel etwas verändern, sodass ein Konsens gefunden werden kann.
Wir haben uns überlegt, dass wir hier beschreiben wie WIR sind.
Wie WIR leben.
Und wie WIR über manche Dinge denken.
Wie WIR unseren Weg gehen und gestalten wollen und auf welche Hindernisse wir dabei stoßen.”
“Das klingt auf jeden Fall schon sehr nach H. C. Rosenblatt.”, lächelte er  und ich schmunzelte mit ihm. “Dabei war unser Nickname damals noch “inneres Stimmchen”… oh mann…”. Ich wurde rot. So viel Pathos. Meine Güte. Wieder traf mich ein Ziegelstein mit der Aufschrift “Peinlich!”.

“Dabei wollte ich das Blog damals so ganz seriös machen.”, klinkte sich eine andere ein. “Weißt, so wie eine Seite, dessen Inhalt man glaubt. Also – eine Seite, der ich damals geglaubt hätte. Siehst? Da.”, sie deutet auf einen Artikel, den sie vor 5 Jahren geschrieben hatte, während ihr eine selbstgedrehte Zigarette im Mundwinkel hing.
“Hm.”, machte Kurt, “Sie waren recht freigiebig mit Ausrufezeichen, wie ich sehe. Und mit Links zu medizinischen Texten.”.
Sie zuckte mit den Schultern. “Damals hab ich noch nicht gewusst, was “Pathologisierung” ist und ich dachte, außer Anja und Co gäbe es niemanden sonst, di_er bloggt und eine DIS hat. Und!”, sie grinste sich selbst zu, “Wir waren damals bis zum Hals voll mit Ausrufezeichen. Alles war schlimm Ausrufezeichen Alle waren gemein Ausrufezeichen Die Welt Ausrufezeichen Wieso war die Welt bloß die Welt Ausrufezeichen Ausrufezeichen Ausrufezeichen”

“Okay und wie ging es dann weiter?”, unser Zeitreiseleiter schielte auf das Smartphone in unserer Hand auf dem das Blogarchiv aufgeklappt war. Ich scrollte ein bisschen nach vorn. “Naja, wir haben danach erst mal eher plätscherweise geschrieben. Schauen sie mal – hier ist eine Lücke von einem halben Jahr. Und hier wieder ein paar größere.” . Kurt drückte auf einen Knopf in seinem Zügel und unter uns raste die Erde im Schnellvorlauf dahin. Der Unfalltod der Welpin, Beziehungsdrama, Tierschutz, Ausrufezeichen, Ausrufezeichen, Jobs, Not, Trauer, Ausrufezeichen, Einsamkeit, Ausrufezeichen, der große Bruch.

Vor uns eröffnete sich erneut ein irisierender Ring durch den die Eule mit uns auf dem Rücken hindurch flog.

die Zeitreise ~ Teil 2 ~

“Kurt! Warten Sie!”, rief ich unserem wieselflink die Treppen hinunter laufenden Zeitreiseleiter nach.
“Kurt, was is das eigentlich wieder fürn Name, ey?”, schnodderte es neben mir mehr, um von einem albernen “Hier – kommt – Kurt – ohne Helm und ohne Gurt – einfach Kurt.” verdrängt zu werden und allgemein schlicht nichts zur Situation beizutragen.

Der kleine Anzugträger stand vor unserem Haus im Bullergeddo und lächelte mir entgegen. “Sie haben sich also entschieden. Prima.”. Er hob seinen Arm und schnipste in die Luft. Auf dem Dach breitete tatsächlich eine Schleiereule ihre Flügel aus und segelte zu uns hinunter.
Je näher sie uns kam, desto größer wurde sie. Und größer. Und noch ein bisschen größer.
Bis sie so groß wie ein Minivan vor uns landete und fast ein bisschen furchterregend mit dem Schnabel klackerte.

“Äh… hm… Herr Kurt? Ähmm …”. Ich wollte gerade fragen, wie er gedenkt eine riesenhafte Eule im Bullergeddo unauffällig wegfliegen zu lassen, doch da fiel über uns ein Birkenblatt herunter und bedeckte fast unseren ganzen Körper. Nicht die Eule war riesig geworden – wir waren geschrumpft!
“Oh mein G’tt”, dachte ich. Wiederum unglaublich geistreich.
“Wie coooooool!”, krähte es hinter meinen Gedanken hervor und hielt seinen Kindernüschel in meinen Blick, “Jetzt kann uns niemand mehr entdecken und wir können in echt in Blüten schlafen!!!”. Eine kleine Welle fremder Seligkeit umspülte mich und zerbrach mir ein Stück Herz.
Wir mussten etwa 6 cm groß sein und der erste echte Gedanke dazu kam von einem Kinderinnen, das sich über Versteckmöglichkeiten freute.

“Sagen Sie doch einfach Kurt zu mir. Einfach Kurt.”, antwortete er. “Okay – “einfach Kurt” – Sie haben uns geschrumpft und äh … also…”, stummelte ich die Wörter aneinander und beobachtete meine Hand, die ganz sachte und andächtig die weiße Brust der Schleiereule streichelte.
“Ja, ich habe uns vorschriftsmäßig geschrumpft.”. Er warf der Eule eine Art Zaumzeug über den Kopf und ordnete die Zügel in seiner Hand. “Arbeitstierschutz, wissen Sie. Man hat nicht lange was von seinen liebsten Wegbegleitertieren, wenn man sie mit Menschen überfrachtet und durch die Zeit schlürt.”, er klopfte dem großen hellen Greifvogel auf den Flügel und strich fest über dessen Federkleid.
“Das ist jetzt aber nur temporär, oder?”, fragte ich ihn und fühlte mich … nun ja – ein bisschen klein. Kurt nickte. “Ja, selbstverständlich.”. Er schnalzte der Eule zu und machte mit seinen Händen eine Räuberleiter. Die wunderschöne Schleiereule beugte sich langsam vor und streckte einen Flügel von sich. “Einmal aufsteigen bitte.”, forderte unser Reiseleiter.

“ES IST SO FLAUSCHIG!!!”, zappelte es hinter meiner Brust umher und freute sich im Kreis herum. “Whooohoooo!!!!”, flitzte dem hinterdrein und irgendwie auch ein bisschen aus meinem Mund. “Nun nun die Herrschaften – wir haben noch nicht mal abgehoben, ja?”, kicherte Kurt, der mit einem sportlichen Schwungsprung vor uns gelandet war. “Sie können ihre Leonardo DiCaprio- Parodie machen, wenn wir richtig fliegen.”
“Äh…”, antwortete ich, dann doch plötzlich abgelenkt von der Abwesenheit diverser Festhalteoptionen.

“So.”, redete Kurt aber schon weiter. “Sie nehmen jetzt diesen Teil der Zügel und klemmen ihre Beine fest an den Eulenkörper. Wenn wir in der Luft sind, brauchen sie das nicht mehr machen.”. Ich nahm die dünnen Lederzügel in die Hand und hoffte genug Kraft in den Beinen zu haben, um mich auf der Eule zu halten. “Also dann.”, sagte Kurt und schaute nach vorn. “[…]