Himmel und Boden

Irgendwann heute morgen sind die Schmerzen einen Schritt weiter gewachsen. Erst über sich, dann über mich hinaus.
Ich kann nicht sagen wo. Kann nicht sagen, was das für ein Schmerz ist.

Unser Hilfenetz greift nicht.

Es ist okay- ihr alle.
Ihr alle pfeift auf den letzten Löchern und euer Schmerz, eure Not, eure Hilflosigkeit und Ohnmacht vor dem was uns quält, kommt ohne Filter bei mir an.

Ich weiß, ihr lest mich hier- wenn nicht jetzt, dann irgendwann.
Ich weiß, ihr seid in Gedanken, in Gefühlen, mit Herzfasern bei mir und uns.
Das wickle ich mir auf eine Spule wie Zuckerwatte und esse davon. Langsam und bedächtig. Nicht alles auf einmal.

Ein kleines Herz- ihr kennt es alle- sagte etwas für uns Wichtiges und ich will es neben diesen Gefühlen von unfassbar furchtbarem Weh stehen gesehen haben.

Wir waren draußen.
Versicherten uns über den Boden, einander, das Leben, das Sein, den Hund.

BodenunterdenFüssen

Sie schaute an den roten Kämpfe_r_innenschuhen und NakNak*s Pfoten vorbei in den Himmel und sagte:
”Es ist auch wichtig, nicht das Stück Himmel über sich aus den Augen zu verlieren. Das ist bestimmt dieses mit “Kopf hoch” und so…”, während sie den Fotoapparat in die Luft hielt.

HimmelübermKopf

S/schuld

Es soll empowernd sein, wenn in Videos oder Texten oder Selbsthilfegruppen oder aus dem Mund der TherapeutInnen der Satz kommt: „Es ist nicht deine Schuld“.

Ich habe oft darüber nachgedacht, warum ich es nicht schaffe zu fragen, was sie meinen.
Was denken sie, empfinde ich als meine Schuldigkeit?
Manchmal dachte ich, in ihrem Kopf gebe ich mir die Schuld daran, misshandelt worden zu sein. Als sei es dieser Satz der GewalttäterInnen, der sich in meinem Fühlen breitgemacht und zu einem dichten „Ich bin selbst schuld an meinem Schmerz“ verworren hätte.
Die Ebene, mein Sein als Ursprung einer Schuld zu empfinden, sich selbst als etwas zu sehen, das von Anfang an und immer schuld ist, Schuld in sich stapelt und vereint zu einem nicht abtragbarem Berg… das ist nicht vorgesehen in dem Satz.

Irgendwann fühlte ich mich berührt von einem inneren Hauch, der mir sagte: „Du bist nicht S/schuld“. Dachte, „Vielleicht bin ich nicht meine Schuld und Schuldigkeit. Vielleicht bin ich nur die Hülle für die Schuld, die sie über Jahre in mich hineingestaucht, getreten und gequetscht haben.
Irgendwo musste sie doch hin. Die Schuld.“.

Bin ich an einen Punkt, an dem ich mich damit versöhne, ihnen etwas gestellt zu haben, was ihnen sonst niemand bot? An dem ich denke, dass der Akt des Schuldinsichhineinlassens, des Schuldalssichselbstbetrachtens zu dem gehört, was einfach ist. Eben doch. Egal, was andere Menschen, vielleicht vor allem jene Menschen, die ihre Schulden, ihre Schuld und Schuldigkeiten wie eine Ware, ein Objekt von sich abtrennen und in die Hände G’ttes oder des Lebens oder einfach irgendwohin fort von sich schicken können, sagen.

Vielleicht gerade, weil es so viele Menschen gibt, die Schuld von sich wegtragen. Sie muss doch irgendwo hin um zu verschwinden. Es ist ja nicht so, dass sie schwindet, nur weil sie ver-schwindet.

Es ist Yom Kippur und ich esse, trinke und besuche die Synagoge nicht.
Hannes sagt, mit G’tt zu sprechen und sich Gedanken zu machen reiche auch.
Eva sagt, Religion ist kein Wettbewerb.
Ich glaube, ich muss mehr darüber lernen, was Schuld genau ist. Was genau eine Sünde zu einer Sünde und Schuld zu einer Schuld macht. Was genau ein Erlass, eine Umkehr, eine Sühne ermöglicht.

Es ist eine der giftigsten Verstrickungen der Gewalt an mir, die mir bis heute die hohen Feiertage zur mit schwierigsten Zeit im ganzen Jahr macht. Sie ist, was ich nie loswerde. Nie aufbürden und abgeben kann. Nie verschwinden machen kann.

Sie ist in mir, vielleicht ich selbst. Vielleicht bin ich es, die ver- weg- ge- geben sein muss, um schwinden zu können.
Vielleicht muss ich mir noch viel mehr von mir geben, um mir etwas von mir ver- geben zu können.

Hänschen und Gretchen

Es gibt keine Mädchenversion von „Hänschen klein, ging allein, in die weite Welt hinein“.
Gretchen gehen ja auch nicht allein in die weite Welt hinein.
Und wenn doch, dann ist etwas an ihrem Selbsterhalt kaputt.

Hänschens Mutter weinet sehr, hat ja nun kein Hänschen mehr- wird vermutlich so Vieles dahinziehen sehen, was ihr Gretchen nicht an sich hat.
Versorgung und Schutz. Familientraditionspflege.

Gretchen hat keine Hörner zum Abstoßen mehr, wie Hänschen. Vermutlich schon wurden ihr die als Baby schon mit einem Helm in den Kopf gedrückt, oder mit Gewichten, bestehend aus Rollenanspruch und Demütigung, behängt, bis sie abrissen.

Hänschen besinnt sich und kehrt zurück. Wird offenen Armen empfangen.
Gretchen besinnt sich und hat nichts davon. Sie will niemand mehr haben.

Mir dämmert, wieso die Mädchenversion kein Lied für Kindchens erste Jahre ist.
Die Realität der Gretchens ist ja sogar für Erwachsene so traurig, dass sie sich lieber die Köpfe davor verschließen.